Nancy Faeser - Erst wägen, dann wagen

Nancy Faeser hat mit dem männer- und unionsgeprägten Innenministerium eine schwierige Aufgabe übernommen – ihr größtes Problem ist aber ihre politische Zukunft. Will sie 2023 Ministerpräsidentin in Hessen werden und betrachtet Berlin nur als Zwischenstation?

Nancy Faeser zu Besuch bei der Polizeiführung der Bundespolizei im Rahmen des G7 Gipfels / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Die Innenministerin geht neben dem kleinen Mädchen aus Odessa in die Hocke, das, an einem Tisch sitzend, völlig in sich versunken mit einer Schere grünes Transparentpapier in kleine Stücke schneidet. „Gut machst du das. Super!“, spricht sie leise zu ihr. Das Mädchen reagiert, zeigt ihr die Papierstücke, erklärt ihr auf Russisch, was sie da gerade gemacht hat. Nancy Faeser, 51, in der Ampelkoalition seit Dezember 2021 Innenministerin, zeigt sich an diesem sonnigen Dienstag in den Containern eines Flüchtlingsheims im Berliner Stadtteil Siemensstadt so, wie sie auch von vielen Beamten beschrieben wird, die sie in den vergangenen Monaten kennengelernt haben: interessiert und nahbar.

Den Termin im Flüchtlingsheim kann die Sozialdemokratin auf der Habenseite verbuchen: Zusammen mit Arbeitsminister Hubertus Heil und der Berliner Sozialministerin Katja Kipping hört sie an diesem Tag überschwängliche Dankesreden von Flüchtlingen aus der Ukraine – und das in einer Woche, in der der ukrainische Botschafter für Irritationen gesorgt hatte mit seiner Bemerkung, seine Landsleute fühlten sich „nicht willkommen“ in Deutschland. Die Aufnahme der etwa 700.000 Ukrainer seit dem russischen Überfall am 24. Februar hat das Innenministerium zusammen mit den Ländern und den vielen freiwilligen Helfern unterm Strich gut gestemmt.

Die Quotenministerin

Aber Faesers Arbeitswoche endet mit einer PR-Kernschmelze, die es in sich hat: Auf Twitter postet sie ein Bild, das sie im Innenministerium inmitten von 150 Jugendlichen zeigt, „Verfassungsschüler“ aus einem vom Ministerium geförderten Demokratieprojekt. Das Problem: Mehrere Jugendliche mit Migrationshintergrund zeigen mit ihren Händen extremistische Zeichen, darunter das „Rabia“-Zeichen der islamistischen Muslimbruderschaft und den „Wolfsgruß“ der „Grauen Wölfe“ – türkische Rechtsextreme. Faeser ergänzt ihren Tweet eine gute Stunde später zähneknirschend mit den Worten: „Die von einigen Schülern gezeigten Symbole auf dem Bild sind inakzeptabel, ich verurteile dies scharf. Wir sind mit dem Projektträger dazu im Gespräch.“ Der Fauxpas ist für all jene, die davon überzeugt sind, dass die Sozialdemokratin durch ihre demonstrative Konzentration auf den Rechtsextremismus blind gegenüber dem Islamismus und sonstigem Extremismus ist, eine Steilvorlage.

Faesers Berufung auf den Ministerposten im Dezember kam überraschend – auch für sie. Die promovierte Juristin machte zu diesem Zeitpunkt als Vorsitzende der hessischen SPD-Fraktion Oppositionsarbeit gegen die schwarz-grüne Landesregierung. Zuvor war sie lange Jahre innenpolitische Sprecherin gewesen. Ein Ministerium geleitet hat sie noch nie – und dann gleich das Innenministerium, jenes Monstrum mit über 2000 Mitarbeitern und 14 Abteilungen, mit den „nachgeordneten“ Behörden wie Bundespolizei und Verfassungsschutz mit 85.000 Mitarbeitern. Kann das gut gehen? 

