RAF-Terrorist Ernst-Volker Staub - Der meistgesuchte Mann des Landes

Ernst-Volker Staub kann in Rollen schlüpfen und freundlich wirken, doch in Wahrheit ist er einer der letzten noch nicht gefassten mutmaßlichen RAF-Terroristen.

Öffentliche Fahndung nach Staub / Foto: Michael Danner
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Autoreninfo

Dr. Butz Peters ist Publizist und Rechtsanwalt in Dresden. Er ist einer der führenden deutschen Experten zur Geschichte der RAF und hat mehrere Bestseller zum Thema Innere Sicherheit geschrieben.

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Als Ernst-Volker Staub – bislang das einzige Mal – von der Polizei festgenommen wurde, war er noch ein No-name-Terrorist. Es ist der 2. Juli 1984. Frankfurt am Main. Berger Straße 344. Ein Altbau im Stadtteil Bornheim. Ein Elektromeister im Ruhestand macht es sich vor dem Fernseher gemütlich. Gerade läuft die Werbung vor der Tagesschau. Er schenkt sich ein Bier ein. Auf einmal hört er einen ziemlich lauten Schlag, den er nicht verorten kann. So, als ob ein Möbelstück umgefallen wäre. Er schaut sich in seiner Wohnung um. Aber nichts ist umgefallen. 

Eine halbe Stunde später steht vor seiner Wohnungstür in der zweiten Etage eine ihm unbekannte Frau, Mitte zwanzig: Sie sagt, dass sie für die Mieterin über ihm die Katze versorge und ihr eine Gießkanne mit Wasser umgekippt sei – im Zimmer über seinem Schlafzimmer. Der Rentner inspiziert sein Schlafzimmer und sagt ihr, Wasserflecken seien nicht zu sehen. Sichtlich erleichtert verschwindet die Frau im Treppenhaus nach oben. Eine halbe Stunde später entdeckt der Rentner in seinem Schlafzimmer ein Loch im Fußboden – wenige Zentimeter groß. In ihm steckt ein Projektil. Und dann sieht er auch oben in der Decke ein Loch. Schlagartig ist ihm klar, dass es sich bei dem Geräusch um einen Schuss gehandelt haben muss.

Er wählt die 110. Um halb elf stürmen acht Streifenpolizisten die Wohnung über seiner und verhaften drei Männer und drei Frauen. Einer trägt einen leuchtend roten Overall, wie der Commander eines TV-Raumschiffs, ein anderer bunt karierte Hüttenschuhe, eine hat einen auffallend vergammelt-braunen Schneidezahn. Eine andere kommt daher mit Hörgerät und Schlafanzughose. Das dazu passende Schlafanzug­oberteil und einen schwarzen Schlüpfer trägt ein schlanker, hoch gewachsener Mann mit blonden Haaren. Etwas über 1,80 Meter groß, blaugrüne Augen. Als sich die Beamten in den drei Zimmern umschauen, sehen sie Pässe und Personalausweise herumliegen, Geldbündel, Pläne von Nato-­Einrichtungen und Flughäfen. Jetzt schwant den Schutzpolizisten, dass sie es mit richtigen Terroristen zu tun haben. „Da wurden unsere Schwitzflecken immer größer“, blickt einer von ihnen zurück.

Ein No-name-Terrorist

Die Festgenommenen sagen kein Wort. Bei der erkennungsdienstlichen Behandlung ist die Identifikation bis auf einen einfach: Helmut Pohl und drei andere werden per Haftbefehl gesucht, Barbara Ernst ist polizeibekannt. Aber bei dem Mann mit dem Schlafanzugoberteil kommen die Beamten nicht weiter. Seine Fingerabdrücke liegen der Polizei nicht vor, auch keine Fotos von ihm. Und bei den wegen Terrorismusverdachts Gesuchten gibt es niemanden, der so wie er aussieht. Für die Polizei ist er ein unbeschriebenes Blatt. So wird er in der Festnahmenacht in der „Einlieferungsanzeige“ als „unbekannte männliche Person“ geführt. Ein No-name-Terrorist.

