Norbert Röttgen - Stufen des Lebens

Wegen der Corona-Pandemie wird der CDU-Parteitag, auf dem im Dezember der neue Parteivorsitzende gewählt werden sollte, verschoben. Während Friedrich Merz die Verschiebung kritisiert, befürwortet sie sein Konkurrent Norbert Röttgen. Doch warum führt er überhaupt den Kampf um den Vorsitz?

Will wieder zwei Stufen auf einmal nehmen: Norbert Röttgen / dpa
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Ralf Schuler war bis Oktober 2022 Leiter des Parlamentsbüros der BILD.

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Es ist dieser kleine Sprung, der den Unterschied macht. Seine Mitbewerber um den Posten des CDU-Vorsitzenden, NRW-Ministerpräsi­dent Armin Laschet und Ex-Unionsfraktionschef Friedrich Merz, gehen beim Landestag der Jungen Union Nordrhein-Westfalen auf die Bühne, sie steigen nach bejubeltem Einmarsch die kleine Treppe empor. Norbert Röttgen, 55 Jahre alt und damit der jüngste Bewerber, federt mit einem leichten Satz aufwärts. Zwei Stufen auf einmal.

Vielleicht ist genau dies der Punkt, der Röttgens Kandidatur im Wortsinne so eigenwillig macht. Merz nimmt den Faden seiner politischen Karriere von 2002 wieder auf, als ihn die damalige CDU-Chefin Angela Merkel vom Posten des Fraktionschefs verdrängte. Obwohl raus aus dem aktiven Geschäft, war er doch nie ganz weg. Es ist ein politisches Comeback nach Erfolg in der Wirtschaft und knapp verpasster Chance beim Kampf um den Parteivorsitz 2018. Dass Laschet als mächtiger NRW-Regierungschef nach dem Posten greift, ist geradezu zwingend, liegt in der Natur der politischen Sache. Die Landesfürsten waren immer die Machtreserve der Union, und wer keinen Machtwillen mehr zeigt, ist aus dem Rennen. 

Nur beim Chef des Auswärtigen Ausschusses Norbert Röttgen, der bislang auch nicht als Parteitribun aufgefallen ist, gibt es keine augenfällige machtmechanische Plausibilität für Parteivorsitz und Kanzlerschaft. Einziger Antrieb: er selbst. Zwei Stufen auf einmal.

Kleine Stufen für Röttgen

Röttgen, geboren im Juli 1965, einem der letzten Jahrgänge der Babyboomer, stammt aus einem katholischen Elternhaus, der Vater Postbeamter, die Mutter Schneiderin. Sonntäglicher Kirchgang, Tischgebet. Bis heute betet er, wenn er für sich ist, verriet Röttgen unlängst der Zeit. 1982 tritt er in die CDU ein, studiert später Jura und macht in der Jungen Union Karriere. Interessant ist in politischen Karrieren immer der Moment, in dem der Politiker das Machtmanagement zum Hauptjob macht. Bei Röttgen ist 1992 der heimische Bundestagswahlkreis überraschend frei, weil der bisherige Abgeordnete nicht mehr antritt. Röttgen, damals 27 Jahre alt und Rechtsreferendar, greift zu. Die erste Stufe.

1994 zieht er in den Bundestag ein und gehört gemeinsam mit seinem heutigen Konkurrenten Armin Laschet jener „Pizza Connection“ aus Unionspolitikern an, die beim Bonner Italiener Sassella programmatische Gemeinsamkeiten mit den Grünen ausloten. Es folgen Jahre, in denen die politische Treppe für Norbert Röttgen eher kleine Stufen hat. Jahre, auf die er heute gern verweist, wenn ihm zu viel Ego als Antrieb vorgehalten wird. „Je größer das Ich, desto kleiner der Politiker“, sagt er dann. Ein schöner Satz, dessen Klugheit bestechend strahlt und doch die eigenen Ambitionen nicht wirklich widerlegt.

