Streit um Rente mit 68 - „Ich ärgere mich über diese Augen-zu-Politik!“

Kommt bald die Rente mit 68? Der Eindruck entsteht zumindest, wenn man die aufgeregten Reaktionen auf ein Gutachten beobachtet, das der Rentenpolitik der Großen Koalition ein vernichtendes Zeugnis ausstellt. Im Interview rückt der Ökonom und Gutachter Axel Börsch-Supan ein Missverständnis gerade und wirft der Politik Drückebergerei vor.

Augen zu und durch: Das Thema Rente hat die Große Koaltion um Wirtschaftsminister Peter Altmaier bewusst verpennt / dpa
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Autoreninfo

Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Prof. Dr. Axel Börsch-Supan ist Direktor am Münchner Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik und Mitglied der Wissenschaftsakademie Leopoldina, die die Bundesregierung berät. Er hat das aktuelle Gutachten zu den Renten maßgeblich mitverfasst.

Herr Börsch-Supan, ich bin 31. Muss ich mir Sorgen machen, ob ich überhaupt noch Rente bekomme?
Nein. Sie werden sogar eine höhere Rente bekommen, als es der Fall wäre, wenn Sie jetzt mit mir zusammen in Rente gehen würden, ich bin 66.

Ich frage, weil Ihr gerade veröffentlichtes Gutachten ein demographisch beunruhigendes Zukunftsbild voraussagt.
Das liegt an diesem missverständlichen Begriff „Rentenniveau“. Das Rentenniveau werden wir nicht halten können, also die jährliche Anpassung an die Lohnentwicklung. Aber es ist genug Luft drin, damit die Renten weiter sanft steigen können, sodass die Kaufkraft der Renten, wenn Sie dann in einigen Jahrzehnten in Rente gehen, höher liegen wird als heute.

Was kommt da demographisch auf uns zu, dass das Rentenniveau nicht gehalten werden kann?
Mit den Baby-Boomern geht jetzt ein sehr geburtenstarker Jahrgang in Rente. Es werden also deutlich mehr Rentner da sein als bis jetzt, aber gleichzeitig haben die Baby-Boomer relativ wenig Kinder bekommen. Das heißt, dass relativ zur Anzahl der Baby-Boomer wenig Einzahler in die Rentenversicherung da sind. 2035 wird es nur noch einen Beitragszahler pro Rentner geben, danach wird es immer mehr Rentner und weniger Beitragszahler geben. Das kann man auch nicht mehr ändern, die Demographie hat sich vor 20, 30, 40 Jahren so abgespielt und jetzt müssen wir darauf reagieren. Genau das macht das Beiratsgutachten: Wege aus dieser, nennen wir es mal Malaise, zu finden.

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Axel Börsch-Supan / dpa

Ein Weg ist die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Der stößt aber sogar bei Wirtschaftsminister Altmaier, an dessen Ministerium Ihr Beirat angekoppelt ist, auf Ablehnung. Hat Sie die Aufregung überrascht?
Ja, das hat mich überrascht. Denn große Teile des Gutachtens sind ja absolut nichts Neues, auch für das Wirtschaftsministerium nicht. Den Vorschlag, die Rente an die Lebenserwartung anzukoppeln, habe ich bereits 2005 gemacht. Ich glaube, dass auch das Wirtschaftsministerium von der heftigen Reaktion überrascht war. Ich führe Altmaiers Kommentar auch auf die Nervosität im Umkreis der Sachsen-Anhalt-Wahl zurück. Außerdem fängt der Wahlkampf früher an als normal.

Warum kommt das Gutachten überhaupt jetzt, am Ende der Legislaturperiode?
Ja, das ist eine gute Frage. Der eigentliche Kern des Berichtes war schon Ende letzten Jahres fertig. Der Beirat tagt in festen Abständen fünfmal im Jahr. Er arbeitet sehr sorgfältig, schaut sich alle Rechnungen an, jedes Wort wird hin- und hergewendet. Das dauert seine Zeit. Dass das Gutachten jetzt am Montag nach der Sachsen-Anhalt-Wahl herausgekommen ist, ist mehr oder weniger Zufall.

Ende vorigen Jahres hätte sich vermutlich auch keiner getraut, das Thema Rente mit 68 zu befürworten.
Im ganzen Gutachten steht mit keinem Wort, dass der Beirat die Rente mit 68 empfiehlt. In den Zeitungen stand das, maßgeblich von der Bild-Zeitung initiiert. Im Gutachten steht lediglich, dass das, was die sich verändernde Balance zwischen der Anzahl der Rentner und der Anzahl der Einzahler bewirkt, auf möglichst viele Schultern verteilt werden muss.