Am nächsten Vormittag versuchen zwei BKA-Kommissare dem Mann seinen Namen zu entlocken. Aber der verrät ihn nicht. Stattdessen verlangt er die sofortige Zusammenlegung mit den anderen fünf „Gefangenen“, Schreibmaterial, mehrere Tageszeitungen, Tabak und „Anwalt Koch aus Frankfurt“ zu sprechen. Mit seinen forschen Forderungen wirkt der Mann mit Schlafanzug­oberteil und in der Miniunterhose auf die beiden BKA-Männer bockig. Aber sie sorgen dafür, dass er andere Kleidung bekommt. Und so trägt der Terrorverdächtige alsbald einen grünen Polizei-Trainingsanzug und weiße Polizei-Turnschuhe. 

Am Abend wird der Mann ohne Namen BGH-Ermittlungsrichter Horst Kuhn vorgeführt. Unvermittelt fragt der ihn: „Sind Sie Ernst-Volker Staub?“ – den entscheidenden Hinweis hatte er kurz zuvor von der BKA-Tatortgruppe erhalten: In der Wohnung hatten Beamte in einem blauen Blouson Größe 52 zwei Ausweise entdeckt: Staubs Personalausweis und den Reisepass von „Theo Wenzel“ (Name geändert), versehen mit Staubs Foto. 

Der Mann blickt irritiert. Dann nickt er. „Ich heiße Ernst-Volker Wilhelm Staub, bin geboren am 30.10.1954 in Hamburg und wohne in Hamburg, An der Berner Au 17e.“ „Beruf?“, fragt der Richter. „Nein.“ Und dann sagt der Mann, dass er keine Angaben zur Sache mache.

Ihr letztes Aufgebot

Die Festnahmen Staubs und seiner fünf Komplizen im Hochsommer 1984 sind der Schlussakkord zur zweiten RAF-Generation. Ihr letztes Aufgebot. Gefasst. Besorgniserregend sind für die Ermittler die Funde in der Wohnung: die üppigen Bargeldbestände. Im Wert von über 17.000 D-Mark: französische Francs, Schweizer Franken, US-Dollar und niederländische Gulden. Damals der Preis für einen nagelneuen Golf mit vier Türen. In Schnellheftern liegen in der Wohnung 8400 Blatt Papier. Mit eintausend Namen möglicher künftiger RAF-Opfer. „Aufklärungsmaterial“ für Anschläge demnächst. Was die Beamten nicht wissen: Es ist eine Vorschau auf die blutigen Terrortaten der dritten RAF-Generation. Legendär ist die RAF-„Planungstreue“.

Unter den Funden in der dritten Etage: aus der Zeitschrift Wehrtechnik die Personalie „Dr. Ernst Zimmermann, Vorsitzender der Geschäftsführung der MTU Motoren- und Turbinen-Union München GmbH“ mit Foto – ein halbes Jahr später ermordet ihn ein RAF-Kommando in seinem Haus in Gauting bei München. In dem ebenfalls archivierten Artikel aus der Wirtschaftswoche 7/1984 „Deutsche Bank Macht durch Masse“ wird Alfred Herrhausen als möglicher neuer Vorstandssprecher und „als einer der engsten wirtschaftspolitischen Berater Helmut Kohls, der ihn häufig telephonisch konsultiert“, vorgestellt. 

Fünf Jahre später bombte ihn die RAF in den Tod. Und dann liegen dort auch noch Unterlagen von Sprengstoffverstecken und zur „Rhein-Main-Airbase“. Ein Jahr später explodieren dort, auf dem „Gateway to Europe“, zwölf Kilometer Luftlinie von der Berger Straße entfernt, 126 Kilogramm Sprengstoff – in einem von der RAF abgestellten VW-Passat. Die Metallsplitter durchsieben einen US-Soldaten, einer Zivilangestellten reißen sie die linke Gesichtshälfte weg. Beide sterben. 23 Menschen krümmen sich verletzt auf dem Parkplatz. 

