Islamistischer Terror - Warum wünschen muslimische Schüler Samuel Paty den Tod, Herr Kesici?

Nach den islamistischen Anschlägen von Dresden, Paris, Nizza und Wien müssen sich einige Moscheen fragen, ob sie den Terror befördert haben, indem sie ihre Gläubigen gegen den Staat aufhetzen. Burhan Kesici vom Islamrat weist die Kritik zurück. Er sieht die Muslime als Opfer einer medialen Kampagne.

Beten für den Frieden – aber bitteschön nach islamischen Regeln /dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Burhan Kesici ist seit 2015 Vorsitzender des Islamrats, einem Zusammenschluss von 450 Moscheegemeinden, die wegen ihrer Nähe zu der islamistischen Religonsgemeinschaft Milli Görüs teilweise vom Verfassungsschutz überwacht werden. Der Islamrat organisiert die Ausbildung der Imame und kümmert sich um den Religionsunterricht. Er ist der zweitgrößte Verband dieser Art in Deutschland, nach dem Verband der Ditib-Moscheen, die der türkischen Religionsbehörde Diyanet unterstehen. 

Herr Kesici, islamistische Terroranschläge finden in Europa statt, wieder einmal. Wie ist die Stimmung in Ihren Gemeinden?
Wir haben die Anschläge mit Erschütterung wahrgenommen. Es ist selbstverständlich so, dass wir das beobachten und gucken, was wir als Muslime dagegen tun können.

Das klingt ein bisschen pflichtschuldig. Müssten Sie sich nicht von sich aus ganz ausdrücklich von dieser Gewalt distanzieren?
Wir haben die terroristischen Anschläge verurteilt. Ihre Frage impliziert, als stünden wir diesem Terror nahe. Dem ist aber nicht so. Wenn gewaltbereite Muslime mit friedfertigen Muslimen in einen Topf geworfen werden, dann haben wir ein Problem. Was wir seit Jahrzehnten versuchen, zu erklären, ist, dass die Gewalt, die von Terroristen ausgeht, eine Perversion religiöser Ansichten sind und unserem Glauben, unseren Werten und Überzeugungen diametral entgegensteht.

Von dem Attentäter in Wien weiß man, dass er sich in einer Moschee radikalisiert hat. Sind Sie es nicht gerade den Jugendlichen schuldig, die Ihre Moscheen besuchen, sich von der Gewalt zu distanzieren?
Nach den Informationen, die wir aus Wien bekommen haben, kann ich das nicht bestätigen – im Gegenteil. Vielmehr haben die Täter alle gemeinsam, dass sie eben nicht in Gemeindestrukturen leben, sondern im sozialen Abseits, ohne Perspektive und deshalb ins Extreme verfallen sind. Der Täter und die anderen Tatverdächtigen sind vor dem Anschlag vielmehr in einem anderen Kontext aufgefallen. Da stellt man sich schon die Frage, warum der Staat nicht vorher gehandelt hat.

Viele Muslime berichten, sie würden nach den Anschlägen angefeindet.
Nach solchen Anschlägen wird immer eine „Islamdebatte“ geführt, die dazu führt, dass Muslime pauschal in Sippenhaft genommen werden, an den Rand gedrängt werden und dass wir uns rechtfertigen müssen. Auch Sie fragen mich, ob ich mich distanziere. Während und nach solchen Debatten verzeichnen wir mehr Übergriffe auf Muslime und ihre Einrichtungen. Insgesamt ist die Zahl der islamfeindlichen Straftaten in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. 

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Aber eine Debatte ist doch erst mal etwas Positives. Man kann Probleme nur lösen, wenn Muslime und Nicht-Muslime miteinander ins Gespräch kommen.
Ich sehe keine Debatte zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, sondern eine Debatte, die über die Köpfe und auf dem Rücken der Muslime stattfindet. Und wenn doch mit Muslimen gesprochen wird, dann nicht auf Augenhöhe.

Viele der Moscheegemeinden, die sie vertreten, gehören der islamistischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) an. Die wird in einigen Bundesländern immer noch vom Verfassungsschutz beobachtet, weil sie die Scharia über das Grundgesetz stellt. Müssen Sie sich da über islamfeindliche Reaktionen wundern?
Ich weiß nicht, woher sie diese Aussage haben. Das ist nicht das Ziel der Milli Görüs. Das ist eine Institution, die seit Jahrzehnten in Deutschland integrative Arbeit macht und auf dem Boden des Grundgesetzes steht. 

