Rudolf Scharping zur Debatte über Nukleare Teilhabe - Die SPD ist besser als ihr Ruf

In der Debatte um die nukleare Teilhabe Deutschlands stehen die Nato und Sicherheitspolitik auf dem Prüfstand. Der ehemalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) blickt zurück und folgert, Deutschland müsse im Schulterschluss mit den europäischen Ländern für die Abrüstung stehen.

Auslöser der Debatte: Die geplante Anschaffung neuer Kampfjets / dpa
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Autoreninfo

Rudolf Scharping war von 1993 bis 1995 Bundesvorsitzender der SPD, von 1991 bis 1994 Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz und später Bundesminister der Verteidigung. Bei der Bundestagswahl 1994 war er Kanzlerkandidat und von 1995 bis 2001 Präsident der Europäischen Sozialdemokraten. Nach seiner Zeit als Politiker baute er die eigene Beratungsgesellschaft RSBK AG auf, die deutsche Unternehmen im Zusammenhang mit China berät. Seit 2005 hat Scharping auf zahlreichen Reisen insgesamt fast sechs Jahre in China verbracht.

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Ohne Europa und Nato  ist Deutschland ein Zwerg, ein Spielball weltweit agierender Mächte, abhängig von deren Interessen, (oder auch) Launen und im Zweifel erpressbar. Deutsches Interesse – sei es ein politisches, kulturelles, ein soziales oder wirtschaftliches, sei es Freiheit und Sicherheit bis hin zu wirtschaftlichem Austausch oder Sicherheit und Diversität des Zugangs zu Rohstoffen – das alles ist untrennbar mit Europa verbunden und mit dem umfassenden Zusammenwirken freiheitlicher und demokratischer Staaten.

Hier bedingen sich freiheitliche Werte und politische Interessen. Auch wenn es um die äußere Sicherheit unseres Landes geht, gilt das ohne Einschränkung. Wie man diesen Werten und Interessen dient, darüber muss in demokratischen Gesellschaften auch gestritten werden „im Ringen um das höchsterreichbare Maß an Übereinstimmung bei der Bewältigung der deutschen Lebensfragen“.

Weitblick und Wirklichkeitssinn

Dabei ist „das europäische und atlantische Verteidigungssystem (…) Grundlage für alle Bemühungen der deutschen Außen- und Wiedervereinigungspolitik“, sagte der SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner in seiner bahnbrechenden Rede im Deutschen Bundestag am 30. Juni 1960. Das ist 60 Jahre her – gilt es noch? Oder haben sich die Zeiten so grundlegend geändert, dass Wehners Rede nur noch archivarischen Wert hat?

Außen- und Sicherheitspolitik ist langfristig; sie verlangt Weitblick und Wirklichkeitssinn, wie jede gute Politik; sie verlangt Vorsorge für mögliche, wenn auch nicht immer wahrscheinliche oder gar unmittelbar bevorstehende Entwicklungen. Das Godesberger Programm von 1959, die Rede Wehners und die Politik des späteren Außenministers Willy Brandt, dessen Kanzlerschaft und die von Helmut Schmidt – das war Hoffnung und Aufbruch, das war umfassend angelegte Politik, vielfältig, anspruchsvoll und anregend.

Das soziale Verständnis von Sicherheit

Sicherheit wurde nach außen und innen, auch sozial und damit umfassend verstanden. Eine große Mehrheit konnte folgen. Was aber hat das mit der Nato, der nuklearen Teilhabe zu tun? Breite ich hier nostalgische Erinnerungen aus – oder hilft der Blick auf die langen Linien der Entwicklung, um sich heute etwas besser zu orientieren?

Dazu zwei Hinweise: Die Nato hat unter großen Mühen und sehr streitigen Debatten sich mit dem Harmel-Bericht 1967 verabschiedet von der „massiven Vergeltung“ – das war ja auch keine Strategie, sondern die Androhung, alles und jeden, auch sich selbst auszulöschen. Die „flexible Antwort“ verband Abschreckung mit dem Angebot zu Entspannung und Abrüstung.

Willy Brandt für die Vernunft

Da war Willy Brandt Außenminister der Bundesrepublik. „In Mitteleuropa existiert die größte Ansammlung militärischer Zerstörungskraft, die es je gegeben hat. Dies ist wider die Vernunft. Es ist wider die Interessen der Völker.“ Um „die Kraft der Vernunft und die Kraft der Moral“ zu vereinen, sollte nicht etwa der „helle Wahnsinn eines gleichen Zerstörungspotentials“ gelten, sondern: „Sehen wir es realistisch: Solange die Kernwaffen nicht allseitig abgeschafft sind, können sie als Mittel der Abschreckung und der kollektiven Selbstverteidigung nicht ausgeschaltet werden.“

Diese Rede von Willy Brandt bei der Konferenz der Nicht-Atomwaffenstaaten am 3. September 1968 in Genf war die erste Darlegung der Friedens- und Entspannungspolitik, die der spätere Bundeskanzler dann ab 1969 zielstrebig verfolgte. Die Rede ist sehr zu Unrecht fast vergessen, hält aber für heutige Politik eine zentrale Lehre bereit: Ohne feste Verankerung in Europa und im Bündnis gelingt deutsche Friedenspolitik nicht. Weitblick und Wirklichkeitssinn prägten den Beginn von Friedens- und Entspannungspolitik, auch übersetzt in Rüstungsbegrenzung, -kontrolle und Abrüstung.

Ist die nukleare Teilhabe ausschlaggebend?