Lebten wir vor 20 Jahren, hätte den Posten sicher Boris Pistorius bekommen, seit 2013 SPD-Innenminister in Niedersachsen und über Parteigrenzen hinaus geschätzt. Aber der Anspruch der Ampelkoalition, dem Zeitgeist zu entsprechen und Parität zwischen Männern und Frauen in der Ministerriege herzustellen, katapultierte Faeser an die Spitze des Innenministeriums – als erste Frau in der Geschichte der Bundesrepublik.

Guter Start im neuen Job

Die Sozialdemokratin, verheiratet und Mutter eines siebenjährigen Sohnes, kam in ein Haus mit schwierigen Startbedingungen: Es war (und ist) überdurchschnittlich geprägt von Männern, zudem von Menschen, die parteipolitisch eher der Union zugeneigt sind: Seit 1982 – mit nur sieben Jahren rot-grüner Pause – war das Ministerium fest in Unionshand: Schäuble, de Maizière, an diesen Namen misst man im Haus den Minister. Der CSU-Politiker Horst Seehofer, schon am Ende seiner politischen Karriere, blieb in seiner kurzen Amtszeit von 2018 bis 2021 als „Betriebsunfall“ in Erinnerung.

Faesers Start war dennoch gut. Positiv wurde wahrgenommen, dass sie als erste Amtshandlung die Bundespolizei besuchte: Inzwischen hat sie dafür gesorgt, dass die Behörde, die während der Corona-Demos im Winter und der Flüchtlingswelle stark gefordert war, zehn neue Hundertschaften bekommt. 

Ein ehemaliger Abteilungsleiter erinnert sich, dass Faeser bei ihrer Vorstellung vor der Führungsriege im Dezember „beeindruckend“ gewesen sei. Damals habe Faeser auch – sinngemäß – versprochen, die Ebene der Abteilungsleiter werde weitgehend unberührt bleiben. Diesen Eindruck habe sie aber bald zerstört: Neben zwei Beamten, die sich ohnehin in den Ruhestand verabschiedeten, wurden fünf Abteilungsleiter in den einstweiligen Ruhestand versetzt, zwei Spitzenposten durch interne Wechsel neu besetzt, nur fünf Abteilungen blieben in der Führung unberührt. 

Zu viel oder zu wenig umkrempeln?

Zum Teil fanden Entlassungen unter dramatischen Umständen statt: Ein Abteilungsleiter, der seit drei Jahrzehnten im Ministerium tätig war, bekam am Nachmittag mitgeteilt, er müsse bis zum Abend seinen Arbeitsplatz räumen – Telefon und E-Mail waren schon gesperrt. 

Allerdings ist auch die Rede davon, dass die Konflikte eher mit der „Lehmschicht“ um die Ministerin herum zu tun hätten, durch die die Abteilungsleiter nicht durchkämen. Damit sind die engsten Mitarbeiter von Faeser gemeint, die sie mit ins Ministerium gebracht hat: Den ehemaligen Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Hessischen Landtag Bastian Fleig machte sie zum Leiter der Abteilung Leitung, Planung und Kommunikation, auch ihre langjährige Büroleiterin Aylin Fischer nahm sie als persönliche Referentin mit nach Berlin. Ein besonders harter Brocken in der „Lehmschicht“ soll die aus dem Familienministerium übernommene Staatssekretärin Juliane Seifert sein. Das Haus trete deshalb nicht geschlossen auf, sondern arbeite „fröhlich pfeifend nebeneinander her“, sagt ein ehemaliger Abteilungsleiter.

In Faesers Umfeld sieht man das anders, auch wenn man die „kulturellen“ Unterschiede natürlich spürt. Auch der Austausch der Leitungsebene wird im Vergleich zu Robert Habecks radikalem Schnitt im Wirtschaftsministerium als „Minimalversion“ bezeichnet. Aus der SPD höre man sogar die Frage: Warum behaltet ihr so viele von den Schwarzen?