Der Bundesverfassungsschutz sieht das anders. Er ordnet die IGMG dem „legalistischen Islamismus“ zu, der zwar Gewalt ablehnt, aber versucht, den Mitgliedern ein islam-konformes Leben in Deutschland zu ermöglichen.
Es ist schon pervers, einer Religionsgemeinschaft vorzuwerfen, sie versuche ihren Mitgliedern ein islam-konformes Leben zu ermöglichen. Abgesehen davon ist das Problem des Verfassungsschutzes, dass er ein Bild von der IGMG zeichnet, das mehrere Jahrzehnte zurückliegt. Wenn Sie sich den Verfassungsschutzbericht des Bundes genau anschauen, werden sie feststellen, dass die Behörde nie Vertreter der IGMG zitiert, sondern stets vermeintliche Publikationen, die sie der IGMG zurechnet, was aber nicht stimmt. Nicht umsonst hat die IGMG viele Verfahren gegen unwahre Behauptungen in den Verfassungsschutzberichten gewonnen. Die Verfassungsschutzbehörden in vielen Ländern sind da schon viel weiter und erwähnen die IGMG schon lange nicht mehr.

Noch 2018 hat die Bundesregierung der Religionsbehörde die Einreise von 350 Imamen aus der Türkei genehmigt. 43 von ihnen wurden nach Angaben des Innenministeriums in Moscheen der Milli Görüs eingesetzt.
Die IGMG hat von Haus aus nie Imame der türkischen Diyanet beschäftigt. Als aber die Einreisebestimmungen geändert wurden und nur noch Imame der Diyanet nach Deutschland einreisen durften und in der IGMG ein Engpass vorhanden war, hat man aus der Zwangssituation heraus eine vorübergehende Vereinbarung mit der Diyanet getroffen. Seitdem beschäftigt die IGMG Imame von der Diyanet. Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied: Die Weisungsbefugnis haben ausschließlich die IGMG-Gemeinden, die auch die Löhne der Imame bezahlen. Dies ist allerdings ein Auslaufmodell. Die Zahl der Diyanet-Imame in IGMG-Moscheen geht immer weiter zurück weil der einstige Engpass zunehmend durch den eigenen Nachwuchs in Deutschland und Europa geschlossen wird.

Wie erklären Sie es sich dann, dass Lehrer in Berlin eine zunehmende Muslimisierung von Schülern beobachten? Aus Neukölln hört man, dass Mädchen, die das Kopftuch tragen, immer jünger werden.
Das ist ein vielschichtiges Phänomen und nicht neu. Hinterfragt werden müsste vielmehr, warum es als Problem empfunden wird, wenn Muslime ihre Religion auch im Alltag ausleben wollen. Wenn ein Mädchen – jeder kann für sich entscheiden, ob er das gut oder schlecht findet – in der Schule Kopftuch tragen möchte, verstößt es weder gegen Recht noch stört es den Schulfrieden, sondern sie macht von seinem grundrechtlich geschützten Recht Gebrauch, ihre Religion zu praktizieren. Warum ist das ein Problem?

Weil Muslime mit ihren Werten im Alltag anecken, wenn Eltern zum Beispiel ihren Töchtern die Teilnahme am Schwimmunterricht verweigern. So etwas muss man doch thematisieren.
Konfliktpotenziale sind da, aber man kann sie an einer Hand abzählen. Wenn man sich damit beschäftigt, dann sieht man, dass sie nicht größer geworden sind. Sie werden aber medial geschürt. Zum Schwimmunterricht gibt es übrigens inzwischen höchstrichterliche Entscheidungen. Daran halten sich muslimische Eltern in den allermeisten Fällen. Warum fällt es der deutschen Gesellschaft so schwer?

Verkehren Sie hier nicht Opfer und Täter?
Nein. Ich weiß im Übrigen nicht, wie Sie auf die Idee kommen, dass muslimische Kinder dem Schwimmunterricht fernbleiben. Es geht – so sieht es die Rechtsprechung vor – darum, ob sie bestimmte Schwimmbekleidung tragen dürfen. Es muss doch legitim sein, beispielsweise mit einer Badehose zu duschen, um seinen Intimbereich nicht zu zeigen. Solche Dinge aber werden jetzt politisiert.

Aber die Regeln in den Schwimmbädern sehen vor, dass man sich ohne Badebekleidung duschen muss. Warum sollten Muslime Sonderrechte genießen?
Die Frage lautet vielmehr, warum es so eine Regel gibt. In einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft müssen wir lernen, zu prüfen, ob bestimmte Regeln so geändert werden können, dass sich alle wohlfühlen.

Das heißt, aus Ihrer Sicht sollen sich Deutsche muslimischen Regeln anpassen?
Nein, das habe ich nicht gesagt. Es geht nur darum, zu schauen, ob man auf bestimmte religiöse Belange Rücksicht nehmen kann, was man in vielen Bereichen selbstverständlich tut.

Aber wo soll das hinführen? In der Türkei können deutsche Frauen auch nicht leichtbekleidet eine Moschee betreten. Was würden Sie denn so einer Frau sagen, wenn sie es damit begründet, ihr christlicher Glaube verbiete es ihr, sich zu verhüllen?
Der Vergleich hinkt und zeigt genau die Art der Diskussion, die ich meinte. Hier wird das Problem nicht verstanden. Wenn Sie die Diskussion um das Nacktduschen mit dem leichtbekleideten Besuch in einer Moschee vergleichen, dann kann ich nur sagen, dass wir aneinander vorbeireden.

