Corona-Quarantäne - „Vielleicht lernen wir, den Wert echter Gemeinschaft wieder zu schätzen“

Das Coronavirus zwingt immer mehr Menschen in die Quarantäne. Im Zweifelsfall ist man für zwei Wochen ganz auf sich allein gestellt. Manfred Spitzer klärt im Interview über die Gefahren der Isolation auf und verrät auch, welche Vorteile die neu gewonnene Zeit haben kann.

Alleine unter Quarantäne – Was macht das mit der Psyche? / picture alliance
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Rixa Rieß hat Germanistik und VWL an der Universität Mannheim studiert und hospitiert derzeit in der Redaktion von CICERO.

 

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Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer ist ein deutscher Neurowissenschaftler und Psychiater. An der Universität Ulm ist er Professor für Psychiatrie und seit 1998 zudem ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm. Spitzer leitet dort auch das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL), das sich auf Neurodidaktik konzentriert.

Herr Spitzer, die Bundesregierung rät aufgrund der Corona-Krise, so wenig soziale Kontakte wie möglich zu haben. Das öffentliche Leben wird zudem weiter eingeschränkt. Ab wann kann soziale Isolation schädlich sein?
Man muss unterscheiden zwischen dem objektiven Fakt von sozialer Isolation einerseits und dem subjektiven Erleben von Einsamkeit andererseits. Die soziale Isolation suchen wir ja manchmal selber – deswegen ist daran gar nichts auszusetzen. Aber das subjektive Erleben „Ich habe keinen Kontakt zu den anderen“; das nagt an uns sehr. Einsamkeit mag niemand. Bei sozialer Isolation kann es zu Einsamkeit kommen, je länger, desto eher. Es ist eine Frage der Zeit. Problematisch im Fall der Quarantäne wird es aus medizinischer Sicht, wenn die soziale Isolation chronisch wird, was zu chronischer Einsamkeit führen kann.

Prof. Dr. Manfred Spitzer /
Foto: picture alliance

Kann man das auf eine maximale bzw. minimale Zeitspanne runterbrechen?
Nein, da kann man leider gar nichts zu sagen. Manche kommen mit Einsamkeit gut klar, andere halten das „für sich“-Sein nicht aus. Als Psychiater weiß ich, dass es vielen Menschen sehr schwerfällt, allein zu sein. Studien zeigen, dass manche Menschen schon nach kurzer Einsamkeit sich selbst einen elektrischen Schock versetzen, um der inneren Leere zu begegnen. Viele Menschen brauchen dauernde Ablenkung von sich selbst und vertreiben sich am liebsten vor Bildschirmen die Zeit.

Wäre das ein Problem?
Ja, ich hoffe, dass jetzt nicht der ganzen Nation ein kostenloser Netflix-Zugang ermöglicht wird, um das Problem des Zeit-Totschlagens in der Quarantäne zu lösen. Meine Befürchtung ist, dass dadurch die Leute noch inaktiver werden, noch weniger rausgehen, und wir genau dadurch am Ende noch mehr Tote haben als durch das Coronavirus. In medizinischen Fachzeitschriften warnt man seit Jahren vor dieser „Inaktivitäts- Pandemie“, die weltweit 9% aller Todesfälle verursacht. Das sollte man bedenken, wenn man jetzt die notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Ausbreitung des Virus hinauszuzögern: Die Nebenwirkungen könnten schlimmer sein können als die Wirkung.

Kann individuelle Isolation auch etwas Positives bewirken? Mehr Kreativität zum Beispiel?
Natürlich. Wer viel unter Strom steht, weil er viel zu erledigen hat, und jetzt von außen gezwungenermaßen runterkommen muss – für diese Menschen kann diese verordnete Verlangsamung ein Segen sein. Ich hoffe sehr, dass viele Menschen das so erleben und entsprechend für sich nutzen. Der Kreative und Resiliente überlegt sich jetzt nicht dauernd, was er alles nicht kann, was er alles verpasst und wo er überall ausgeschlossen ist. Sondern der überlegt sich, was er mit der gewonnen Zeit Positives anstellen kann. Es ist die Definition von Resilienz und psychischer Gesundheit, dass man auch in schwierigen Situationen selbstgesteuert handelt, also Herr über sein Tun bleibt und das Beste aus der Situation macht.