Was heißt das genau?
Dass man alle großen Stellschrauben, die die Rentenversicherung hat, bedienen muss, ansonsten wird eine überdreht. Die Beiträge müssen sanft ansteigen, das Rentenniveau muss sanft fallen, die Steuerzuschüsse müssen ansteigen, aber auch nicht übertrieben, und man muss allmählich das Rentenalter erhöhen.

Können Sie das konkretisieren?
Die beiden Haltelinien – Beiträge dauerhaft unter 20 Prozent, Rentenniveau dauerhaft mindestens 48 Prozent – sind angesichts des demographischen Wandels reine Illusion. Die Beiträge können nicht konstant bleiben, wie das die erste Haltelinie vorschlägt, wenn es immer weniger Einzahler gibt. Auch das Rentenniveau, das im Moment Corona-bedingt bei über 50 Prozent liegt, ist nicht haltbar, auch nicht bei 48 Prozent, wenn es immer mehr Rentner gibt. Daher wird man auch daran etwas ändern müssen. Dafür kann man durchaus mehr Steuermittel in die Rente stecken, weil es eine ganz attraktive Finanzierung ist, die die Besserverdienenden stärker zur Kasse bittet als die Geringverdiener – und das sollte man in einem Sozialstaat ja auch tun. Was das Rentenalter betrifft, sagt unser Gutachten, dass es nur dann erhöht werden muss, wenn wir auch länger leben. Ansonsten kann man auf diese Stellschraube verzichten. Und ob wir länger leben oder nicht, ist nicht ausgemacht.

Der klassische Einwand in jeder Talkshow ist: Dachdeckern oder Krankenpflegern kann man nicht zumuten, länger zu arbeiten. Was antworten Sie?
Diejenigen, die einen kaputten Rücken haben, erhalten eine Erwerbsminderungsrente. Die gibt es früher, und zwar abschlagsfrei. Diesen Mechanismus wird man in Zukunft ausbauen müssen. Denn die Prävalenz von schlechter Gesundheit steigt natürlich, je höher das Renteneintrittsalter ist. Dazu muss man aber sagen: Wenn wir länger leben, bleiben wir auch länger gesund, sonst würde die Lebenserwartung ja nicht steigen. Ein Teil davon erledigt sich also selbst, aber eben nur ein Teil.

Arbeitsminister Hubertus Heil sieht keinen Reformbedarf. Am Renteneintrittsalter solle nicht herumgeschraubt werden, sondern es solle dafür gesorgt werden, dass die Menschen ein höheres Einkommen haben. Trifft er einen Punkt oder ist das ein Ablenkungsmanöver?
Es ist schön, wenn alle ein höheres Einkommen haben, wer wünscht sich das nicht? Wenn man das von den Bäumen pflücken könnte, würde ich ihm zustimmen. Aber Einkommen muss halt erarbeitet werden. Ein höheres Bruttosozialprodukt, also das Einkommen der gesamten Bundesrepublik Deutschland, muss durch eine höhere Arbeitsbeteiligung erst einmal erwirtschaftet werden. Und dazu gehört auch eine Arbeitsbeteiligung von Menschen, die gesund, aber bereits in ihren 60ern sind.

Im heute journal hieß es, Grüne und FDP kritisieren, die Koalition habe die Rentenkasse mit „spendablen Zusatzleistungen“ belastet, weswegen beide eine Reform fordern. Sind damit die Mütterrente und die Grundrente gemeint?
Ja, aber es zählen auch indirekte Dinge: Die Haltelinien, die ab nächstem Jahr greifen werden, werden Milliarden kosten. Dabei haben wir die sogenannte Nachhaltigkeitsreserve der gesetzlichen Rentenversicherung bereits auf das Minimum runtergefahren. Die wird dann komplett geleert, sodass wir die Beitragssätze viel früher als erwartet hochsetzen müssen – und zwar sprunghaft.

Bald sind Wahlen. Welchen Parteien trauen Sie am ehesten zu, das lang aufgeschobene Thema Rentenreform anzupacken?
Naja, alle Parteien haben Angst davor. Auch die Grünen sind sehr vorsichtig. Selbst die FDP ist nicht wirklich mutig. Ähnlich wie der Klimawandel wird uns auch der demographische Wandel viel Geld kosten. Wer das nach der Bundestagswahl anpacken kann, ist schwer zu sagen, weil keine einzige Partei die absolute Mehrheit haben wird und es unter Umständen eine sehr komplizierte Koalition geben wird, die Kompromisse eingehen muss. Ich würde da momentan auf keine einzige Partei setzen.