Nach dem Mord an Samuel Paty wurde eine Schweigeminute für ihn abgehalten. In Berlin wurde die von einigen muslimischen Schülern boykottiert. Andere Schüler begrüßten die Tat sogar. Was sagen Sie dazu?
Wir haben die Schüler ermutigt, an dieser Schweigeminute teilzunehmen und gezeigt, dass wir als Muslime gegen Gewalt und Terror sind und diesen Mord verurteilen. Im Übrigen sind wir gerade dabei, das mit Expertinnen und Experten zu besprechen, um die Gründe zu erforschen. Wir sehen, dass es da ein Konfliktpotenzial gibt und dass man sich gegenseitig hochschaukelt. 

Wieso gegenseitig?
Es gibt Jugendliche, die versuchen klarzumachen, dass sie als Muslime immer zur Verantwortung gezogen werden. Wenn ein Schüler sagt: „Wissen Sie, dass am Tage nach der Enthauptung von Samuel Paty eine Muslimin mit Kopftuch am Eiffelturm umgebracht wurde?“, dann ist es so, dass Lehrkräfte so etwas oft nicht registrieren. Es gibt also eine sehr selektive Wahrnehmung solcher Verbrechen. Und das ist es, woran Jugendliche sich teilweise stören. Es stört sie, dass die Schweigeminute nicht auch für diese Terroropfer gehalten wird. Hier sehen wir unsere Aufgabe. Wir müssen beide Seiten sensibilisieren und Wege finden, wie eine bessere Kommunikation stattfinden kann.

Verharmlosen Sie die Reaktion der Jugendlichen da nicht, die sagen, Paty hätte es nicht anders verdient?
Nein. Ich habe ja gesagt, dass es ein Problem ist. Solche Reaktionen sind problematisch, und sie führen zu weiteren Problemen. In der Zwischenzeit müssen wir sowohl die Lehrer als auch die Schüler dafür sensibilisieren, besser miteinander umzugehen. 

In seiner Schmährede auf den französischen Präsidenten Emmuel Macron hat der türkische Präsident Erdogan auch Deutsche als Nazis beschimpft und von einer Lynchkampagne gegen Moslems gesprochen. Von türkisch-stämmigen Journalisten-Kollegen ist bekannt, dass diese Rede auch Gegenstand der Predigt in deutschen Moscheen war. Wie kommen solche nationalistischen Töne bei gläubigen, jungen Muslimen an?
In unseren Moscheen war weder die Rede noch die Reaktion darauf aus der Türkei ein Thema. Es gibt sicherlich Jugendliche, die sich das im Fernsehen oder im Internet anschauen. Es gibt aber auch solche, die sich das nicht anschauen. Wir müssen diese Diskussion in unseren Heimatländern führen.

Was ist denn Ihre Heimat? Deutschland oder die Türkei?
Wenn ich von Heimat rede, meine ich Deutschland, Frankreich oder Österreich, nicht die Türkei. Und genau da liegt das Problem, dass eine bestimmte Erwartungshaltung da ist. Als ich von Heimatländern gesprochen habe, haben Sie sofort die Türkei assoziiert. Solche Reaktionen begegnen uns oft, und es erschwert die Diskussion.

Liegt das Problem nicht daran, dass Sie in Deutschland nach muslimischen Regeln leben wollen, die Sie oder Ihre Eltern aus der Türkei mitgebracht haben?
Ich bin in Deutschland geboren, genauso wie die meisten Muslime in Deutschland die inzwischen in der 3. Und 4. Generation leben. Solange der Islam als etwas Fremdes, etwas Mitgebrachtes angesehen wird, werden wir Ihr Problem nicht lösen.

Wie sollen sich junge Moslems denn hier integrieren, wenn sie Erdogan gegen den deutschen Staat aufhetzt?
Ich bezweifle, dass Worte aus der Türkei hier in Deutschland großen Anklang finden. Aber unser Ziel muss es sein, die Jugendlichen dazu bringen, dass sie sich in Deutschland heimisch fühlen, mit Land und Gesellschaft identifizieren. Das können die islamischen Religionsgemeinschaften aber nicht alleine schaffen, das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir müssen Diskriminierung und Rassismus bekämpfen. Wir müssen also gucken, was wir in Deutschland machen können und nicht ins Ausland gucken.

Und, was kann man in Deutschland machen, um zu verhindern, dass aus friedlichen Muslimen Terroristen werden?
Es gilt dasselbe wie bei Neonazis. Täter haben oft dasselbe Profil: sie leben im sozialen Abseits, sind arbeitslos, fühlen sich von der Gesellschaft, in der sie leben, abgestoßen. Wenn es uns gelingt, Jugendliche in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt zu integrieren, haben es Terrororganisationen schwerer, Anhänger zu finden. Im Übrigen pauschalisieren Sie in Ihrer Frage maßlos. Es gibt Einzelfälle, über die wir reden können.

Aber auch in Deutschland gilt jetzt erhöhte Terrorgefahr. Darf man diese Frage nicht stellen?
Sie verallgemeinern. Das bringt nichts.

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

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