Das Parlament und die Corona-Maßnahmen - Ein Untersuchungsausschuss wird das Virus nicht beeindrucken

Der Journalist Heribert Prantl warf in dieser Woche dem SPD-Abgeordneten Karl Lauterbach vor, der Bundestag agiere in der Coronakrise zu wenig und überlasse der Regierung die Entscheidungen. Prantl hat offensichtlich den Verfassungsstaat falsch verstanden.

Karl Lauterbach und Angela Merkel im Bundestag / dpa
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Karl Lauterbach entwickelt sich zunehmend zum Buhmann der Republik. Nüchtern und unbeirrt näselt er sich durch eine Talkshow nach der anderen und warnt vor den Entwicklungsdynamiken der Corona-Pandemie. Wenn er recht hat, steht die dritte Welle nicht nur bevor, sondern ist bereits in vollem Gange, während die zweite noch gar nicht ganz verschwunden ist. Fast wirkt es, als hätte er sich in der Funktion des wissenschaftlichen Referenten der Bundeskanzlerin behaglich eingerichtet. 
 
Diese Nüchternheit bringt immer mehr Menschen gegen ihn auf. Zu ihnen gehört auch der ehemalige Richter, Staatsanwalt und Journalist der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl. Gegen den Buhmann der Nation brachte er sich jüngst bei Markus Lanz als deren Oberlehrer in Stellung. Die Bilanz der deutschen Politik zur Bewältigung der Pandemie ist für ihn katastrophal: falsche Entscheidungen, zu späte Entscheidungen und vor allem ein Totalversagen des Vertreters des Souveräns, des Deutschen Bundestages.

Keine konkreten Vorschläge

Für Prantl steht dabei nicht weniger als die „Existenz des freiheitlichen Verfassungsstaates“ zur Disposition. Die durch politische Entscheidungen herbeigeführten Grundrechtseinschränkungen tasteten den „Wesenskern des Grundgesetzes“ an und hätten zu „furchtbaren Verletzungen der Menschenwürde“ geführt. Da bleibe ihm der Atem stehen. Und das Parlament? Das begleite die Maßnahmen der Regierung so, als ob es in einem Schlafwagen führe. Und das Bundesverfassungsgericht schaue auch nur zu.
 
Konkrete Vorschläge, was man denn besser und anders machen könnte, hatte Prantl allerdings nicht zu bieten. Er zog sich stattdessen aufs Prozedurale zurück. Es müsse einen Untersuchungsausschuss des Bundestages zu den politischen Fehlentscheidungen in der Corona-Pandemie geben und vor allem müsse der Bundestag die Entscheidungskompetenzen endlich an sich ziehen. Das Parlament hätte umgekehrt „den Löffel abgegeben an die Exekutive. Die Exekutive hat die Verordnungen gemacht, Sie hätten sie machen sollen als Bundestag. Sie sind der Souverän, Sie haben nicht agiert!“, warf Prantl dem Abgeordneten Lauterbach sichtlich erregt vor.

Das war eine erstaunliche Volte, die vor allem auf politiktheoretischen Illusionen basiert. Für Prantl steht das Parlament als Volk en miniature im Zentrum des demokratischen Verfassungsstaates. In ganz rousseauistischer Manier scheint in ihm als Quelle politischer Legitimität der Volksgeist höchst persönlich zu hausen. Anders kann man gar nicht erklären, warum er sich ausgerechnet vom Parlament die Übernahme der Entscheidungsführerschaft erwartet.

Der Verfassungsstaat funktioniert anders

Der demokratische Verfassungsstaat funktioniert freilich ganz anders. Das Gravitationszentrum des Politischen ist nicht das Parlament, sondern die Regierung, sind nicht die Disputierer, sondern die Entscheider. Das Parlament ist nicht deshalb das höchste Staatsorgan, „weil es die Regierung führt, sondern weil es die Regierung kontrolliert“ (Ernst Fraenkel). Schon die Bezeichnungen „Legislative“ und „Exekutive“ stellen das unmissverständlich klar: Der eine setzt einen allgemeinen Rahmen, der andere füllt ihn durch konkrete Entscheidungen aus.

Ein Blick ins Gesetz erleichtert noch immer die Rechtsfindung: Artikel 80 des Grundgesetzes sieht es ausdrücklich vor, dass das Parlament das Ausfertigen von Verordnungen der Regierung überlassen kann. Dies ist kein Ausnahmetatbestand, sondern in der Verfassungswirklichkeit der Regelfall. Und das aus gutem Grund: Während ein Gesetz nur den allgemeinen Rahmen feststecken soll, gestalten Verordnungen diesen Rahmen konkret aus. Dazu braucht es tiefgreifende Detailkenntnisse in allen möglichen Sachgebieten. Der Bundestag müsste eine omnipotente Gegenverwaltung aufbauen, um auch nur annähernd leisten zu können, was die Regierung zu bewältigen vermag. Dass im demokratischen Rechtsstaat die Verfassungsinstitutionen verschiedene Aufgaben wahrnehmen, nennen wir seit Montesquieu „Gewaltenteilung“.

Der „Volkswille“ wird durch Diskurse fabriziert

In Wahrheit wäre der Gleichschritt von Volk, Parlament und Regierung ein ziemlich handfestes Problem. Der Sinn einer Regierung besteht ja gerade darin, dass sie die öffentlichen Angelegenheiten im bestmöglichen Sinne für uns regelt. Das hat eine paradoxe Konsequenz: „Gerade in den besten Fällen werden dem Volk Resultate vorgelegt, an die es niemals gedacht und die es nicht im Voraus gebilligt hätte.“ (Joseph Schumpeter)

Der „Volkswille“ ist nicht immer schon gegeben, sondern wird durch Diskurse sozial fabriziert. Im Konkreten geht er vor allem in Ausnahmesituationen den politischen Entscheidungen nicht voraus, sondern wird durch öffentliche Gegenüberstellung der Positionen von Regierung und Opposition nachträglich gebildet. Gelingt der Regierung dieser Vermittlungsprozess auf Dauer nicht, steht sie vor ihrer Ablösung.

„Eine gute Parlamentsdebatte vibriert“

Das Coronavirus wird sich weder von einem Untersuchungsausschuss noch davon beeindrucken lassen, dass das Parlament an die Stelle der Regierung tritt. Es würde sich höchstens darüber freuen, weil es so Zeit gewönne, um sich weiter auszubreiten und die dritte Welle aufzubauen. Ausgerechnet das Parlament zum game changer der Pandemie hochzustilisieren, verkennt die Realitäten der Verfassungswirklichkeit.

Aber immerhin eine zentrale Funktion bliebe dem Parlament, genauer gesagt: der Opposition, im Rahmen der Bewältigung der Pandemie, nämlich die Kontrolle der Regierung durch öffentliche Diskussion: „Ich glaube tatsächlich“, sagt Prantl emphatisch, „dass das Parlament ein Kristallisationspunkt ist für die Debatten. Eine gute Parlamentsdebatte vibriert, eine gute Parlamentsdebatte vibriert auch in der gesellschaftlichen Rezeption.“ Karl Lauterbach kann da nur schmunzeln.

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