
- Diese Krise lässt sich nicht weglächeln
Die Grenzschließungen vieler EU-Länder in der Corona-Krise führen nicht nur zu massiven Verkehrsproblemen, sondern gefährden zunehmend die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern. Ausgerechnet 25 Jahre nach Abschaffung der Grenzkontrollen wirkt die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hilflos.
Ursula von der Leyen präsentiert sich gern als zupackende Politikerin, die vor keiner Herausforderung zurückscheut. Ob Klimakrise, digitale Revolution oder geopolitische Konfrontation – die Präsidentin der EU-Kommission war in ihren ersten hundert Tagen in Brüssel stets um den Eindruck bemüht, dass sie alles im Griff habe. Zweifel und Kritik überging sie mit einem Lächeln.
Doch nun, in der Corona-Krise, gibt sich von der Leyen ungewohnt nachdenklich. „Wir haben am Anfang das Coronavirus unterschätzt“, räumt die sonst so vollmundige CDU-Politikerin ein. Angesichts der neuartigen Pandemie könne man nicht einfach etwas von oben, also von Brüssel aus, anordnen. Vielmehr müsse die EU die Entscheidungen der 27 Mitgliedstaaten koordinieren.
Das ist schwerer, als von der Leyen gedacht haben dürfte. Denn die EU-Staaten handeln in der Corona-Krise nicht mehr miteinander, sondern gegeneinander. Seit sich Europa zum Epizentrum der viralen Gefahr entwickelt hat, wirken auch Nationalismus und Protektionismus ansteckend – und Brüssel hat das Nachsehen. Nirgendwo wird dies deutlicher als bei den Grenzschließungen und ihren Folgen.
Schengen-Krise zum 25. Jahresta
An mehreren deutsch-polnischen Grenzübergangen gab es in den letzten Tagen mehr als 50 Kilometer lange Staus und Wartezeiten von bis zu 18 Stunden. Um eine Verbreitung des Coronavirus zu erschweren, hatte Polen an den Grenzen zu Deutschland, Tschechien, der Slowakei und Litauen wieder Kontrollen eingeführt. Seitdem kommt es zu massiven Verkehrsproblemen, die Bundesregierung ist alarmiert.
Zuletzt schaltete sich Kanzlerin Angela Merkel persönlich ein, um bei der polnischen Regierung um Abhilfe zu werben. Außenminister Heiko Maas sprach von einer „dramatischen Situation“, nachdem sogar die Bundeswehr zu Hilfe gerufen werden mußte. Ausgerechnet vor dem 25. Jahrestag der Abschaffung der Grenzkontrollen im Rahmen des Schengen-Abkommens, das für grenzenlose Reisefreiheit steht, droht eine ernste Krise.
Angespannt ist die Lage aber nicht nur im Osten, sondern auch in Westeuropa, etwa an der deutsch-französischen Grenze. Die Übergänge zum Elsass waren am vergangenen Sonntag überraschend von Deutschland geschlossen worden. Das Elsass gilt als Corona-Notstandsgebiet; die Grenzkontrollen am Rhein erschweren nun dringend benötigte Hilfslieferungen.
Angespannte, aber stabile Lage
Keine Probleme gibt es dagegen bisher an den logistisch wichtigen Grenzen zu Belgien und den Niederlanden. Doch das könnte sich schon bald ändern, denn auch die Niederlande schotten sich nun ab. Wenn der Zugang zu wichtigen Seehäfen wie Antwerpen oder Rotterdam behindert wird, könnte die Versorgung im Ruhrgebiet und in Westdeutschland zum Problem werden.
Die Lage sei angespannt, aber stabil, heißt es beim Bundesverbands Spedition und Logistik (DSLV). „Wir haben keine Fälle, in denen die Logistik einen Aussetzer hat, um Industrie, Handel und Bevölkerung zu versorgen“, sagt DSLV-Hauptgeschäftsführer Frank Huster. Allerdings mache sich die Schließung mehrerer Grenzen für den Personenverkehr zunehmend beim Gütertransport bemerkbar.
„Die Grenzen sind für den Warenverkehr noch offen, aber die Kontrollen sorgen zum Teil für einen gigantischen Rückstau“, so Huster. Der Experte warnt vor einer Verschlechterung der Lage. "Wir erwarten für die Häfen in den nächsten Tagen und Wochen einen Rückgang von 75 Prozent des Containervolumens“. Den Einbruch werde Deutschland mit Verspätung zu spüren bekommen, dann aber umso schmerzlicher.