Spätfolgen einer Kriegsverletzung

Als Staub in Frankfurts Berger Straße verhaftet wird, ist er 29. Er wuchs auf in einem kleinen Reihenhaus in Hamburg-Farmsen. Ein grüner Stadtteil im Nordosten der Hansestadt: strahlende weiße Fassaden von gerade errichteten Reihen- und Mehrfamilienhäusern – damals in den späten 1950er, frühen 1960er Jahren. Hier wohnen Tausende Otto Normalverbraucher. Staubs Elternhaus ist schmal. Gerade mal sechs Meter breit. Vier enge Zimmer. Sein Vater ist Verwaltungsangestellter. 

Er stirbt, als Ernst-Volker fünf ist. Mit 40. Die Spätfolgen einer Kriegsverletzung. Mit 17 ist er Vollwaise: Seine Mutter Ursula stirbt 1972 mit 48 an Leukämie. Die zentrale Rolle in seinem Leben übernimmt sein vier Jahre älterer Bruder. Ernst-Volker besucht die Kirchengemeinde in Farmsen. Diskutiert mit Gleichaltrigen über Gott und die Welt. Verhalten kritisch äußert er sich über „das System“. Ein guter Schüler ist er nicht. Mit 20, im Juni 1975, besteht er das Abitur am Gymnasium Farmsen. Notendurchschnitt: 3,4. 

Zum Wintersemester 1975/1976 beginnt er das Studium an der Universität Hamburg: Allgemeine Sprachwissenschaft und Phonetik. Zum Sommersemester 1976 schreibt er sich zusätzlich für die Rechtswissenschaften ein. Staub engagiert sich sozial, kümmert sich um sozial benachteiligte Jugendliche. In seinem ersten Jurasemester arbeitet er als Jugendleiter im Jugend­treff Oldenfelde e.V. Wie für so manches spätere RAF-Mitglied führt sein Weg in den Untergrund über die „praktische Sozialarbeit“. 

Eine Sechser-WG

Mit 23, Anfang 1978, zieht er in eine Wohngemeinschaft im Hamburger Stadtteil Wilstorf. Eine Sechser-WG. In dieser Zeit erleben ihn zwei seiner Mitbewohner, wie sie später übereinstimmend berichten, als „eher in sich gekehrten Menschen“, „der jedem Streit gern aus dem Weg“ gegangen sei. Innerhalb der WG habe er sich zwei Menschen angeschlossen, die „verhältnismäßig radikale politische Thesen vertreten“ hätten: Im Jahr eins nach dem für die RAF desaströsen Deutschen Herbst 1977 hoffen die drei, dass trotzdem der „bewaffnete Kampf“ in Deutschland Zukunft hat. Mit 25 beginnt Staub die Camou­flage – fortan zieht sie sich wie ein roter Faden durch sein Leben: Bekannten erzählt er, von Mai 1980 bis Mai 1981 habe er in Köln eine Kleinkindergruppe betreut. Aber später finden Ermittler heraus, dass er dort weder beim Arbeits- noch beim Sozialamt gemeldet war. 

Mit 26, im Mai 1981, meldet er sich beim Bezirksamt Farmsen wieder in dem einstigen Reihenhaus seiner Eltern an, An der Berner Au 17e – jetzt wohnt dort sein Bruder. Aber tatsächlich zieht er dort nicht wieder ein. Zwei Monate später besucht er zwei seiner Ex-WG-Mitbewohner. Mittlerweile wohnt das Pärchen in einem eigenen Haus in Ahrensburg, nordöstlich von Hamburg. In deren Dachkammer lebt Staub für einige Wochen. Überrascht stellen die beiden fest, dass er Besucher empfängt, die er vor ihnen abschirmt. Anfang September 1981 zieht er aus. 

