Rainer Brüderle - „Wenn wir 2015 wiederholen, gefährden wir unsere politischen Strukturen erheblich“

2013 flog Rainer Brüderle mit seiner FDP aus dem Deutschen Bundestag. Jetzt will er der Partei helfen, um bei der Bundestagswahl 2021 ein neues Fiasko zu verhindern. Eine klare Meinung hat er zu Thüringens FDP-Chef Kemmerich.

„Heute kommen Sie mit großem Foto auf die Titelseite, und morgen werden Sie von hinten fotografiert und bekommen einen Tritt in den Hintern“, sagte Rainer Brüderle 2019 / dpa
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Rainer Brüderle, Jahrgang 1945, trat 1973 in die FDP ein, war zunächst Wirtschaftsminister in Rheinland-Pfalz, 2009-2011 dann auf Bundesebene. Bis 2011 war er stellvertretender FDP-Chef und 2013 Spitzenkandidat bei der Bundestagswahl.

Herr Brüderle, es scheint so, als stünden die Liberalen heute vor einer ähnlichen Situation wie 2013: Ein Jahr vor der Bundestagswahl hängt die Partei in Umfragen bei 5 bis 6 Prozent, manche sehen sie auch darunter. Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft der FDP?
Ich bin seit über 40 Jahren aktiv in der FDP. Leider gab es solche Phasen immer wieder. Entscheidend ist das Ergebnis an der Wahlurne. Es ist eine schwierige Zeit: In der Pandemie gibt es große Verunsicherung, und bei vielen ist der Drang, sich an den Staat anzulehnen, größer als der Freiheitsgedanke.

Sie haben Parteichef Lindner für den Ausstieg aus den Jamaika-Verhandlungen nach der letzten Bundestagswahl gelobt. Aber von den fast 11 Prozent 2013 sind heute nur noch 5 Prozent übrig. Haben Sie Ihre Meinung geändert?
In der Sache war das damals sehr einseitig Schwarz-Grün. Deshalb war es richtig, Jamaika nicht zu machen. Falsch war, dass so lange verhandelt und dann erst die Reißleine gezogen wurde. Man hätte früher schon Kernpunkte klarstellen und es dann zum Schwur kommen lassen müssen. Ich habe lange die Phase Merkel miterlebt: Sie müssen im Koalitionsvertrag Ihre Handschrift deutlich machen, und Sie auch exekutieren können. Damals hat sich Westerwelle gefallen lassen, dass Merkel später alle Elemente der steuerlichen Entlastung gestrichen hat, die im Koalitionsvertrag standen. Das war einer der Gründe, warum wir bei den Wählern Ansehen verloren haben.

Gehen wir weg von den Umfragen. Bei den Kommunalwahlen in NRW am vergangenen Sonntag kam die FDP auf knapp über fünf Prozent. Das galt selbst für Lindners Heimatwahlkreis Bergisch-Gladbach, wo er die Partei im Wahlkampf unterstützte. Ist der Parteichef Teil des Problems?
Die Ergebnisse bei den Kommunalwahlen in NRW sind sogar geringfügig besser als vor fünf Jahren. Auf kommunaler Ebene stehen andere Probleme im Vordergrund als auf Bundesebene. Aus der Wahl in Bergisch-Gladbach Lindner als bundespolitisches Problem abzuleiten, lehne ich ab und teile das auch nicht. Es ist Lindners großes Verdienst, dass er die Partei 2017 wieder in den Bundestag zurückgeführt hat. Ansonsten ist Politik ein Mannschaftsspiel, da kann man die Probleme nicht immer nur einer Person vorwerfen.

Stichwort Mannschaftsspiel – Lindner wird in der Partei oft eine „One-Man-Show“ vorgeworfen: Er lasse neben sich keine anderen hochkommen. Sehen Sie das ähnlich?
Als kleinere Partei, zumal in der Opposition, können nicht beliebig viele Personen im Vordergrund spielen. Aber gleichzeitig müssen auch verschiedene Typen einer Partei sichtbar sein. Das ist aber nicht nur eine Bringschuld des Vorsitzenden, sondern auch der einzelnen Personen selbst, die Resonanz durch ihre Arbeit zu erzeugen.

Große Resonanz hat in diesem Jahr der Thüringer FDP-Chef Thomas Kemmerich erzeugt. Nun will er entgegen dem Ratschlag Lindners noch einmal für den Landesvorsitz kandidieren. Ist das eine gute Idee?
Nein. Seine Wahl zum Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD hat der FDP geschadet. Er sollte nicht mehr kandidieren.

Aber hat Lindner überhaupt eine Handhabe?
Er hat nur das Mittel des Gesprächs. Wir sind keine Kaderpartei, wo die Zentrale sagt: Das musst Du so machen.

Parteichef Lindner musste viel Kritik dafür einstecken, dass und wie er die von ihm vorgeschlagene Generalsekretärin Linda Teuteberg nach nur einem Jahr im Amt abserviert hat. War das guter Stil?
Frau Teuteberg ist eine intelligente und fähige Frau. Aber das brutale Geschäft des Generalsekretärs lag ihr nicht. Da muss man als Frontkämpfer viele Dinge sagen, die der Vorsitzende so nicht sagen kann.

