Rechtsstaat in der Krise - „Defizite im Vollzug“

Jens Gnisa ist Direktor des Amtsgerichts Bielefeld, Vorsitzender des Deutschen Richterbunds und Autor des Bestsellers „Das Ende der Gerechtigkeit“. Im Cicero-Gespräch spricht der Richter über die Probleme unseres Rechtssystems, No-go-Areas und die Pflichten der Bürger

Erschienen in Ausgabe
Die Akten stapeln sich, der Rechtsstaat ist überlastet: „Es gibt zu viele Instrumente, mit denen die Prozesse verzögert werden können“ / picture alliance
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Autoreninfo

Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Herr Gnisa, Ihr unlängst erschienenes Buch heißt „Das Ende der Gerechtigkeit“. Meinen Sie damit, dass man die Großen laufen lässt, die Kleinen aber verfolgt?
Das ist vereinfacht dargestellt, aber bei vielen Bürgern herrscht dieser Eindruck. Da gibt es in der Tat Defizite, wobei der Fehler nicht darin liegt, dass das Recht bei Kleinverfahren konsequent umgesetzt wird, sondern dass es bei den Großverfahren Verschleißerscheinungen in der Justiz gibt.

Zum Beispiel?
30 Prozent aller Wirtschaftsstrafverfahren enden mit einem Rabatt auf die Strafe. Oder: Jedes Jahr werden 40 bis 50 Beschuldigte aus der Untersuchungshaft entlassen, weil die Verfahren zu lange gedauert haben.

Wie kann das passieren?
Es gibt zu viele Instrumente, mit denen die Prozesse verzögert werden können. In Koblenz gab es zum Beispiel ein Verfahren, das nach 1000 Verfahrensanträgen der Verteidigung vorerst endete, weil der Vorsitzende Richter nach fünf Jahren Verfahrenslaufzeit in Pension ging. Und natürlich gibt es auch Personalprobleme in der Justiz. Deutschlandweit fehlen 2000 Richter und Staatsanwälte.

Das heißt, die Akten stapeln sich, und die Richter sind überfordert?

Jens Gnisa / WDR

Nein, überlastet würde ich sagen. Die Verfahrenszeiten dauern länger. Wir haben Vollzugsdefizite im Rechtssystem. Personalmangel gibt es zudem auch bei der Polizei. Derzeit gibt es über 100 000 offene Haftbefehle, die deswegen nicht bearbeitet werden können. Dazu kommt die Problematik im Ausländer- und Asylrecht. Auch bedingt durch die Flüchtlingswelle haben wir Probleme, die Verfahren abzuarbeiten und das Recht zeitnah zu vollstrecken.

Was läuft falsch im Ausländerrecht?
Denken Sie etwa an die Schwierigkeit, Abschiebungen durchzuführen, wenn die Identität nicht geklärt ist. Viele haben dann nur eine Duldung. So entstehen Grauzonen, die Integration erschweren.

Sie meinen die sogenannten No-go-Areas?
Nein, der Begriff ist verfehlt. Aber es gibt Bereiche, in denen es schwierig ist, das Recht mit normalen Mitteln durchzusetzen. Weil dort parallele Strukturen entstanden sind, ausgehend von einer fehlerhaften Einwanderungspolitik. Deswegen spreche ich mich persönlich auch für ein Einwanderungsgesetz aus, damit wir die Einwanderung steuern können.

Sie bemängeln in Ihrem Buch auch die fehlende Konsequenz in der Abschiebepraxis.
Der Staat setzt an dieser Stelle sein Recht nicht konsequent durch, weil er Angst hat, als unmenschlich dazustehen. Viele Bürger gehen davon aus, dass man grundsätzlich jemanden aus humanitären Gründen hierlassen kann. Aber das ist rechtlich problematisch.

Deswegen fordern Sie eine klare Trennung von Moral und Recht.
Die Leute setzen ihr moralisches Bauchgefühl als Maßstab von allem ein. Das führt immer mehr dazu, dass das Recht nicht mehr akzeptiert und öffentlich Druck auf die Justiz ausgeübt wird.

Was muss sich ändern?
Wir brauchen nicht immer neue Gesetze, sondern die konsequente Umsetzung bestehender Regeln. Ich sehe aber auch die Bürger in der Pflicht, sich nicht immer nur im eigenen Kreis der Vorurteile zu bewegen, sondern in eine Debatte einzutreten. Wir haben nichts anderes: Nur das Rechtssystem kann Frieden stiften in unserer Gesellschaft. Deshalb darf es nicht weiter untergraben werden.

Jens Gnisa: Das Ende der Gerechtigkeit. Ein Richter schlägt Alarm, Herder Verlag, 288 Seiten, 24 Euro







Dies ist ein Artikel aus der Dezember-Ausgabe des Cicero. Erhältlich am Kiosk und in unserem Onlineshop.








 

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