Polizeigewalt und Antidiskriminierungsgesetz - „Die Kritiker sind meist ältere, weiße Männer“

Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) wehrt sich gegen Kritik von Horst Seehofer, das neue Antidiskriminierungsgesetz sei „Wahnsinn“. Der Bundesinnenminister habe sich von der Polizeigewerkschaft einwickeln lassen. Auch seine Parteivorsitzende Saskia Esken habe Fehler gemacht.

Berlins Innensenator Andreas Geisel / dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Andreas Geisel (SPD) ist gelernter Fernmeldetechniker und studierter Betriebswirt. Er war Bezirksbürgermeister von Lichtenberg, bevor er 2014 Senator für Stadtentwicklung und Umwelt wurde. Seit 2016 ist er Senator für Inneres und Sport in Berlin.

Herr Geisel, nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd in den USA hat Ihre Parteichefin Saskia Esken behauptet, auch in der deutschen Polizei gebe es latenten Rassismus. Teilen Sie ihre Einschätzung?
Im Nachgang hat sich Frau Esken differenzierter geäußert. Ich sage: Wir müssen uns vor die Menschen stellen, die den Eid auf unsere Verfassung abgelegt haben. Man muss die Dinge aber auch beim Namen nennen. Zu behaupten, wir hätten in Deutschland kein Problem mit Rechtsradikalismus und Rassismus in der Polizei, stimmt so eben auch nicht. Die Polizei ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. Aus Sicht der Betroffenen ist es leider so, dass man häufiger von der Polizei kontrolliert wird, wenn man anders aussieht.

Aber Frau Esken hatte zunächst suggeriert, es gebe einen strukturell bedingten Rassismus in der Polizei.
Das geht mir entschieden zu weit. Unsere Polizisten treten für Recht und Gesetz ein, ungeachtet der Herkunft oder Hautfarbe. Saskia Eskens Aussage erfolgte im Zusammenhang mit dem Tod von George Floyd. Ein Zusammenhang zwischen der Polizei in den USA und der Polizei in Deutschland ist aber so nicht herzustellen. Der Zeitpunkt für diese Aussage war unglücklich. Es wäre besser gewesen, sich vorher mal mit den Innenpolitikern der eigenen Partei zu beraten

Ist Rassismus in der Polizei so stark verankert, dass das Land Berlin seine Bürger davor nun mit einem Antidiskrimierungsgesetz schützen muss?
Nein. Es gibt seit 2006 das bundesweit gültige Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), darüber regt sich keiner mehr auf. Das Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) schließt eine Lücke. Wer lesen könnte, würde feststellen, dass vieles, was öffentlich behauptet wird, gar nicht im LADG drinsteht, zum Beispiel, dass sich die Beweislast umgekehrt habe.

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Aber genau das wirft die Polizeigewerkschaft dem Senat vor.
Das wird aber nicht wahrer, indem man es permanent wiederholt. Faktisch ist es nicht so. Die Vermutungsregelung im LADG ist vergleichbar bereits im AGG geregelt, das seit 14 Jahren angewandt wird. Auch der Vorwurf, wir würden die Polizei anderer Länder für Schadensersatz in Anspruch nehmen, stimmt nicht. Nach Paragraph 8 des LADG ist das ausgeschlossen.

Hat sich die SPD von ihren Koalitionspartnern mit dem Gesetz vorführen lassen? 
Nein, wir haben darüber intensive Auseinandersetzungen im Senat geführt. Das Gesetz wurde anders beschlossen als vor drei Jahren in die Beratung eingebracht. Alle öffentlichen Angriffe beziehen sich aber auf die Entwurfsfassung des LADG. Der Entwurf war so nicht beschlussfähig. Deswegen haben wir ihn von SPD-Seite auch verändert.

Wozu braucht das Land Berlin ein Antidiskriminierungsgesetz, wenn der Bund schon eines hat?
Das AGG auf Bundesebene regelt zivilrechtliche Fragestellungen, beim LADG geht es um das Verhältnis von Bürgerinnen und Bürgern mit behördlichen Stellen. Es geht darin übrigens nicht nur um die Polizei. Es umfasst die gesamte öffentliche Verwaltung und alle öffentlichen Stellen des Landes Berlin, zum Beispiel auch Hochschulen oder Bürgerämter. Das Gesetz ist Teil der Koalitionsvereinbarung dieses Senats. Es ist von unserem grünen Koalitionspartner eingebracht worden. Wir haben es in drei Jahren passend gemacht. Damals habe ich die Notwendigkeit nicht gesehen. Wenn ich mir die aktuellen Reaktionen darauf anschaue, frage ich mich allerdings, ob wir es nicht doch brauchen.