Später entdecken die beiden zwei Taschen von ihm unterm Dach. Darin: ein Parka und ein Klappspaten, an dem vertrocknete Erde klebt. Außerdem: eine Flasche mit Salzsäure, eine Tränengassprühdose sowie drei Kursbücher der Deutschen Bundesbahn. Für die Ermittler belegt der Tascheninhalt eine „Kurier- und Depottätigkeit“. Für die zweite RAF-Generation – für wen sonst? Weil Staub sich nicht zum Sommersemester 1982 an der Universität Hamburg zurückmeldet, zwangsexmatrikuliert sie ihn zum Ablauf des Wintersemesters 1981/1982 nach abschlussfreien zwölf Semestern Rechtswissenschaften. 

„Einen ordentlichen, freundlichen Eindruck“

Zu dieser Zeit, Staub ist 28, endet sein Weg in der Legalität: Wovon er in den nächsten Jahren lebt, bis 1984, ist bis heute ein Rätsel. Auf seinem Girokonto 1205/461 344 bei der Hamburger Sparkasse gab es seit November 1981 keine nennenswerte Bewegung: Dort sind 1386,89 Mark Guthaben. Jeden Monat gehen zwei Mark Bankgebühr ab; Zinsen kommen hinzu. Offensichtlich braucht er das Geld nicht, verfügt über andere Quellen. Nicht fernliegend der Gedanke, dass er schon damals sein Leben durch Räubereien finanzierte. Ein Indiz dafür ist ein „Check-Plan“ in seinem blauen Blouson in der Berger Straße: Aufzeichnungen über Ausspähung für den Überfall auf den Kassenraum des Kaufhauses Horten in Hannover. Seinerzeit gab es in der Bundesrepublik jedes Jahr fast 2000 nicht aufgeklärte Überfälle auf Geld­institute, Geldtransporter, Poststellen, sonstige Zahlstellen, Geschäfte, Geld- und Kassenboten. 

Nächste Episode bei Staubs Entwicklung zum RAF-Mitglied ist sein klandestines Abtauchen als „Peter Bollmann“ in Bremen. Es erscheint wie ein Umzug aus Liebe. Aber in Wahrheit ist es sein wohldurchdachtes Abtauchen von allen staatlichen Erfassungssystemen. Staubs Gesellenstück. Vor seinem Eintritt in die RAF. Die Geschichte beginnt alltäglich: Auf der Autofahrt von Bremen nach Hamburg nimmt eine Frau eine Anhalterin mit, Gisela. Die Frauen verstehen sich blendend. Bleiben in Kontakt. Bei einem späteren Treffen lernt Gisela den Freund der Autofahrerin kennen. Dem freien Mitarbeiter von Radio Bremen sagt sie, sie wolle von Hamburg nach Bremen ziehen, um hier weiter zu studieren. Der Radiomann entgegnet, eine Bekannte von ihm, eine ledige Studienrätin (32), sei auf der Suche nach einer vorübergehenden „Untervermietung“, weil sie sich für ein Jahr beurlauben lassen wolle, um in Berlin zu leben.

Bald darauf bekommt die Studienrätin einen Anruf von „Peter“ – er sei Giselas Freund, sagt er. Sie verabreden einen Besichtigungstermin für die Dreizimmerwohnung im Ostertorviertel, Adlerstraße 3, zweite Etage. Bei dem Treffen im Juni 1983 stellt er sich als Peter Bollmann und als Erzieher vor. Von Hamburg nach Bremen wolle er umziehen, weil seine Freundin Gisela hier bessere berufliche Chancen an der Uni habe. Auf die Studienrätin macht er „einen ordentlichen, freundlichen Eindruck“. 