Freier Warenverkehr trotz der Grenzkontrollen
In einigen Wochen, so heißt es auch in Brüssel, könnte es tatsächlich ernst werden. Die Experten der EU-Kommission fürchten nicht nur Engpässe bei der Versorgung mit Lebensmitteln und medizinischen Hilfsgütern. Sie bangen auch um den europäischen Binnenmarkt, der auf dem ungehinderten Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Menschen beruht. Doch die Handlungsoptionen der EU-Kommission sind beschränkt.
Die Brüsseler Behörde könnte zwar Vertragsverletzungs-Verfahren gegen jene Staaten einleiten, die die Grenzen schließen und die EU-Regeln missachten. Doch seit sich auch Deutschland abschottet, ist das für von der Leyen keine Option mehr. Die Kommissionschefin, die sich lange gegen Grenzschließungen ausgesprochen hatte, macht gute Miene zum bösen Spiel und setzt nun auf freiwillige Abstimmung zwischen den nationalen Behörden.
So hat Brüssel die Mitgliedsstaaten aufgefordert, den freien Warenverkehr trotz der Grenzkontrollen zu garantieren. Anfang vergangener Woche legte die Kommission neue Richtlinien vor, die den „Fluss wichtiger Güter und Dienstleistungen“ gewährleisten sollen. „Nur so können wir einen Mangel an medizinischer Ausrüstung oder Lebensmitteln verhindern“, warnte von der Leyen.
Keine Lockerungen in Sicht
Brüssel fordert unter anderem, Sonderfahrspuren für Lkw einzurichten, damit diese an den Grenzen Priorität haben. Zudem verlangt die EU freien Grenzübertritt für Pendler, die im Gesundheits- und Nahrungsmittelsektor arbeiten. Auch „ihre eigenen Bürger und Bewohner“ müssten die EU-Staaten weiter ungehindert einreisen lassen. Doch der Appell aus Brüssel verhallte ungehört.
Von der Leyen versuchte es daher mit einem Trick – und versprach die Schließung der EU-Außengrenzen. Wenn sich ganz Europa abschotten würde, so ihr Kalkül, könnten die Mitgliedsstaaten auf Abgrenzung nach innen verzichten und die Kontrollen wieder lockern. Zuerst war Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron auf diese Idee gekommen, von der Leyen präsentierte ihn dann dem EU-Gipfel.
Doch das Kalkül ist nicht aufgegangen. Die Staats- und Regierungschefs haben zwar, wie gefordert, einen 30-tägigen Einreisestopp verhängt. Die innereuropäischen Grenzkontrollen, die bisher zwölf EU-Staaten gemeldet haben, wurden deshalb jedoch nicht gelockert oder gar aufgehoben. Immerhin die Staulage an der polinisch-deutschen Grenze hat sich nun entspannt. Aber generell lenkt nicht einmal Deutschland ein, das am meisten auf ausländische Zulieferungen angewiesen ist.
Wichtige Fracht kommt zu spät
Im Gegenteil: Berlin hat die Reisebeschränkungen sogar noch ausgeweitet. So dürfen nur noch Deutsche oder Reisende mit „einem dringenden Reisegrund“ per Flugzeug oder Schiff aus Österreich, Spanien, Italien, der Schweiz, Luxemburg und Dänemark nach Deutschland kommen. Auch die „kleinen“ Grenzübergänge nach Frankreich und Luxemburg werden geschlossen. Der grenzüberschreitende Zugverkehr in Saarbrücken ist schon eingestellt.
Was für ein Symbol! Im Rahmen des Schengen-Abkommens war vor 25 Jahren der Abbau der Grenzen beschlossen worden. Deutschland, Frankreich und Luxemburg machten den Anfang. Nun gehen ausgerechnet dort die Schlagbäume wieder runter. Europa macht die Schotten dicht, die Reisefreiheit wird wieder abgeschafft.
In normalen Zeiten würde die EU-Kommission nun laut Alarm schlagen. Doch es sind keine normalen Zeiten. Diese Krise kann von der Leyen nicht weglächeln. „Wichtige Fracht kommt zu spät“, sagte sie in einem Interview zum 25. Geburtstag des Schengen-Abkommens. „Wir müssen gemeinsam Lösungen finden, die unseren Binnenmarkt in Gang halten.“
Mehr fiel ihr nicht ein. Die „Macherin“ ist kleinlaut geworden - und hilflos.