Höhenflug der SPD - Im Schlafwagen ins Kanzleramt?

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz beweist, dass man es im Wahlkampf 2021 mit Abwarten und Nichtstun sehr weit bringen kann. Mit dieser Taktik zeigt er nicht nur der SPD, dass Parteitagsbeschlüsse mehr und mehr unwichtig werden. Wähler vertrauen am Ende nicht den Programmen, sondern Menschen.

Olaf Scholz (SPD), Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten / dpa
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Noch im Jahr 2019 vermittelte die SPD den Eindruck, eine Partei mit Lust am eigenen Untergang zu sein. Man erinnere sich: Die Sozialdemokraten stritten seinerzeit leidenschaftlich, selbstzerfleischend und vor allem öffentlich über sich selbst und den weiteren Verbleib in der Großen Koalition.

Sinnbild dieser Auseinandersetzung war die Abstimmung der SPD-Parteimitglieder über die künftige Parteispitze. So laut die linken Kritiker der Großen Koalition in der SPD, allen voran Juso-Chef Kevin Kühnert, allerdings auch waren, so knapp fiel letztlich die Abstimmung aus: Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken setzten sich gegen Olaf Scholz und Klara Geywitz mit nur 53,6 zu 45,3 Prozent durch. 

Wäre es nach der guten alten sozialdemokratischen Tradition öffentlicher Selbstzerfleischung gegangen, wäre dies nur eine weitere Etappe im erwartbaren Siechtum der ältesten deutschen Partei gewesen. Alles sprach seinerzeit dafür, dass Anhänger und Kritiker der Großen Koalition, dass Realos und Fundis, Linke und Rechte weiter aufeinander losgehen würden. Aber es geschah etwas Erstaunliches. Es geschah nämlich nichts. In einem Interview mit der FAZ brachte der Ministerpräsident von Hessen, Volker Bouffier (CDU), die Sache treffend auf den Punkt: „Der SPD gelingt derzeit etwas, was ihr seit 20 Jahren nicht gelungen ist: Alle schweigen“.

Vom Pfeffersack zum Keynesianer

Plötzlich also wurde es ruhig in der Partei. Man wird diese Erstaunlichkeit dabei vor allem drei Männern zuschreiben müssen: dem Parteivorsitzenden Walter-Borjans, Vizekanzler Olaf Scholz und dem neuen SPD-Vize Kevin Kühnert. Walter-Borjans verzichtete auf herausfordernde öffentliche Auftritte und konzentrierte sich auf das Machtmanagement im Inneren. Er überließ damit Scholz stets die öffentliche Bühne. Der Vizekanzler zog sich nicht beleidigt in die Ecke zurück, sondern machte in seiner Finanzpolitik zunehmend Kompromisse in Richtung des linken Parteiflügels. Ausgerechnet die Corona-Krise kam ihm dabei zupass. Was angesichts einer ansonsten vor dem Zusammenbruch stehenden deutschen Wirtschaft ohnehin eher den Charakter einer Naturgewalt als einer politischen Entscheidung im eigentlichen Sinne hatte, nämlich das Wirtschaftssystem mit geborgtem Geld zu fluten, brachte ihm in der sozialdemokratischen Linken hohe Anerkennung ein.

Diese bloße Notoperation wurde bei den GroKo-Kritikern fortan als Schwenk des Hamburger Pfeffersacks zu einer keynesianischen Fiskalpolitik umgedeutet. Und der ehemalige Juso-Chef und profilierteste SPD-Linke Kühnert fungierte bei der Verkündigung der Kanzlerkandidatur für die SPD als Knautschzone gegen linken innerparteilichen Protest. Nur Saskia Esken scherte immer wieder mit teils irrlichternden öffentlichen Beiträgen aus. Mittlerweile konzentriert auch sie sich vor allem darauf, am besten einfach nichts zu tun.