Problemthema Migration

Für Verstimmung sorgte auch die Entlassung des Staatssekretärs Helmut Teichmann Ende Januar, ein klassischer Karrierebeamter und kein auf dem „politischen Ticket“ aufgestiegener Parteisoldat. Zu seinem Verantwortungsbereich gehörte das wichtige Thema Migration – bis heute hat Faeser keinen Nachfolger präsentiert. Gegenüber Cicero erklärt Faeser im Juni, der Posten werde im besten Fall noch vor der Sommerpause, sonst im Sommer neu besetzt. Zu hören ist, dass sich die Personalsuche auch deshalb schwierig gestaltet, weil in den Verantwortungsbereich das Thema Abschiebung gehört. Im Koalitionsvertrag ist von einer „Rückführungsoffensive“ für „Straftäter und Gefährder“ die Rede: Dafür will Faeser laut Gesetzentwurf die Abschiebehaft von drei auf sechs Monate ausweiten. Gut vorstellbar, dass man in der Ampelkoalition als Staatssekretär bei diesem Thema zwischen Hammer und Amboss landen könnte.

Denn auf der anderen Seite stehen grundlegende Veränderungen im Umgang mit geduldeten Flüchtlingen an. Noch vor der Sommerpause soll ein Gesetzentwurf zur „Chancenduldung“ ins Parlament eingebracht werden: Menschen, die seit mehr als fünf Jahren mit einer Duldung in Deutschland leben, sollen eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe bekommen, wenn sie straffrei geblieben sind und Sprachkenntnisse, Lebensunterhalt und Identität nachweisen können. Nach dieser „Bewährungsprobe“ ist auch ein Bleiberecht möglich. Die Idee dahinter: die Praxis der Kettenduldungen zu beenden und Menschen, die schon lange hier leben und sich integriert haben, eine echte Chance zu geben, Teil dieser Gesellschaft zu werden – ohne ständig Angst vor der Abschiebung haben zu müssen. 

Unklare Zukunft der Ministerin

Die Opposition äußert sich erwartbar kritisch: „Es ist absurd, dass abgelehnte und positiv beschiedene Asylbewerber in Zukunft nahezu gleichbehandelt werden sollen“, sagt Philipp Amthor (CDU), Mitglied des Innenausschusses im Bundestag. Gemeinsam mit dem geplanten „Spurwechsel“, der Flüchtlingen ermöglichen soll, sich als Arbeitsmigranten zu bewerben, komme das einer „Aushöhlung des Asylrechts“ gleich. 

In Sicherheitskreisen sträubt man sich nicht prinzipiell gegen das Vorhaben, schließlich entspricht es dem Koalitionsvertrag. Aber man wünscht sich neben der Straffreiheit eine vollständige Sicherheitsüberprüfung der Flüchtlinge, bevor sie ihre Aufenthaltserlaubnis bekommen, um mögliche Gefährder auszusieben. Zudem besteht die Befürchtung, die Neuordnung der Migrationspolitik könnte den Zustrom von Flüchtlingen verstärken und Anreize für Schleuserbanden setzen. So steht es in einem Papier des Gemeinsamen Analyse- und Strategiezentrums illegale Migration (Gasim) aus dem Februar. Im Gasim tauschen sich Experten aus Auswärtigem Amt, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und den Sicherheitsbehörden aus.

Das alles sind Probleme, die durch Kompromisse gelöst werden können – und durch Faesers Stärke, die laut einem hohen Beamten darin bestehe, „erst zu wägen und dann zu wagen“. 

Ein fast unlösbares Problem ist dagegen die Frage ihrer politischen Zukunft: Im Herbst 2023 wird in Hessen gewählt, und in der dortigen SPD gibt es niemand anderen außer ihr, der Landesvorsitzenden, der ins Rennen gehen könnte. Zuletzt sagte Ministerkollegin Christine Lambrecht – aus welchen Gründen auch immer – gegenüber t-online, dass Faeser „nicht nur Spitzenkandidatin wird, sondern auch die erste Ministerpräsidentin in Hessen“. Faeser dementierte umgehend. In ihrem Umfeld betont man, dass die Familie sich ganz auf Berlin ausrichte und für mindestens vier Jahre plane. Unter ihren Beamten hat Lambrecht lediglich einen Eindruck bestätigt: dass die Ministerin nur auf Durchreise ist.

 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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