Auf seinen Wunsch hin werden weiterhin von ihrem Konto Miete und Nebenkosten abgebucht. Insgesamt 732 Mark. Zudem Strom-, Gas- und Telefonkosten. Die Beträge erstattet er ihr per Postanweisung nach Berlin. Den Post-Nachsendeantrag, den die Lehrerin stellen möchte, redet er ihr aus. Sein Argument: Immer wieder sei doch zu hören, wie unsicher Nachsendeanträge seien. Der Charmeur verspricht, ihre Post umgehend nach Berlin-Friedenau nachzusenden. Dadurch könne sie sicher sein, dass „nichts verloren geht“. Angesichts dessen laufen alle Zahlungen für die Wohnung weiter vom Konto der Studienrätin. So gelingt es Staub, unerkannt in ein bestehendes Mietverhältnis „hineinzuschlüpfen“. Eine typische Masche der RAF-Wohnungsbeschaffung. Gisela aber wurde nie wieder gesehen. 

Staub spielt eine „führende Rolle“

Staub, noch keine 30, versteht die bürgerliche Maskerade exzellent. „Er war gepflegt und gut gekleidet, Bügelfaltenhose, weißes Hemd, und sah aus, als sei er frisch vom Friseur gekommen“, berichtet eine Freundin der Studienrätin. Und die sagt später, nach Staubs Verhaftung in Frankfurt, nie wäre sie auf die Idee gekommen, einem Terroristen Quartier zu bieten. Und auch der Radio Bremen-Journalist konnte sich nicht vorstellen, „dass Peter irgendetwas mit Terrorismus zu tun hat“. 

Auf ähnliche Weise war es der Nachhut der zweiten RAF-Generation in der Berger Straße gelungen, in ein bestehendes Mietverhältnis hineinzuschlüpfen. Den Wohnungsschlüssel hatte eine Frau aus dem RAF-Umfeld von der Mieterin besorgt, einer Soziologiestudentin. Die war dankbar für das Versprechen der ihr flüchtig bekannten Heidi, ihre Katze und die zahlreichen Pflanzen zu versorgen. Sie hatte einen Flug nach Oregon gebucht. Zu Bhagwans „Third Annual World Celebration“, einem Treffen von Bhagwan-Jüngern aus aller Welt. Vermutlich wäre dieser RAF-Unterschlupf nicht aufgeflogen, wenn in ihm nicht beim Herumhantieren mit einer Pistole ein Schuss losgegangen und in der Wohnung eine Etage tiefer gelandet wäre. 

Aus den Papieren, die die Ermittler in der Wohnung sichten, entnehmen sie, dass Staub im vergangenen Vierteljahr, bis Juni 1984, in Süddeutschland unterwegs war, um Anschlagsziele auszubaldowern: in Oberammergau, Bad Tölz und München – zusammen mit seiner Freundin Barbara Ernst. Der Frau, mit der er später in Frankfurt den Schlafanzug teilt. Was Staub im Hochsommer 1984 in der zweiten Etage der Berger Straße mit seinen Komplizen im Einzelnen besprach, kriegen die BKA-Ermittler nicht heraus. Die sechs schweigen – eisern. Angesichts der dort liegenden Papiere ist für die Beamten klar, dass das Sextett blutige Anschläge plante und Staub dabei eine „führende Rolle“ spielte. 

Als Staub auf der Anklagebank vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht sitzt, schwärmt er – mittlerweile 31 – vom revolutionären „Krieg in den Metropolen gegen den Imperialismus“, schwadroniert, „der antiimperialistische Kampf“ müsse weltweit organisiert werden – und beteuert: „Kriegführen“ lerne „man am besten im Krieg“. Die Richter hören aufmerksam zu und verurteilen ihn am 5. Februar 1986 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung – und zwar „von spätestens Anfang Juni 1983“ bis Anfang Juli 1984 – in „Tateinheit“ mit Urkundenfälschung und einem Verstoß gegen das Waffengesetz. Vier Jahre Freiheitsstrafe. Der Strafsenat erklärt Staub für brandgefährlich – angesichts der von ihm im Gerichtssaal „wiederholt vorgetragenen ideologisch-kämpferischen Thesen“. „Überzeugt“ sind die Richter davon, dass er „– insbesondere im Rahmen der RAF – weitere Straftaten begehen“ wird. Deshalb ordnen sie Führungsaufsicht an. Die Prognose der Richter erweist sich als wahr – vier Jahre später.

