Psychologie der Corona-Krise - Die Toilettenpapiermanie

Neben dem Coronavirus treibt die Bundesbürger eine weitere Angst um. Die Sorge, dass Klopapier ausgehen könnte, mündet in Hamsterkäufen. Es scheint ums Existenzielle zu gehen. Oder ist es doch nur das Zeichen einer mentalen Störung?

Klopapier ist die neue Währung in der Corona-Krise / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. med. Burkhard Voß ist Neurologe und Psychiater und Autor von „Deutschland auf dem Weg in die Anstalt“ (Solibro Verlag).

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„Und die Nase mir haltend, ging ich unmuthig durch alles Gestern und Heute …“ schrieb Friedrich Nietzsche in „Also sprach Zarathustra II“. Mit diesen olfaktorischen Negativitäten hat der postmoderne Mensch der westlichen Welt schon lange abgeschlossen.

Angesichts der existentiellen Corona-Krise beschäftigt ihn viel mehr die Sauberkeit, besser die auf lange Zeit gesicherte Sauberkeit, einer bestimmten Körperöffnung. Sie beschäftigt ihn so sehr, dass die Beschäftigten von Supermärkten mit der Klopapierbedürfnisbefriedigung kaum noch mithalten können.

Gesetz der großen Zahl

Pro Klosettrolle atmet die Kassiererin möglicherweise mindestens eine Millionen Coronaviren ein, wie die Virologen vom Robert-Koch-Institut ausgerechnet haben. Was nützt die peinliche Hygiene einer Körperöffnung, wenn aus der anderen die virale Pestilenz nur so herausströmt. Da helfen auch Mundschutz und Plastikverkleidung nichts. Gesetz der großen Zahl.

Doch was zählt ist der Anus, nicht der Gesamtorganismus. Falls es einen Klopapierfetischisten erwischen sollte: Immerhin poporein in die Kiste. In glamourösen Zeiten hieß es noch: Faltenfrei in die Kiste. Die generationenübergreifende Renaissance der, psychoanalytisch gesehen, analen Phase des zweiten bis vierten Lebensjahres ist kein deutsches Spezifikum, sondern länderübergreifend.

Reinlichkeit oder Persönlichkeitsstörung?

Selbst im fernen Australien musste die Polizei gerufen werden, als ein Konsument im Klopapierglücksrausch die Bedürfnisse anderer Konsumenten komplett ausblendete und mit einem Vorrat für mehrere Jahre zur Kasse stürmte und dabei handgreiflich wurde.

Auch wenn ich als praktizierender Neurologe und Psychiater kein Fan der Psychoanalyse bin, so könnte Freud durchaus Recht haben, wenn er die übertriebene Reinlichkeitserziehung in der analen Phase als Ursache für zwanghafte Rituale sieht, die sich bis zu manifesten Zwangserkrankungen ausweiten können. Wenn Zwänge ein fester Teil der Persönlichkeit sind, spricht man von anankastischer Persönlichkeitsstörung. Das leitet sich vom griechischen Wort Ananke ab, dass für Zwang bzw. Notwendigkeit steht.

Der Westen, eine Gesellschaft von Zwangsneurotikern?

Hamsterkäufe von Klopapier werden weit überwiegend aus dem Westen berichtet. Der Westen, eine Gesellschaft von Zwangsneurotikern? Aus tiefenpsychologischer Sicht könnte da etwas dran sein. Denn worum geht es beim Anankasmus? Um es mit Hermann Hesse zu sagen: „Einmal zu Stein erstarren! Einmal dauern!“

Es ist die Sehnsucht nach der verlässlichen Wiederkehr des Gewohnten, Vertrauten, die in der durch die Digitalisierung katalysierten pluralistischen Welt des Westens eine Abfuhr nach der nächsten bekommt. Beim Anankasmus – und wenn er nicht die Oberhand gewinnt, ist er gar nicht so unsympathisch – geht es um die Angst vor der Vergänglichkeit.

Die Angst vor Vergänglichkeit

Die Loslösung vom Transzendentalen und die Hinwendung zum Atheismus sind im Westen in den letzten Jahrzehnten genauso exponentiell gewachsen, wie die Infektionsrate des Coronavirus in den letzten Tagen. Welches Wachstum hat oder wird die westlichen Gesellschaften mehr destabilisieren? Die dermatologische Stabilisierung durch Hyaluronsäure, Silikon, Botox & Co. ist immerhin das perfekte negative Spiegelbild der mentalen Destabilisierung.

Die Angst vor der Vergänglichkeit frisst den Menschen des Westens förmlich auf. Auch ohne Coronavirus. Mit Coronavirus nimmt die Sehnsucht nach Unendlichkeit bizarre Formen an. Bei dem derzeitigen Run auf Toilettenpapier könnte man fast schon meinen, dass die Zwanghaftigkeit zu ihrem Ursprung zurück möchte. Sozusagen eine Zeitreise in die Unterhose anstrebt. Und darüber hinaus oder besser gesagt: Noch mehr hinein. Natürlich astrein sauber.

Alles nur Spekulation?

Kolportiert wird, dass in dem Maße wie im Alter das Interesse an Sexualität geringer wird, das Interesse an Verdauungsvorgängen wächst. Hinzu kommt, dass Antidepressiva regelmäßig und immer großzügiger geschluckt werden. Seit 1995 hat sich die Rezeptierung verfünffacht und steigt von Jahr zu Jahr weiter an.

Eines der meistverschriebenen Antidepressiva ist Citalopram, ein Serotoninrückaufnahmehemmer. Auch die übrigen Serotoninrückaufnahmehemmer verkaufen sich gut. Häufigste Nebenwirkung? Sexuelles Desinteresse. Ob sich die anderen Interessen der Verdauung einschließlich deren Endphänomenen zuwenden? Genug der Spekulationen.

Ziemlich sicher dürfte dafür sein, dass das Kaufinteresse an Toilettenpapier nicht gerade Mut und Zuversicht der Käufer widerspiegelt. Mut und Zuversicht sind aber genau die Essenzen der conditio humana, die am dringendsten für die Bewältigung der Corona-Krise gebraucht werden. Ob man stattdessen Champagner kaufen sollte? Wer hier nicht ja sagt, hat schon verloren.

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