Plagiatsvorwürfe gegen Baerbock - Alles nur geklaut?

Annalena Baerbock soll für ihr gerade erschienenes Buch Textpassagen von anderen Autoren übernommen haben. Hat die grüne Kanzlerkandidatin geschummelt wie Guttenberg und Giffey?

Annnalena Baerbock am 17. Juni bei der Vorstellung ihres Buchs in Berlin / dpa
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Je näher wichtige Wahlen rücken, desto größer wird die Zahl von Büchern, deren Halbwertszeit über Monate oder gar Wochen nicht hinausgeht dann landen sie im Altpapier. Derartige Werke heißen „Was mir wichtig ist“ (Martin Schulz, wissen Sie noch? Sozialdemokrat, wollte 2017 Kanzler werden), „Neue Zeit. Neue Verantwortung“ (Friedrich Merz 2020) oder nun eben „Jetzt: Wie wir unser Land erneuern“ von Annalena Baerbock. Armin Laschet darf man wohl dankbar dafür sein, dass er ganz offensichtlich auf ein derartiges Buch verzichtet, er ist da allerdings auch ein gebranntes Kind, zudem wäre in einem Wahlkampf der Kategorie „Sie kennen mich“, wie ihn Laschet führt, ein Vorstellungsbuch auch einigermaßen unlogisch.

Gleicher Ghostwriter wie bei Heiko Maas

Das Genre des Wahlkampfbuchs ist meist bemüht locker geschrieben, es soll den Kandidaten von seiner menschlichen Seite präsentieren und ist inhaltlich ein Ritt von Rentenpolitik bis zu den Beziehungen mit Russland. Meist wird das Buch von Ghostwritern verfasst. Im Fall von Baerbock steckt dahinter der freie Autor Michael Ebmeyer, der das Buch auf Basis seiner Interviews mit der Politikerin schrieb. Ebmeyer war schon 2017 Co-Autor (also de facto Autor) für Heiko Maas‘ Buch „Aufstehen statt wegducken. Eine Strategie gegen Rechts“, das ebenfalls in die Kategorie „Halbwertszeit wenige Monate“ gehört.

Um die 240 Seiten der 40-jährigen Baerbock, die für die Grünen das Kanzleramt erobern will, ist nun kurz nach der Veröffentlichung ein emotionsgeladener Streit entbrannt: Der österreichische Medienwissenschaftler Stefan Weber hat mehrere Stellen entdeckt, die er unter Plagiatsverdacht stellt. Weber war auch führend daran beteiligt, die Fehler in Baerbocks Lebenslauf offenzulegen.

Heftige Gefechte in den sozialen Netzwerken

In den sozialen Netzwerken prügeln seitdem Baerbock-Verfechter und politische Gegner aufeinander ein: Die einen sprechen von Rufmord und mokieren sich gar darüber, dass in der Tagesschau über die Vorwürfe berichtet werde, die anderen heben die Vorwürfe auf eine Ebene mit den Plagiatsskandalen um die Dissertationen von Guttenberg und Giffey – und stellen grundsätzlich die Kanzlerabilität Baerbocks in Frage.

Vorab: Bücher dieser Art sind Publizistik und keine wissenschaftlichen Arbeiten. Im Fall von „Jetzt“ gibt es nicht nur kein Quellenverzeichnis am Ende, nein, es gibt keinerlei Quellennachweise. Das ist für ein Buch dieser Art im Prinzip in Ordnung. Dennoch gelten auch für „Jetzt“ die Regeln der Journalistik: Es muss korrekt zitiert werden, fremde Gedanken müssen als solche kenntlich gemacht werden. Ansonsten handelt es sich um Verletzungen des Urheberrechts.

Wiedergabe von Fakten

Die fünf Beispiele, die der Medienwissenschaftler Weber in Baerbocks Buch gefunden hat, bieten wenig Angriffsfläche: In drei Fällen handelt es sich ganz einfach um die Wiedergabe von Fakten. Ein Beispiel aus dem Buch: „Insgesamt zehn Staaten traten an diesem Tag der Europäischen Union bei: die baltischen Staaten und ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen, außerdem Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, die frühere jugoslawische Teilrepublik Slowenien sowie die beiden Mittelmeerstaaten Malta und Zypern. Die EU wuchs von 15 auf 25 Mitglieder – und begrüßte damit rund 75 Millionen neue Unionsbürger*innen.“

Die Passage findet sich fast wortgleich in einer Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) von 2019. Einziger Unterschied, und das ist schon fast komisch: Bei der BpB heißt es Unionsbürgerinnen und -bürger, bei Baerbock steht dafür das Gendersternchen. Hier ist wie in den anderen zwei „Fakten“-Beispielen keine Urheberrechtsverletzung zu erkennen. Es handelt sich um die Wiedergabe von Tatsachen.

Ein geklauter Absatz

Etwas anders ist die Sache bei einem Absatz gelagert, der sich mit einer Studie der amerikanischen Denkfabrik CNA von 2007 beschäftigt, die den Klimawandel erstmals als Sicherheitsrisiko für die USA definierte. Mit wenigen Änderungen hat Baerbock hier Formulierungen aus einem Aufsatz des amerikanischen Politikwissenschaftlers Michael T. Klare von 2019 übernommen. Das ist kritikwürdig, aber so viel Ehrlichkeit muss sein, es handelt sich am Ende um genau einen Absatz.

Das letzte Beispiel betrifft ein angebliches Abschreiben von Wikipedia, das aber nur mit viel Mühe zu erkennen ist: „Gemeinsam mit anderen EU-Staaten und Ländern wie Kanada, die sich bereits auf den Weg gemacht haben, sollte die nächste Bundesregierung daher Kriterien für die Ermittlung eines vergleichbaren und objektiven Wohlstandsindikators entwickeln“, also einen Ersatz für das als zu eindimensional gesehene Kriterium Bruttoinlandsprodukt (BIP). Das steht so im Wahlprogramm der Grünen und ist eine Forderung, die auch unter Wirtschaftswissenschaftlern inzwischen common sense ist.

Baerbocks schmaler Grat

Das führt uns zu Webers letztem Vorwurf: „Zahlreiche Sätze und Absätze wurden überdies das gesamte Buch hinweg fast wörtlich aus dem Parteiprogramm der Grünen übernommen.“ Das ist für eine Kanzlerkandidatin im Wahljahr wenig verwunderlich – führt allerdings zu der grundsätzlichen Frage: Wozu dieses Buch kaufen und lesen, wenn man auch umsonst das Wahlprogramm von der Internet-Seite der Grünen herunterladen kann?

Nun also: Hat Baerbock geschummelt? Wenn Plagiatsjäger in den nächsten Tagen nicht mehr und vor allem Gravierenderes finden, ist die Frage mit Nein zu beantworten. Durfte die Tagesschau über den Vorwurf berichten? Diese Frage ist klar mit Ja zu beantworten. Steht angesichts der Plagiatsvorwürfe Baerbocks Kanzler-Befähigung in Frage? Darüber wird die Souveränität Baerbocks Antwort geben, mit der sie auf die Vorwürfe reagiert. Denn eines gilt für Laschet, Scholz und jedweden Bewerber gleich welchen Geschlechts und welcher Partei: Auf dem schmalen Grat, der ins Kanzleramt führt, weht ein sehr harter Wind.

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