Eine 25-Kilo-­Sprengstofffalle

Nach seiner Haftentlassung 1988 ist Staub in den linken Szenen Wiesbadens und Hamburgs unterwegs. Oft mit Daniela Klette. Sie ist vier Jahre jünger, ist bei der Roten Hilfe in Wiesbaden. Demonstrierte gegen die Startbahn West des Frankfurter Flughafens und die Nato. Staub und Klette diskutieren in den besetzten Häusern der Hamburger Hafenstraße mit einem ihrer radikalen Bewohner: Burkhard Garweg, Jahrgang 1968. 

Anfang 1990 tauchen die drei zur RAF ab. Im Untergrund hat sich eine dritte Generation formiert, unter Führung der Wiesbadener Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams. In den vergangenen fünf Jahren hat sie acht Menschen ermordet. 

Nach Staubs Abtauchen im März 1990 – er ist 36 – verübt die RAF-Kommandoebene Baader-­Meinhofs Enkel noch fünf Kapitalverbrechen: Bundesinnenstaatssekretär Hans Neusel versucht sie mit einer 25-Kilo-­Sprengstofffalle in die Luft zu jagen – 300 Meter vor seinem Arbeitsplatz im Bundesinnenministerium. Er überlebt mit Schnittverletzungen. Die US-Botschaft in Bonn Bad Godesberg beballert ein RAF-Kommando aus zwei Nato-Gewehren und einer Kalaschnikow mit 250 Geschossen. Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder erschießt ein RAF-Scharfschütze aus über 60 Metern Entfernung in seinem Arbeitszimmer in Düsseldorf. 

Die nagelneue Justizvollzugsanstalt in Weiterstadt bei Darmstadt sprengt ein RAF-Kommando kurz vor deren geplanter Eröffnung in die Luft. Mit 200 Kilo Sprengstoff. Am Tatort: Staubs DNA. Schaden: 123 Millionen Mark. Der größte Schaden einer Explosion seit Kriegsende in Deutschland. Und RAF-Mann Wolfgang Grams ermordete den GSG-9-Beamten Michael Newrzella auf dem Bahnhof von Bad Kleinen. Für diese letzte blutige RAF-Epoche – 1990 bis 1993 – gilt Staub bei den Ermittlern als Wissensträger Nummer eins. Er ist der Einzige aus der zweiten RAF-Generation, der sich nach Verbüßung seiner Haftstrafe der dritten Generation anschließt. Ein Hardcore-Terrorist. 

Altes Foto von Staub / dpa

1998 erklärt die RAF ihre Auflösung, weil sie erkannt hatte, dass ihr Revolutionsmodell nicht funktioniert. Nach 28 Jahren und 34 Morden. Ein Jahr später starten Ernst-Volker Staub, Klette und Garweg eine in der Bundesrepublik beispiellose Serie von Raubüberfällen auf Geldtransporter und Einkaufsmärkte. Ein Dutzend Taten in West- und Norddeutschland rechnen ihnen die Ermittler zu – über 17 Jahre, von 1999 bis 2016. Beute: zwei Millionen Euro. Staub gilt als „Kopf“ des Trios.