Warum?
Die Kritiker sind meist ältere weiße Männer, die behaupten, das sei nicht notwendig. Ja, sie werden ja auch nicht diskriminiert. Die sind nicht unsere Zielgruppe. In unserer Stadt haben 35 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund – das sind immerhin 1,3 Million Menschen. Wenn die uns von ihren täglichen Wahrnehmungen und Erlebnissen berichten, die alte weiße Männer allesamt nicht haben, dann müssen wir das ernst nehmen.

Sogar der Bundesinnenminister hat gesagt, das Gesetz sei „im Grunde ein Wahnsinn“.
Auch seine Kritik bezieht sich auf die Entwurfsfassung. Das habe ich ihm in einem langen Brief erläutert. Es ist eine seltsame Erregungsdiskussion, die gerade stattfindet und in der sämtliche Fakten ignoriert werden. Ich bespreche das nächste Woche mit den Kollegen bei der Innenministerkonferenz. Da ist Herr Seehofer ja auch mit dabei. Ich nehme den aktuellen Gesetzestext des LADG sicherheitshalber mit. Nicht alle Kollegen, die sich dazu äußerten, haben die vom Berliner Abgeordnetenhaus beschlossene Fassung vorher gelesen.

Die Polizei rechnet damit, dass die Arbeit im Görlitzer Park jetzt noch schwieriger wird, weil Drogendealer mit Blick auf das neue Gesetz behaupten könnten, sie seien nur wegen ihrer Hautfarbe kontrolliert worden.
Ich bin nicht blauäugig. Es wird diese Versuche geben. Aber die werden allesamt erfolglos sein. Wenn jemand mit Drogen handelt, handelt er mit Drogen. Da spielt die Herkunft keine Rolle. Eine Kontrolle von Drogendealern ist keine Diskriminierung, sondern Strafverfolgung. Ich kann Ihnen versichern: Die Politik und die Polizeibehörde werden diese Versuche zurückzuweisen und sich schützend vor die Kolleginnen und Kollegen stellen.

Am vergangenen Wochenende haben 15.000 Menschen auf dem Alexanderplatz gegen Rassismus demonstriert, ohne dass der Sicherheitsabstand eingehalten wurde. Hat die Polizei vor den Menschen kapituliert?
Die Polizei kapituliert nicht. Ich möchte an unsere Grundrechte erinnern. Artikel 8 des Grundgesetzes sieht die Versammlungsfreiheit vor. Dieses Grundrecht haben wir in der Coronazeit von März bis Mai stark beschränkt. Darüber gab es heftige Debatten. Viele haben sich gefragt: Ist das überhaupt rechtens? Als die Infektionszahlen sanken, haben wir die Grundrechte wieder in Kraft gesetzt.

Meinen Sie mit „wir“ die Grünen und die Linken?
Nein, ich meine die SPD, die mit den Grünen und Linken den Senat bildet. Eine weitere treibende Kraft war die Justiz, die die Einschränkung der Grundrechte nach Gerichtsurteilen in Frage gestellt hat. Jetzt gelten die Grundrechte wieder…

… aber der Sicherheitsabstand gilt nicht mehr?
Doch, der ist sogar in der geltenden Corona-Eindämmungsverordnung festgeschrieben. Das Problem am letzten Wochenende war, dass die Veranstalterin der Demo auf dem Alex eine Demo für 1.500 Menschen angemeldet hatte. Gekommen sind aber 15.000. Darauf hat die Berliner Polizei angemessen reagiert, zum Beispiel, indem sie die Fläche der Demo erweitert und deutlich über den Alexanderplatz hinausgegangen ist. Aber die Sicherheitsabstände waren am Ende nicht realisierbar.

Wieso haben Sie die Demo nicht aufgelöst?
Das ist geschehen. Darum hat die Polizei die Veranstalterin gebeten, und das hat sie nach den Gedenkminuten für George Floyd auch getan. Hätte die Polizei die Demo vorher aufgelöst, im schlimmsten Fall noch mit Wasserwerfern, wäre es sicher zu Ausschreitungen gekommen. Wäre das angemessen gewesen? Die Polizei hat sich dagegen entschieden. Ich finde das richtig.

