Politik und Wissenschaft in der Pandemie - Demokratie ist keine Notlösung

Wie notwendig ist Demokratie in modernen Gesellschaften noch, wenn politische Entscheidungen aufgrund von Daten und mathematischen Modellen getroffen werden? Diese Frage wird sich auch nach der Corona-Pandemie häufiger stellen.

Deutschland im Lockdown: Geschlossene Geschäfte und offene Fragen / dpa
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Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Demokratie ist eine Staatsform für Ahnungslose. Zumindest drängt sich dieser Verdacht auf, wenn man die öffentlichen Debatten der letzten Monate verfolgt. Die politisch Handelnden, so hat man den Eindruck, sind in Alternativlosigkeiten gefangen, die das epidemiologische Geschehen vorgibt. Wozu Abstimmungen? Wozu Demokratie? Die Fakten diktieren doch, was zu tun ist. Oder etwa nicht?

Nein, natürlich nicht. Denn Fakten diktieren nichts. Und Krankheiten machen keine Vorgaben. Es sind Menschen, die sich durch die Ereignisse zu Entscheidungen genötigt fühlen. Der Zwang entsteht in den Köpfen, nicht in der Welt. Die unter Politikern und manchen Wissenschaftlern so beliebte Rhetorik von der Pandemie, die das Handeln festlege, ist unehrlich. Sollte ein Entscheidungsträger tatsächlich dieser Ansicht sein, ist er fehl am Platz. Und auch die schöne Taktik, sich hinter den Ereignissen zu verstecken, um subjektiven Entscheidungen den Anstrich des Objektiven zu geben, ist nicht besser.

Die Pandemie gibt den Takt vor

Zu welchen rhetorischen Verrenkungen diese Flucht ins scheinbar Unabwendbare führen kann, durften die Eltern bayerischer Schüler am vergangenen Donnerstag erleben. Da erreichte sie nämlich ein Brief des Kultusminister Michael Piazolo, in dem dieser die Erziehungsberechtigten über die Aufrechterhaltung des Distanzunterrichtes bis zum 12. Februar informierte. Wann die Kinder wieder in die Schule dürfen, ließ der Staatsminister allerdings offen. Begründung: „Den Takt unserer Entscheidungen bestimmt aber nach wie vor die Pandemie.“

Nun spricht sicher nichts dagegen, epidemiologische Entscheidungen von der Lage der Dinge abhängig zu machen. Kein Mensch bei Verstand würde hier widersprechen. Doch dass die Pandemie den Takt der Entscheidungen vorgibt, wie es das staatsministerielle Schreiben so hübsch formuliert, bedeutet nichts anderes, als dass man keinen Plan hat und sich von den Dingen treiben lässt.

Nun ist Planungsfetischismus zwar auch keine Lösung. Aber politisch Verantwortliche sollten schon in der Lage sein, den Geschehnissen nicht hinterherzuhecheln, sondern eine Strategie vorzugeben, die sich nicht von jeder neuen Statistik verunsichern lässt. Piazolos Darstellung, nicht das bayerische Kabinett oder gar das demokratisch gewählte Parlament sei Herr der Corona-Maßnahmen, sondern die Infektionskrankheit selbst, zeugt von einer erschreckenden Entpolitisierung des Politischen. Und einer Entdemokratisierung der Demokratie.

Notlösung für vorwissenschaftliche Gesellschaften

Wenn jedoch nicht alles täuscht, sind wir als Gesellschaft gut beraten, uns mit dieser Art von Denken auseinanderzusetzen. Wir werden es in Zukunft öfter hören. Und es hat ja auch eine gewisse Plausibilität. Denn in der Vergangenheit beruhten demokratische Entscheidungen nahezu immer auf normativen Erwägungen: Ob man Krieg führt oder nicht, ob man für höhere Steuern ist oder für niedrigere, für umfangreiche Sozialausgaben oder dagegen: All diese Fragen haben keinen wissenschaftlichen Charakter. Die Antworten auf sie sind nicht wahr oder falsch. Wie man sich entscheidet, hängt vom eigenen Wertesystem ab.

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts, nicht zuletzt forciert durch die gewaltigen Rechenkapazitäten moderner Computer, werden unsere modernen Gesellschaften jedoch zunehmend mit Fragen konfrontiert, deren Lösungen sich im Prinzip berechnen lässt – oder zumindest Berechenbarkeit suggerieren. Deutlich wird das an der Klimapolitik und der Corona-Debatte. Hierbei scheint es sich um rein empirische Probleme zu handeln, deren Lösung anhand von Daten und mathematischen Modellen berechenbar ist. Wozu soll man da noch abstimmen? Und worüber? Wird Demokratie im hochwissenschaftlichen Zeitalter zum Anachronismus? War sie eine Notlösung für vorwissenschaftliche Gesellschaften, die es nicht besser wussten?

Politik funktioniert anders

Die Frage ist polemisch. Es ist aber absehbar, dass wir diesem Problem in den nächsten Jahren häufiger begegnen werden. Denn tatsächlich hat es etwas Bestechendes, politische Entscheidungen nicht auf das Halbwissen oder die Vorlieben von Laien zu stützen, sondern auf Tatsachen. Wer einen Kupplungsschaden hat, lässt über die notwendige Reparatur ja auch nicht unter Leuten abstimmen, die kaum wissen, wo bei einem Autor der Motor sitzt, sondern geht zum Fachmann. 

Doch Politik funktioniert anders. Hier geht es nicht um die Wahrheit oder um objektive Vernunft. Selbst wenn es die gäbe: Freiheitliche Gesellschaften haben das Recht, unvernünftige, ja unwissenschaftliche Entscheidungen zu treffen. Sonst wären sie nicht mehr freiheitlich. Schon der zwanglose Zwang des besseren Argumentes ist aus freiheitlicher Sicht problematisch. Der zwanghafte Zwang der wissenschaftlichen Fakten jedoch wäre das Ende jeder Freiheit.

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