Know-how und Waffen

Am Werk sind eiskalte Profis. Know-how und Waffen haben sie von der RAF mitgebracht: In der „Vorbereitungsphase“ planen Staub und seine beiden Komplizen ihr Vorgehen akribisch bis ins letzte Detail – sie dauert ein bis drei Monate vor der Tat. Nichts überlassen sie dem Zufall. Sie baldowern Tatort und Fluchtrouten aus, um die typischen Abläufe und jedes Risiko zu erfassen. Oft beschaffen sie sich drei Tatfahrzeuge von Händlern, im unteren Preissegment. Nicht über 3000 Euro: zwei für den Überfall – um ein Ausweichfahrzeug zu haben, falls der für die Flucht vom Tatort vorgesehene Wagen ausfällt; und eins, in das sie nach einigen Kilometer Flucht umsteigen. Diese Fahrzeuge statten sie mit Dubletten aus. Wie zu RAF-Zeiten.

Ebenso hochprofessionell das Verhalten von Staub & Komplizen in der „Tatphase“: Sie treten ruhig, höflich, besonnen und bestimmt auf. Mit Panzerfaust und Schnellfeuergewehren schüchtern sie ihre Opfer ein – gesäumt werden ihre Taten von mehreren traumatisierten Geld­transportfahrern. Mit ruhiger Stimme sagen sie ihren Opfern, dass es ihnen nur ums Geld geht. So reduzieren sie das Risiko von Widerstand und Panikreaktionen. Und in der „Nachtatphase“ läuft die Fahndung nach dem Fluchtwagen regelmäßig ins Leere, weil sie in dem Augenblick, in dem die Fahndung beginnt, bereits in einem anderen Fahrzeug sitzen – und der erste Fluchtwagen in Flammen aufgeht. So werden alle Fluchtspuren vernichtet.

Und wo steckte Ernst-Volker Staub die ganze Zeit – seit 1990? Ungeklärt. Folgt man den Meldungen in den Medien, wurde er in dieser Zeit fast überall vermutet und nirgendwo tatsächlich entdeckt. „Pasta in Italien, Paella in Spanien oder Rotwein in Frankreich?“, frotzelte die taz. Auf die Suche nach Staubs Fährte begaben sich Zielfahnder erstmals 1991. Und dann immer wieder – über 30 Jahre lang. Trotz emsiger Tätigkeit blieb der Fahndungserfolg aus. Etliche Zielfahnder ergrauten während der Suche, einige gingen in den Ruhestand. Staub ist nicht zu fassen, erscheint fast als Phantom – wenn da nicht das Dutzend Raubüberfälle gewesen wäre. „Er wirkt unscheinbar“, erklärt ein Ermittler, „hat viele Gesichter.“ Markantestes Zeichen seien seine „schlechten Zähne“. 

Der meistgesuchte Mann des Landes

Zu Staubs Verstecken gibt es für die Fahnder im Wesentlichen drei Hypothesen: Entweder lebt er irgendwo unerkannt in Deutschland. Möglicherweise in einem Milieu, in dem man es mit der polizeilichen Anmeldung nicht so genau nimmt – ähnlich wie es sich nun bei Daniela Klette in Berlin-Kreuzberg und mutmaßlich bei Burkhard Garweg auf einem Aussteigergelände in Berlin-Friedrichshain gezeigt hat. Oder in Europa außerhalb des „deutschen Kulturkreises“ – wie die zweite RAF-Generation: Nach dem Deutschen Herbst war Paris ihre Fluchtburg. Oder aber „fernab“. Etwa im Libanon oder in Syrien. Dorthin tauchten RAF-Verdächtige ab. 

Nun, nachdem im Zuge der Verhaftung von Daniela Klette Fahndungsfotos von Staub republikweit überall zu sehen sind, verfinstern sich dessen Lebensperspektiven. Im Oktober wird er 70 – dann sitzt er an einem derzeit unbekannten Ort: entweder ziemlich allein in einem düsteren Versteck, wo auch immer. Oder ganz allein im Gefängnis. Nun ist er der meistgesuchte Mann des Landes. 

 

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