Deutsche Alleingänge, auch wenn sie erst einmal rhetorisch daherkommen, sind gefährlich für die eigenen Interessen: sie begrenzen Mitsprache und Einfluss, unterminieren Vertrauen und erschweren Zusammenarbeit. Was aber ist mit den Alleingängen der USA? Wie umgehen mit einer Politik, die auf verlässliche und internationale Verträge, Verabredungen glaubt verzichten zu können? Was tun angesichts einer neuen und überaus gefährlichen unilateralen Neudefinition der nuklearen Strategie durch die amerikanische Administration? Wie dazu beitragen, dass internationale Beziehungen nicht von politischen Raufbolden verunstaltet werden?

Die nukleare Teilhabe ist nicht wirklich das Wichtigste für Deutschlands Rolle in Europa oder in der NATO; sie aber aufzugeben, würde Deutschlands Möglichkeiten unverhältnismäßig einschränken. Brandt, Schmidt und danach alle deutschen Kanzler haben gewusst: Deutschland muss glaubwürdig, verlässlich, langfristig und auch in sehr herausfordernden Zeiten alle europäischen Nationen als gleichberechtigt und souverän ansehen, ob groß oder klein, ob wirtschaftlich stärker oder weniger stark; auch dann, wenn von manchmal politisch zweifelhaften (oder gar zu verurteilenden) Kräften regiert.

Zusammenhalt und Umsetzung

Anders hätten Willy Brandt und Helmut Schmidt die Friedens- und Entspannungspolitik nicht durchsetzen und in deren Folge Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher die deutsche Einheit nicht verwirklichen können. Wir dürfen ja nicht vergessen: Spanien, Griechenland, Portugal und die Türkei waren auch einmal Diktaturen. Die USA haben üble Kriege in Vietnam geführt und im Irak einen solchen durch Lügen zu rechtfertigen versucht.

Es war Gerhard Schröder, der Nein dazu sagte und es war Europa, das sich nur kurze Zeit aufteilen, um nicht zu sagen spalten ließ in „alt“ und „neu“. Um Europa zusammenzuhalten und endlich seine enorme wirtschaftliche Kraft in politische Gestaltungsmacht zu „übersetzen“, genau deshalb muss auch die deutsche Sozialdemokratie ihre Vorstellungen von Friedens-, Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik umfassend denken und mit den europäischen Partnern gemeinsam entwickeln.

Presidential Directive 59

Dies alles wurde in meinem politischen Leben einmal auf eine harte Probe gestellt; wie die große Mehrheit meiner Altersgenossen hatte ich nicht nur Sorge, ja Angst vor den Folgen des Nato-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979 – wir sahen nur die Drohung der Stationierung von Mittelstreckenraketen (als Antwort auf die schon erfolgte sowjetische Stationierung).

Der amerikanische Präsident Jimmy Carter erließ im Juli 1980 die sogenannte Presidential Directive 59, mit der die USA das „strategische Gleichgewicht“ als Konzept aufgaben; im November des gleichen Jahres wurde Ronald Reagan gewählt; im amerikanischen Verteidigungsministerium wurden Papiere verfasst, die einen Atomkrieg zu führen, zu begrenzen und zu gewinnen für möglich erklärten, um den Preis von Millionen von Toten. Ein Irrsinn.

Das politisches Ringen um Abrüstung

Wir sahen nicht das Angebot zur Verhandlung und zur Abrüstung, obwohl diese Verknüpfung von Helmut Schmidt konzipiert und den USA abgerungen worden war; wir sahen nicht das zähe Ringen innerhalb der Nato und mit den USA um eine gemeinsame Politik auf der Grundlage der gemeinsamen Beschlüsse vom Dezember 1979. Wir fühlten uns sehr im Recht – wir lagen gründlich falsch.

Präsident Trump, die neuen Überlegungen zum möglichen Einsatz von Atomwaffen, sind also eine Herausforderung. Aber zu was? Es ist ja eine Tatsache, dass auch die Russische Föderation aufrüstet und Verträge verletzt hat. Man muss die ganze Wirklichkeit sehen, seine Möglichkeiten nüchtern einschätzen und entschieden nutzen. Also muss deutsche Politik ringen, mit Russland, mit den USA, damit Entspannung wieder möglich wird; und damit neue und so dringende Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Die SPD an der Seitenlinie

Deutsche Politik muss dafür Europa stärken, also nach einer gemeinsamen Antwort mit unseren europäischen Nachbarn und Freunden suchen. Und wir müssen die USA einbeziehen, nicht beschränkt auf Washington. Das Wurzelwerk der amerikanisch-deutschen Beziehungen ist doch viel dichter.

Die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen, die persönlichen Verbindungen, die Unternehmen und Think Tanks – auf allen Ebenen bieten sich Möglichkeiten (und eigentlich auch Verpflichtungen); denn Washington ist wichtig, aber die USA sind viel mehr. Das ist die besondere Verantwortung und Chance der deutschen Sozialdemokratie. In einem Gedankenspiel: Im Dezember 2019 hatte die SPD einen Parteitag, in dessen Folge – wie angekündigt, mindestens stark angedeutet – die SPD die ungeliebte Große Koalition verließ.

Die SPD begleitete seither die deutsche Politik mit Kommentaren von der Seitenlinie, moralisch rein und politisch wirkungslos. Dann kam Corona – und die SPD hoffte, wie schon manchmal in früheren Jahrzehnten, dass die Regierenden sich in ihrer unterstellten Unfähigkeit selbst entlarven und danach die SPD den historisch verdienten Sieg einfahren werde. Wie gesagt: Das ist nur ein Gedankenspiel. Wie viel besser, dass Deutschland so gut regierende sozialdemokratische Frauen und Männer hat. Warum, zum Teufel, können manche in der Sozialdemokratie es nicht lassen, davon immer mal wieder abzulenken?

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