Ärgern Sie sich über die Parteien?
Ja, natürlich ärgere ich mich! Ich ärgere mich als Staatsbürger, denn es ist ein Problem, das gelöst werden muss. Dafür haben wir die Politik, damit sie auch unangenehme Dinge regelt. Es ist wie im Fall des Klimawandels: Da bedarf es des Bundesverfassungsgerichts, damit die Politiker endlich aktiv werden. Ich ärgere mich auch als Vater von drei Kindern, die zum Teil selbst Kinder haben, die die ganze Suppe auslöffeln müssen. Für Ärger ist bei dieser ganzen Drückebergerei schon sehr viel Anlass.

Die Grünen schlagen eine Art Bürgerversicherung für die Rente vor, damit keine Zwei-Klassen-Gesellschaft wie im Gesundheitssystem entsteht. Funktioniert das?
Das würde heißen, dass man die Beamten und die Selbstständigen mit einbezieht. Das kann ich nur unterstützen. Selbstständige sind zum Teil sehr schlecht abgesichert, man würde damit also auch sozialpolitisch etwas sehr Richtiges machen. Außerdem sollte man diesen Dauerstreit, ob die Beamten besser behandelt werden, aus rein gefühlter Gerechtigkeit aus der Welt schaffen. Ob das ökonomisch viel Sinn ergibt, wage ich zu bezweifeln. Dass man so die Renten besser finanzieren kann, ist kompletter Unsinn. Weil Beamte tendenziell länger leben, spült das zwar kurzfristig mehr Geld in die Kasse, aber nicht langfristig, weil deren Rentenansprüche bedient werden müssen. Dennoch denke ich, dass man dieses andauernde Ärgernis damit aus der Welt schaffen sollte.

Dann dürften Sie den FDP-Vorschlag einer kapitalgestützten Vorsorge auch kritisch sehen, oder?
Im Prinzip sehe ich den überhaupt nicht kritisch. Nur kommt er zur falschen Zeit. Der Vorschlag hätte in den 80ern und 90ern umgesetzt werden müssen. Dann hätte nämlich die Baby-Boom-Generation genug ansparen können und hätte jetzt, wo sie in Rente geht, deutlich mehr an Ersparnissen und wäre nicht so stark auf die gesetzliche Rentenversicherung angewiesen. Aber das hat man sich damals nicht getraut. Jetzt eine kapitalgedeckte Rentenversicherung einzuführen, ist nicht sehr sinnvoll. Damit sollte man noch zehn Jahre warten.

Warum das?
Weil im Augenblick die Baby-Boom-Generation in Rente geht und deswegen die jüngere Generation extrem durch steigende Rentenbeiträge belastet wird. Man müsste den jungen Leuten jetzt zumuten, dass sie obendrauf noch für ihre eigene Renten ansparen sollen – diese Doppelbelastung kann man nicht vermeiden, aber sie ist in den nächsten zehn Jahren ganz besonders groß, während sie in den 90ern relativ gering war. Den Zug haben wir verpasst.

Was passiert eigentlich, wenn das Thema von der Politik weiter aufgeschoben wird?
Wenn man die augenblickliche Augen-zu-Politik – man ändert nichts am Rentenalter, am Rentenniveau und an den Beiträgen – fortsetzt, bleibt nichts anderes übrig, als den daraus folgenden Defizitbetrag durch Steuerzuschüsse zu decken. Dann kommt man auf Beträge, die über die 50 Prozent des Bundeshaushalts hinausgehen.

Momentan liegt die Zahl bei 28 Prozent. Warum sind mehr als 50 Prozent ein Problem?
Weil man den Bundeshaushalt nicht beliebig erweitern kann. Man kann ja die Steuern nicht beliebig erhöhen. Und aus Schulden kann man nicht langfristig Renten finanzieren. Man müsste Ausgabenkürzungen an anderer Stelle vornehmen. Aber wo spart man dann? Dann wird man weniger Geld für Bildung oder Infrastruktur haben oder dafür, sich an den Klimawandel anzupassen. Diese Ausgaben brauchen wir aber für unsere Zukunft. Die derzeitige Augen-zu-Politik finanziert die Vergangenheit auf Kosten unserer Zukunft.

Die Fragen stellte Ulrich Thiele.

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