Der Vita-Gau in NRW

Es ist dieser Intellekt, mit dem Röttgen sich Vorsprung verschafft und mit dem er auch seine eigenen Niederlagen so auszuleuchten sucht, dass zwischen seine logischen Wenn-dann-Konstrukte kein gefühliger Widerspruch mehr passt. Als er 2005 Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion wird, sagt man ihm Verdruss nach, nicht Kanzleramtsminister geworden zu sein, und unterstellt ihm bald schon Ambitionen auf den Posten von Fraktionschef Volker Kauder. Zwei Stufen auf einmal? Nein, sagt Röttgen im Rückblick. Er habe seinen Job nur gut machen wollen. Niemand könne ihm auch nur eine Illoyalität gegenüber Kauder nachweisen. In der Tat ließen sich die Ambitionen damals vor allem aus seiner sehr kreativen und unabhängigen Amtsführung schlussfolgern, ganz so, als führte er nicht die Geschäfte Kauders, sondern seine eigenen.

Nur selten verdichtet sich das politische Ränkespiel zu einem so intensiven Plot, dass die milde Grasnarbe des Vergessens darüber einfach nicht anwachsen will. Röttgens krachende Niederlage als Spitzenkandidat bei der NRW-Landtagswahl 2012 wird zum Vita-Gau, weil er die sonst zurückhaltend agierende Kanzlerin zu seiner demonstrativen Entlassung nötigt. Der mächtige Satz auf die Stufe der Landesfürsten misslingt, reißt die CDU gute 8 Prozentpunkte in die Tiefe und beschert der matten SPD eine weitere Regentschaft in NRW.

In einer raffiniert herbeigeführten Mitgliederbefragung hatte Röttgen, seit 2009 Bundesumweltminister, sich gegen Laschet als Spitzenkandidat für die Landtagswahl durchgesetzt. Doch Röttgen mochte den letzten Schritt, um die Ernsthaftigkeit seiner Ambitionen zu unterstreichen, nicht gehen: Er gab kein Bekenntnis zum Verzicht auf das Berliner Ministeramt und – komme, was da wolle – den Verbleib in der Landespolitik ab.

Merkel und der damalige CSU-Chef Horst Seehofer bearbeiteten ihn vor der Wahl, seinen Widerstand aufzugeben. Merkel nahm Röttgen eigens auf einem Inlandsflug im Helikopter mit, um ihm ins Gewissen zu reden. Nichts fruchtete. Die Kanzlerin tobte hinter verschlossenen Türen, hieß es. Seehofer ließ seinem Ärger später im ZDF freien Lauf („Das können Sie alles senden …“). Am 16. Mai 2012 erhält Röttgen im Schloss Bellevue seine Entlassungsurkunde von der Kanzlerin. Ein einmaliger Vorgang während Merkels Kanzlerschaft.

Spuren von Ehrenhaftigkeit

Hatten ihn gehässige Kollegen wegen seiner smarten Erscheinung und seiner geschliffenen Rhetorik als „George Clooney aus Meckenheim“ und „Muttis Klügsten“ verspottet, so unterschätzte der kluge Clooney das ausgeklügelte System der Kanzlerin, mit dem sie immer wieder ihre Top-Leute auf charakterliche Eignung, Loyalität und Verlässlichkeit prüft. Sie erinnert sich, dass er schon 2006 als Hauptgeschäftsführer zum BDI wechseln und sein Mandat weiter behalten wollte. Auch Röttgens Zahlen zum Ausbau der erneuerbaren Energien geraten im Kanzleramt unter Verdacht der leichten Verschönerung. Doch der gezeigte Eigenwille des gescheiterten Spitzenkandidaten ist ein Affront, eine offene Infragestellung der Kanzlerautorität, der Treppensturz des Norbert Röttgen.

„Es war ein Fehler“, sagt Röttgen heute. Er habe lediglich signalisieren wollen, dass er auf Sieg setze und nicht an eine mögliche Niederlage denke. Auch soll es damals den Hinweis gegeben haben, er solle pro forma nachgeben und sich dann wegen Unabkömmlichkeit beim Managen der Energiewende nach Berlin zurückrufen lassen. Ein Kuhhandel, den er abgelehnt habe. Der Spin: Auch Niederlagen können Spuren von Ehrenhaftigkeit enthalten.

