Nichtwähler - „Echte Sieger sind selten“

Der Historiker René Schlott plädiert dafür, auch die Gruppe der Nichtwähler im Parlament abzubilden. Denn wegen der Fixiertheit auf die reinen Wahlergebnisse sei aus dem Blick geraten, dass die allermeisten Parteien, gemessen an der Zahl der absoluten Stimmen, kontinuierlich verlieren.

Nichtwähler demonstrieren im September 2009 vor dem Reichstag in Berlin / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Der 44-jährige Historiker René Schlott arbeitet seit 2014 am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit sind Holocaust-Forschung und DDR-Geschichte. Darüber hinaus publiziert Schlott regelmäßig zu Fragen der Gegenwart.

Herr Schlott, Nichtwählen galt lange Zeit als Phänomen bildungsferner und abgehängter Bevölkerungsgruppen. In den letzten Jahren hat es aber auch namhafte Intellektuelle gegeben, die mit der Wahlenthaltung kokettierten – darunter etwa Maxim Biller oder Peter Sloterdijk. Wäre Wahlenthaltung für Sie ein Modell?

René Schlott: Nein, auch wenn ich zugeben muss, dass es in den zurückliegenden Monaten immer wieder Momente gab, in denen ich angesichts des Agierens der Parteien und des Fehlverhaltens mancher Abgeordneter ernsthaft darüber nachgedacht habe. Hingehen werde ich in jedem Fall, ob ich aktiv eine Partei wähle, halte ich mir noch offen. 

Was aber treibt Sie dann letztlich an die Urne?

Es steht gerade in der aktuellen Corona-Krise, die sich zu einer Gesellschafts-, Kultur- und Freiheitskrise ausgewachsen hat, zu viel auf dem Spiel. Als ich 2017 zur Wahl ging, habe ich auch nicht aus voller Überzeugung meine beiden Kreuze bei den Parteien gesetzt, die ich schließlich gewählt habe. Man entscheidet sich ja oft nur für das kleinere Übel, wie es am Wahlsonntag immer so schön heißt. Man wägt ab, setzt Prioritäten.

Wo Sie gerade Corona erwähnten: Hätten Sie 2017 daran gedacht, dass die meisten der damals in den Bundestag gewählten Parteien elementare Grundrechte aussetzen würden?

Natürlich nicht. Ich hätte vor vier Jahren ganz sicher keine Partei gewählt, die Spielplätze, Schulen, Universitäten und Theater über Monate schließt, außer- und innerdeutsche Grenzen neu errichtet, vor den Gesichtern ihrer Bürger nicht haltmacht und meint, ihnen vorschreiben zu müssen, ob sie an Weihnachten mit ihren Familien zusammenkommen dürfen und wenn ja, unter welchen Bedingungen. Da sind im Zuge der Corona-Krise schon Grenzen verschoben worden und, wie sich gerade zeigt, leider auf Dauer.

Dennoch haben die Maßnahmen nicht Ihr Urvertrauen in die Demokratie erschüttern können.

Erschüttert ist mein Vertrauen in Demokratie und Gewaltenteilung schon, wenn Politiker und Intellektuelle angesichts eines Virus fordern, „mehr Diktatur zu wagen“ oder die Verhältnismäßigkeit hintanzustellen, und dies kaum auf Widerspruch stößt. Zerstört ist mein Vertrauen aber nicht. Gerade die aktuelle Krise beweist doch, dass es auf jeden Einzelnen ankommt. Wenn jetzt immer mehr Leute aus Enttäuschung nicht zur Wahl gingen, bestünde die Gefahr, dass wir auf Weimarer Verhältnisse zulaufen.

Sie befürchten ernsthaft eine Demokratie ohne Demokraten?

Ich habe gerade eine Umfrage gelesen, nach der vermutlich ein Viertel der Menschen nicht wählen gehen wird. Das sind in etwa so viele wie 2017.

Damals waren es 23,8 Prozent, der dritthöchste Wert in der Geschichte der Bundesrepublik.

Im Umkehrschluss hieß das bereits vor vier Jahren, dass drei Viertel der Berechtigten zur Wahl gegangen sind. Was aber, wenn die aktiven Wähler irgendwann tatsächlich in die Minderheitenposition fielen?

Bei Landtagswahlen hat es das ja schon gegeben.