Ist Volker Wissing, den Lindner am Samstag als neuen Generalsekretär vorschlagen wird, der bessere Frontkämpfer?
Er hat einen großen Vorteil: Er ist ein erfolgreicher Wirtschaftspolitiker hier in Rheinland-Pfalz. Um mehr Resonanz zu bekommen, positionieren wir uns zum Beispiel gegen die Strategie der Bundesregierung, in Unternehmen einzusteigen. Es ist richtig, die Lufthansa zu unterstützen, aber das heißt nicht, dass der Staat sich am Unternehmen beteiligen muss. Um uns in diesem Bereich klar zu positionieren, ist Wissing eine gute Wahl.

Der FDP wird immer wieder politische Ortlosigkeit vorgeworfen. Hätte die Corona-Krise nicht die Sternstunde einer Partei werden können, die für Rechtsstaatlichkeit und Freiheit eintritt?
Vielleicht wird es noch unsere Sternstunde. Momentan steht im Vordergrund das sehr große Füllhorn des Staates, aus dem er mit Finanzzuweisungen Probleme abdeckt. Aber es wird sich zeigen, dass die Wirtschaftskrise tiefer ist. Wir sind noch lange nicht am Ende dieser Strukturkrise. Da ist es unsere Aufgabe, erfolgreiche Lösungsansätze aufzuzeigen.

Sehen Sie im Leitantrag für den kommenden Parteitag Punkte, die den Bundesbürger zu dem Schluss kommen lassen könnten: Ja, dafür brauchen wir die FDP?
Ich glaube, mit der Wahl von Volker Wissing zum Generalsekretär und Harald Christ zum Schatzmeister setzen wir deutliche Zeichen im Bereich Wirtschaftskompetenz. Christ war über Jahrzehnte Sozialdemokrat und erfolgreicher Unternehmer. Wir müssen auf dem Parteitag in Richtung Mittelstand klarmachen, dass wir andere Vorstellungen als Wirtschaftsminister Altmaier haben, der als Staat in die Unternehmen reingeht und zentrale Industriepolitik betreiben will. Der Staat kann das nicht besser als die Menschen in den Unternehmen.

Deutschland diskutiert über den Umgang mit den Flüchtlingen aus Moria. Was könnte denn eine unterscheidbare Position der FDP in dieser Frage sein?
Wenn wir 2015 wiederholen – das war die große Stunde der AfD – gefährden wir erheblich politische Strukturen bei uns im Land. Gleichzeitig isolieren wir uns auf europäischer Ebene: Nach 2015 gab es ja nach unserem Alleingang keine Abnahmemöglichkeiten für die von uns aufgenommenen Flüchtlinge in den Nachbarländern. Es muss heute eine europäische Lösung her. Selbst wenn nicht alle 27 dabei sind, dann eben 18.

Sprechen Sie sich gegen die jetzt vereinbarte Aufnahme von 1.700 Flüchtlingen aus?
Das ist hinnehmbar. Abgesehen von den 150 Kindern aus Moria sind das ja alles Menschen, deren Asylanträge schon geprüft sind. Aber dieser Alleingang darf kein Alibi für Frau von der Leyen sein, jetzt europäisch nichts zu bewegen.

Manche Beobachter sagen, dass eine europäische Einigung erst nach dem Ende der Ära Merkel kommen kann, weil Angela Merkel für viele Europäer in der Flüchtlingsfrage seit 2015 ein rotes Tuch ist.
Da ist was dran. Man fühlte sich damals übergangen. Helmut Kohl hat immer auch die kleineren europäischen Länder miteinbezogen. Merkels Alleingang 2015 hat da viel kaputt gemacht. Bei den Osteuropäern blieb der Eindruck: Die Deutschen machen sowieso, was sie wollen. Aber dass es ohne Frau Merkel plötzlich leichter wird, die Flüchtlingsfrage auf europäischer Ebene zu lösen, glaube ich nicht. Man bekommt in der EU aber auch keine Lösung hin, wenn man immer darauf wartet, dass auch der letzte Mohikaner mitmacht. Wenn die Hälfte oder zwei Drittel der Mitglieder mitmachen, wäre das schon ein Schritt nach vorn.

Mit Ihnen als Spitzenkandidat flog die FDP 2013 aus dem Bundestag. Gibt es Schlüsse, die Sie aus dem damaligen Misserfolg gezogen haben – und die der Partei heute hilfreich sein könnten?
Ja. Es braucht einen anständigen Umgang und weniger Hintergrundgequatsche. Die Partei muss trotz unterschiedlicher Vorstellungen einzelner Mitglieder geschlossen sein. Ich weiß, dass jeder darum bemüht ist, in der Zeitung zu stehen. Aber wenn man nicht ein gesundes Maß „Korpsgeist“ an den Tag legt, wirkt man nach außen konfus. Aus fast fünfzig Jahren Politik kann ich Ihnen sagen: Heute werden Sie freundlich begrüßt und kommen mit großem Foto auf die Titelseite, und morgen werden Sie von hinten fotografiert und bekommen einen Tritt in den Hintern. Man sollte sich selbst treu bleiben.

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