Bei einem Großteil der älteren Bevölkerung ist Einsamkeit ohnehin ein Problem. Inwieweit verschärft eine auferlegte Isolation den psychischen Zustand, wenn man ohnehin schon öfter allein ist?
Wer mit Einsamkeit unter normalen Bedingungen schon Probleme hat, der wird natürlich durch auferlegte soziale Isolation noch mehr Probleme bekommen. Manche Menschen werden sehr unter diesen neuen Verhältnissen leiden. Ihnen kann ich nur den Rat geben, die Möglichkeiten der heutigen Kommunikationstechnik voll auszunutzen: Man kann mit den Enkeln eben auch telefonieren oder sich gar Briefe schreiben, das wirkt übrigens sogar mildernd auf Depression und Grübeln.

Vor welche psychische Herausforderung stellt die Stilllegung des öffentlichen Lebens den Einzelnen?
Wer nicht alleine lebt, sondern in einer Paarbeziehung oder Familie, der kann durchaus auch Probleme bekommen. In Wuhan sind die Scheidungszahlen in die Höhe gegangen, weil sich Paare unter der Quarantäne auf die Nerven gegangen sind. Kinder können „nervig“ werden. Meine Empfehlung, besonders an Familien: Täglich einen größeren Spaziergang machen, mindestens eine Stunde, besser zwei, am besten im Wald. Das bessert alles! Und der Effekt ist nachweislich größer als man vorher erwartet.

Und was bedeutet es für den Zusammenhalt in der Gesellschaft?
Vielleicht lernen wir durch das Virus, dass Leben nicht identisch ist mit pausenlosem anonymen Konsumieren, Unterhaltenwerden und Ablenken. All dies macht uns nämlich, wie wir aus der Glücksforschung wissen, nicht glücklich, sondern längerfristig unzufrieden und unglücklich. Vielleicht lernen wir, den Wert echter Gemeinschaft wieder zu schätzen, wenn die Quarantäne einmal aufhört.

Inwieweit kann der Austausch über soziale Medien die Einsamkeit nehmen?
Ganz unterschiedlich – je nachdem wie sie genutzt werden. Natürlich kann man elektronische Medien zur Kommunikation nutzen und so sozialer Isolation begegnen, gerade in diesen Zeiten. Aber gerade Social Media sind im Hinblick auf Kommunikation auch ein großes Problem: Es blühen dort die wildesten Phantasien, Verschwörungstheorien und Ängste. Daher halte ich Social Media in der jetzigen Situation für eher gefährlich. Ängste und Hass gegenüber Fremden wurden schon vor Corona insbesondere durch Facebook und Twitter stark gefördert und ein Umschlagen von Sprache in tatsächliche Gewalt ist wissenschaftlich nachgewiesen.

Was kann die Kombination von Gesundheitshysterie und Isolation bewirken? Wie gefährlich ist diese Kombination?
Diese Kombination hat aus meiner Sicht tatsächlich Sprengstoffcharakter. Aber es hängt jetzt von uns ab. Und da liegen die Appelle der Politiker und Experten an jeden Einzelnen richtig: Denn jeder kann tatsächlich einen Beitrag leisten. Es ist ein globales Problem, das man mit einseitigen nationalen Maßnahmen nicht bekämpfen kann. Ein Virus macht an keiner Grenze halt.

Was kann man Leuten, die sich in Quarantäne oder Isolation befinden, raten, um bestmöglich mit der Situation umzugehen?
Wer mit der jetzigen Situation kreativ umgeht und für sich etwas dabei rauszieht – Ruhe, Besinnung, neue Kraft – der macht es richtig. Wer nicht ängstlich Däumchen drehend ungeduldig nur wartet, bis sich die Welt „endlich wieder weiterdreht“, sondern die Auszeit nutzt, macht sich zum Gewinner in dieser schwierigen Situation.

 

Bei Depressionen oder psychischen Problemen darf und soll man sich Hilfe suchen. Das Selbsthilfe-Portal www.du-bist-wichtig.com bietet Hilfe an und gibt eine Übersicht über Selbsthilfegruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

 

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