René Schott / Angela Ankner

In diesen Momenten entsteht ein demokratietheo­retisches Problem. Ist ein Parlament, das nicht einmal den Wählerwillen von 50 Prozent der Wahlberechtigten abbildet, wirklich ein demokratisches Parlament? Es erschreckt mich, dass man nach den diesjährigen Landtagswahlen einfach hingenommen hat, dass die Nichtwähler quasi die stärkste „Partei“ geworden sind. Das ist ein riesiges Problem, bei den Wahlanalysen aber spielte es keine Rolle.

Aber es ist auch kein rein deutsches Problem. In nahezu allen westlichen Demokratien ist die Wahlbeteiligung seit den achtziger Jahren zurückgegangen. Wie lässt sich diese Lethargie des Souveräns erklären?

Da gibt es viele Gründe. Einer hat mit den fehlenden Unterschieden zwischen den Parteien zu tun. Die Zeit der großen Blöcke ist vorbei. Nicht nur in Deutschland regiert seit vielen Jahren eine Große Koalition. Die wichtigen Parteien sind gezwungen, zusammenzuarbeiten. In einem Wahlkampf hat man somit gar nicht mehr die Wahl zwischen klar abgrenzbaren Positionen. Außerdem suggerieren die in immer höherem Takt erhobenen Meinungsumfragen, die inzwischen bis auf eine Nachkommastelle das Ergebnis vorwegnehmen, dass die Wahlen längst entschieden sind, noch bevor jemand sein Kreuzchen gesetzt hat.

Hat die große Enthaltung eventuell auch damit zu tun, dass viele Parteien keine positiven Visionen auf den Weg bringen, sondern damit beschäftigt sind, die Dystopie – sei sie nun ökologisch oder pandemisch – abzuwenden?

Es gibt in der Tat keine positiven Zukunftsaussichten mehr, bei denen man sagen könnte, dass man jenseits aller Klimaprobleme das Land in dem ein oder anderen Punkt zu etwas Besserem bringen könnte. Am Ende führt das sicherlich auch zu einer Lethargie. Warum wählen, wenn ich ohnehin nur höre, dass alles immer schlimmer wird?

Nahezu alle Parteien zielen im aktuellen Wahlkampf auf die sogenannte Mitte. Dabei haben Soziologen in den zurückliegenden Jahren immer wieder festgestellt, dass diese Mitte extrem zusammenschrumpft. Wird am Ende also Wahlkampf für immer weniger Wähler gemacht?

Ich denke, da ist etwas dran. Selbst Wahlprogramme werden nur noch für eine Minderheit auf den Weg gebracht – für die, die von der Politik überhaupt noch erreicht werden. Manchmal frage ich mich, warum es diese Programme überhaupt noch gibt. Sie erzeugen kurze Schlagzeilen; zur Mobilisierung breiter Wählerschichten reicht das nicht. Ohnehin sind die meisten Programme vollkommen erwartbar; dadurch wird niemand an die Urne gelockt. Am Ende zählen somit die Personen und vor allem die medieninduzierten Kandidatenduelle. 

Und dennoch scheinen selbst Köpfe nicht mehr zu ziehen. Das Nichtwählen, so belegen es Umfragen, scheint sich bei vielen Menschen zu chronifizieren.

Dadurch, dass wir uns am Wahlabend stets auf die Prozentzahlen der Gewählten fokussieren, haben wir überhaupt nicht im Blick, dass die allermeisten Parteien, gemessen an der Zahl der absoluten Stimmen, eigentlich kontinuierlich verlieren. Wirkliche Gewinner gibt es selten. Das stört aber nicht, denn unter den aktuellen Rahmenbedingungen haben die Parteien gar kein Interesse daran, die Wähler in großer Zahl zu mobilisieren. 

Wie ließe sich das ändern?

Man müsste den Parteien mehr Anreize geben, um von sich aus für eine höhere Wählermobilität zu sorgen. Das könnte etwa dadurch geschehen, dass man auch die Nichtwähler im Parlament abbildet. Die Sitze dürften dann nicht mehr proportional zu den abgegebenen gültigen Stimmen besetzt werden, sondern proportional zur Gesamtzahl der Wahlberechtigten. Die Nichtwähler wären dann durch leere Sitze im Parlament repräsentiert. Man erzeugte somit eine sichtbare Leerstelle. Und vielleicht würde man die Parteien auf diese Weise animieren, sich vermehrt wieder um die Gesamtheit der Wähler zu bemühen.

Die Fragen stellte Ralf Hanselle.

 

Dieser Text stammt aus dem Sonderheft zur Bundestagswahl des Cicero, das Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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