Was in anderen Parteien machtpolitisch undenkbar wäre, nämlich dass die Spitzenämter in Partei und Regierung nicht in ein und derselben Hand liegen, ist in Wahrheit die große Sehnsucht der sozialdemokratischen Seele und ein Psychotherapeutikum. Man will die Welt freilich besser, sich aber ideologisch auch nicht die Hände schmutzig machen. Solange es für die SPD keine absolute Mehrheit gibt, lebt das demokratische Regierungsgeschäft von Kompromissen, die mitunter weh tun können. Wer diese Schmerzen trotz Beteiligung an der Macht vermeiden will, greift zur Möglichkeit einer gespaltenen Identität: Die Trennung maßgeblicher Partei- und Regierungsämter schenkt den Mitgliedern der SPD das gute Gewissen, stets nur die ideologisch richtigen Beschlüsse fassen zu müssen. Die sozialdemokratischen Regierungsmitglieder wiederum werden so zu bloßen Opfern einer fehlenden absoluten, sozialdemokratischen Mehrheit. Und so werden alle irgendwie Leidensgenossen im Geiste. Man würde die Welt ja noch besser machen, als sie ist, wenn man denn könnte. Man kann es aber nicht. Und Schuld daran sind die anderen.

Mit Abwarten zum Erfolg

Trotz all der neuen sozialdemokratischen Ruhe wollte sich an der politischen Stimmung im Lande lange nichts Gravierendes ändern. Über Monate und Monate hinweg dümpelte die SPD abgeschlagen bei Umfragewerten zwischen 14 und 17 Prozent dahin und lag damit bei der Wählergunst nur auf Platz drei. Der Wind aber hat sich gehörig gedreht. Die Union erreicht bei aktuellen Umfragen nur noch rund 20 Prozent, die SPD liegt mit 25 Prozent erstmals seit rund 20 Jahren auf Platz 1 und Kanzlerkandidat Scholz stellt seine Konkurrenten um das Kanzleramt in den Schatten. Was hat der Vizekanzler getan, um vier Wochen vor der Wahl eine derartige Kehrtwende hinzulegen? Genau genommen: Nichts! Er hat bloß abgewartet, bis seine Gegner entscheidende Fehler begehen.

Der Stern von Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) begann spätestens mit ihrer Plagiatsaffäre zu sinken. Hätte sie sich den Versuch erspart, durch ein programmatisches Buch intellektuell glänzen zu wollen, könnten die Grünen bei den Umfragen noch heute vorne liegen. Armin Laschet (CDU) wiederum hat seine moralische und staatspolitische Integrität mit einer Lachaffäre im Kontext der Flutkatastrophe nachhaltig beschädigt. Und auch die oppositionshaft anmutende Vorstellung eines „Zukunftsteams“, dessen Mitglieder bis auf wenige Ausnahmen im Grunde keiner kennt, wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten liefern kann. Und so stieg der Stern des Vizekanzlers, weil die der Konkurrenten sanken.

Keine Programme, sondern Menschen

Man konnte dies wie in einem Brennglas beim ersten Triell der Spitzenkandidaten beobachten. Laschet schaltete, fast panisch, vom Staatsmann auf den nörgelnden Besserwisser aus der Opposition um und attackierte seine Konkurrenten teils persönlich. So etwas mag der Durchschnittsdeutsche aber nicht. Baerbock wiederum wollte alles besser wissen und fuchtelte aufgeregt mit ihren Argumenten im Raum herum. Und Scholz? Der stand da, selbstgewiss und unerschütterlich, und zeigte den Zuschauern nüchtern Grenzen und Möglichkeiten der Politik auf. Er versprach im Grunde nichts und machte sich genau deshalb unangreifbar.

Dabei ist das Ganze alles andere als unerklärlich. Parteien setzen bei Wahlen vor allem auf Programme. Die Inhalte sind ja auch der Grund, sich einer politischen Partei als Mitglied anzuschließen. Die Mehrheit der Wähler allerdings interessiert sich dafür zumindest nicht in demselben Maße wie die Mitglieder von Parteien. Sie vertrauen nicht in erster Linie Programmen, sondern Menschen. 

Markus Söder (CSU) hat dabei jüngst bei einer Wahlkampfveranstaltung zur Würdigung der Leistungen Angela Merkels (CDU) an die Bundeskanzlerin die entscheidenden Worte gerichtet: „All die großen Weggabelungen, die Du zu lösen hattest, haben wir nie in Programmkommissionen diskutiert. Sie kamen über Nacht, und man musste gut regieren.“ Charakter und Person zählen in der Politik am Ende eben einfach mehr als geduldige Parteitagsbeschlüsse. 
 

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