Dass Röttgen die Chance erhält, sich in die politische Arena zurückzukämpfen, liegt vor allem an dem inzwischen verstorbenen früheren CDU-Generalsekretär Peter Hintze, der damals Röttgens Talent für die Union weiter nutzen will und der Kanzlerin empfiehlt, ihm wieder eine Chance zu geben. Hintze, ein kühler und verschwiegener Strippenzieher, schätzt Redetalent und das gleichermaßen adrette wie jugendliche Aussehen des Rheinländers.

Der Infobote hat eine Lieferung für Sie

Damit punktet Röttgen bis heute. Seine Sätze sind so stoisch wie der Sitz seiner Frisur. Wo andere ein „äh“ einschieben, lässt er Pausen, in denen Worte bedeutungsvoll stehen bleiben und die Spannung auf das Fazit wächst. Keine luftigen Wimmelworte à la „Lassen Sie es mich einmal so formulieren“. Röttgens Rhetorik will einschneiden, sezieren, das Gegenüber durch Kantenschärfe überzeugen. Eine angenehme Stimmlage mit sonoren Bässen kommt ihm dabei zu Hilfe, während die Hände gern vor dem Körper kompakte Pakete aus der Luft greifen. Der Infobote hat eine Lieferung für Sie.

Diese Klartextneigung kommt Röttgen gleich doppelt zupass: Im aktuellen Machtkampf um den CDU-Vorsitz ist Konkretheit der unbesetzte Mittelkorridor zwischen Laschet und Merz. Und im Rückblick auf Röttgens Rückschläge ist es eine durchaus intelligente Art, Verletzungen und Niederlagen hinter dem kühlen chromglänzenden OP-Besteck vermeintlich harter und mitunter dann doch schmeichelhafter Analyse zu verbergen.

Laschet bekennt sich offen zu bruchloser Merkel-Kontinuität und will seine Corona-Politik des kritischen Augenmaßes als Generalbeispiel des eigenen Politikverständnisses in die Bewerbungsmappe legen. Merz dagegen signalisiert mit seinem „Wir müssen wieder“-­Mantra elegant Abbruch und Neubeginn: Was „wieder muss“, das war einmal und ist nicht mehr. Was all das genau bedeutet, lässt so viel wolkigen Raum für hoffnungsvolles Ahnen in der Inhalte-Cloud.

Wenig Alternativen der Distinktion

Röttgen hält mit programmatischer Hardware dagegen: Er ist für die von der Satzungskommission beschlossene Frauenquote bis hinab in die Kreisverbände, er will im Streit mit Russland die Gaspipeline Nord Stream 2 stoppen und ging als Erster mit der klaren Zahl von 5000 Migranten in die Öffentlichkeit, die Deutschland aus dem griechischen Lager Moria auf Lesbos aufnehmen solle. Sind seine außenpolitischen Analysen sonst durchaus dialektisch raffinierte Szenarien abgewogener Interessen, so will er im Nebel des CDU-Machtkampfs mit klaren Leuchtfeuern sichtbar werden. Und macht sich damit bewusst angreifbar. 

Es gehört zu den großen Missverständnissen des Politischen, dass Konkretheit und Klarheit zwingend zum Sieg führen. Oft genug verströmt die wohlige Wolkigkeit des „ich will, dass …“, „wir müssen“, „es kann nicht sein, dass …“ mehr Nähe und Verstandensein als allzu präzise Programmatik. Röttgen weiß das, und hat doch wenig Alternativen, sich von den Mitbewerbern abzusetzen.

„Jeder einzelne von uns Dreien hat die Chance, gewählt zu werden“, sagt er. So muss man wohl denken, wenn man wieder mal zwei Stufen auf einmal nehmen will. Merzens Aufbruch in Wirtschaft und Weltpolitik und Laschets „Kurs der Mitte“ setzt Röttgen die „moderne Mitte“ entgegen. Kann sein, dass das fruchtet. Im Stillen schließt er vielleicht Matthäus 20,16 in seine Gebete ein: Die Letzten werden die Ersten sein …

Diesen Text finden Sie in der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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