An diesem Sonntag will das Bündnis „Unteilbar“ gegen Rassismus und soziale Ungerechtigkeit demonstrieren. Welche Lehren ziehen Sie aus Ihren Erfahrungen vom Wochenende?
Die Veranstalter der Demonstrationen müssen den Ort so auswählen, dass die Mindestabstände gewahrt werden können. Am Sonntag heißt das für die Unteilbar-Demo, dass sich die geplante Menschenkette über eine Fläche verteilen kann, die solche Ballungen wie am Alexanderplatz unmöglich macht. Daran arbeitet die Versammlungsbehörde gerade mit dem Veranstalter. Außerdem ist das Tragen eines Mund-Nasenschutzes für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer verbindlich.

Sie sind jetzt seit vier Jahren Innensenator von Berlin und gelten als Law & Order-Mann. Auf einer Skala von null bis Herbert Reul, wo sehen Sie sich selbst?
Ich hab mich am Anfang gefragt: Wie füllst Du die Rolle als Innensenator aus? Entweder, man ist schärfer als die CDU es je hätte sein können – so wie Otto Schily. Oder man macht alles nur halb so stark, wie es ein CDU-Innensenator machen würde. Beides ist falsch, denn beides bezieht sich auf eine konservative Definition von Politik. Ich finde, man muss einen eigenen Weg gehen.

Und wie sieht Ihr Weg aus?
Ich habe die Polizei wieder arbeitsfähig gemacht, habe die Ausstattung verbessert, mehr Personal eingestellt, die Besoldung erhöht und die Technik verbessert. Ich versuche Augenmaß zu bewahren und nicht übers Ziel hinauszuschießen, scheue mich aber auch nicht, Dinge beim Namen zu nennen. Die Bekämpfung der Clankriminalität zum Beispiel habe ich enttabuisiert und dadurch intensiviert. Ich stehe zu allen Freiheiten, die Berlin bietet, aber in einer heterogenen und multikulturellen Stadt wie unserer kann man nur zusammenleben, wenn Regeln befolgt werden und mit Toleranz gearbeitet wird.

Wer in der Zeit der strengen Coronabeschränkungen durch die Parks gelaufen ist, hatte den Eindruck, dass das unmöglich ist. Schon damals hat sich kaum einer an die Regeln gehalten.
Das stimmt so nicht. Die Menschen haben am Anfang der Polizei sogar applaudiert, als sie in Parks per Lautsprecher auf die Einhaltung der Regeln aufmerksam machte.

Sie sind ein Kind der DDR und waren auch Mitglied der SED. Wie sind Sie zur Sozialdemokratie gekommen?
Aus der SED bin ich aber schon vor Mauerfall wieder ausgetreten. Zur Sozialdemokratie kam ich durch Helmut Schmidt, den habe ich im Westfernsehen bewundert.

Wofür?
Für seine Klarheit, für sein Arbeitsethos, die intellektuelle Schärfe, den Vorsatz, das Land sozial zusammenzuhalten. Das klingt seltsam, aber ich bin tatsächlich durchs Fernsehen zum Sozialdemokraten geworden.

Ihre eigene Erfolgsbilanz steht im Gegensatz zum schlechten Ruf der Berliner SPD. Woher rührt der?
Hätten Sie mich das vor vier Monaten gefragt, hätte ich gesagt: Darüber wird intensiv diskutiert. Aktuell hat Michael Müller eine Zustimmungsrate von über 50 Prozent und die SPD von 20 Prozent. Vor der Krise lag sie bei 15 Prozent. Natürlich muss die SPD  weiter zulegen, daran gibt es keinen Zweifel.

Gelingt ihr das, wenn es zu einer Fortsetzung von Rot-Rot-Grün kommen sollte, die dann aber Grün-Rot-Rot heißt?
(lacht) Nein, Rot-Rot-Grün ist schon die richtige Reihenfolge. Wissen Sie, ich habe die letzten zwei Jahre der schwarz-roten Koalition mitgemacht. Zum Schluss hat sie sich nicht mehr bewegt. Sie hat sich gegenseitig gelähmt. Alles, was wir auf den Weg gebracht haben, hat die CDU blockiert. Dagegen ist Rot-Rot-Grün handlungsfähig. Wir treffen Entscheidungen – wenn auch manchmal umstrittene.

Legt die SPD auch zu, wenn Michael Müller seine Drohung wahrmacht und für weitere vier Jahr Regierender Bürgermeister bleibt?
Das ist seine Entscheidung.

Könnte Franziska Giffey als seine Nachfolgerin mehr Menschen binden? 
Wer einmal mit ihr zusammen in einem Saal war und gesehen hat, wie sie Menschen anspricht, wird das mit Ja beantworten. Sie ist eine Menschenfängerin. Aber Michael Müller wird unterschätzt. Was er mit Moment leistet, ist großartig.

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt

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