Moria und Moral - Der scheinheilige EU-Patriotismus der urbanen Eliten

Nach dem verheerenden Brand im Flüchtlingslager Moria zeigt sich wieder einmal: Die EU versagt in der Migrationspolitik. Trotzdem feiern gerade Progressive die Staatengemeinschaft als neue patriotische Instanz. Ein bizarrer Widerspruch.

Die EU steht nicht für die Menschenrechte ein, die sie sich auf die Fahne schreibt / dpa
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Autoreninfo

Judith Sevinç Basad ist Journalistin und lebt in Berlin. Sie studierte Philosophie und Germanistik und volontierte im Feuilleton der NZZ. Als freie Autorin schrieb sie u.a. für FAZ, NZZ und Welt. Sie bloggt mit dem Autoren-Kollektiv „Salonkolumnisten“. 

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„Schämen Sie sich, Horst Seehofer“, twitterte die Linkspartei, nachdem der Innenminister die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem zerstörten Camp Moria auf der Insel Lesbos verweigert hatte. Mit dem Hashtag „Wir haben Platz!“ beschwerten sich auch andere Social-Media-Nutzer darüber, dass Deutschland den Schutzbedürftigen bis dato kein Asyl gewährte, obwohl einzelne Kommunen und Städte öffentlich ihre Bereitschaft bekundeten.

Ein User auf Twitter mahnte etwa, dass diejenigen, die jetzt den Hashtag verwendeten, auch wirklich Platz für einen Flüchtling in ihrer Wohnung machen sollten. Nico Semsrott, Satiriker und Mitglied des Europaparlamentes, rief sogar dazu auf, Flüchtlinge in den Brüsseler Abgeordnetenbüros zu beherbergen.

Die Schuld liegt bei der EU

In den Medien greift wieder ein Reflex, der typisch für Deutschland ist. Die Deutschen wollen sich als hilfsbereite Helden sehen, ungeachtet der Konsequenzen, die eine Aufnahme der Flüchtlinge für die europäische Politik haben kann. „Wenn sich in Europa herumspricht, dass alle Flüchtlinge, die jetzt zur Debatte stehen, von Deutschland aufgenommen werden, werden wir nie eine europäische Lösung bekommen“, sagte Angela Merkel bereits Ende August, was auch die Zurückhaltung von Horst Seehofer erklärt. Dennoch wurde der Bayer erneut zur Zielscheibe des Hasses, indem er allein für das Leid der Obdachlosen verantwortlich gemacht wurde. Dabei liegt die Schuld für die fatalen Zustände auf Lesbos nur bei einer Institution: der EU.

Der Fall Moria zeigt erneut, dass der Staatenbund nicht in der Lage ist, für genau die Menschenrechte einzustehen, die sich die EU gerne auf die Fahne schreibt. Auch als während der Flüchtlingskrise tausende Migranten im Mittelmeer ertranken, fühlte sich kein Land für diesen fatalen Missstand verantwortlich.

Deutschland weigert sich zu Recht

Bis heute stehlen sich die Mitgliedstaaten aus der Verantwortung, schieben Zuständigkeiten hin und her und sind nicht in der Lage, sich darauf zu einigen, wie und auf welche Weise die EU mit einheitlichen Regelungen den Flüchtlingen zur Hilfe kommt. Deutschland weigert sich also zu Recht, wieder im Alleingang das Problem anzugehen, damit die anderen Mitgliedsstaaten sich – wie gehabt – bequem zurücklehnen können.

Vor diesem Hintergrund erstaunt es, was für ein Image Deutschland im Vergleich zur EU in der hiesigen Öffentlichkeit genießt. Deutschland hat während der Flüchtlingskrise so viele Migranten aufgenommen wie kein anderes Land in der EU. Merkel wurde für ihr humanitäres Motto „Wir schaffen das!“ auf der ganzen Welt gefeiert. Die Willkommenskultur in der Bevölkerung wurde zum Markenzeichen der Deutschen.

Die EU als patriotische Instanz

Was damals vorhanden war, zeigt sich auch jetzt wieder: Während viele EU-Länder dem Brand in Moria medial fast keine Beachtung schenkten und die Aufnahme von Flüchtlingen sofort verweigerten, versammelten sich tausende Demonstranten in den deutschen Städten und übten Druck auf die Politik aus. Kurz: Eigentlich sollten die Deutschen stolz auf ihre Humanität sein.

Stattdessen – und das ist das Bizarre – feiern genau die Menschen, die sich jetzt über die Missstände in Moria aufregen, die EU gerne als neue völkische Identität. So heften sich Progressive gerne die Europa-Flagge ins Social-Media-Profil, lassen sich mit Europa-Pullis auf Instagram ablichten oder bezeichnen sich als „überzeugte Europäer“, die von den „Vereinigten Staaten von Europa“ träumen. Die EU wird hier zu dem, was sich viele Deutsche nicht eingestehen können, weil sie im eigenen Land nur Spießbürger, Alt-Nazis und konservative Seehofers vermuten: Eine patriotische Instanz, mit der man sich nicht nur identifizieren, sondern auf die man auch stolz sein kann.

Die EU, eine leere Hülle

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will die offenen Grenzen und die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorteile, die sich durch die EU ergeben nicht abwerten oder infrage stellen. Mich wundert nur eines: Die große Bereitschaft, sich mit einem Staatenbund zu identifizieren, der politisch nicht nur häufig versagt, sondern der auch aus 27 Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Regierungen, Sprachen und Mentalitäten besteht und somit eine Diversität darstellt, die wohl nur die Wenigsten in ihrer Gesamtheit überblicken können – aber mit der man sich trotzdem gerne schmückt.

Kurz: Die EU als einheitliche, kulturelle Identität ist überhaupt nicht definierbar. Sie erscheint eher als eine leere Hülle, in der die urbanen Eliten eine progressive Utopie, den eigenen kosmopolitischen Lifestyle, hineinprojizieren. Und diese Identität ist mitunter so flach wie eine Profilbeschreibung auf Tinder: Ein „überzeugter Europäer“ ist prinzipiell „open-minded“, reist gerne, kennt die schicksten Cafés in Mailand, Berlin und Paris und glaubt sich besonders kultiviert, weil er in allen drei Städten eine Pizza in der Landessprache bestellen kann.

Wie eine Übermutter

Leer kommen einem auch die Phrasen vor, die in der Europa-Politik geäußert werden. So wünschte sich neulich ein User auf Instagram für die EU, dass man „unsere Konflikte beilegen, unsere Stärken vereinen und Hand in Hand in die Zukunft gehen“ solle. Die EU scheint für viele mehr mit dem euphorischen Gefühl vom letzten Interrail-Trip verbunden zu sein, als mit den realpolitischen Problemen, mit dem sich das Bündnis täglich konfrontiert sieht. 

Es liegt also im Wesen der EU, dass mit ihr fast immer ein unkonkretes, schwammiges und nicht greifbares Bild einhergeht. Dennoch wird das Bündnis häufig wie eine Übermutter behandelt, von der man erwartet, dass sie als letzte Instanz moralisch durchgreift, wenn es auf nationaler Ebene nicht funktioniert. Als ob sich die Probleme im eigenen Land in Luft auflösen, wenn man die politische Verantwortung an eine supranationale Instanz abgibt.

Das reicht nicht

Das kann mitunter fatal enden. So beschloss etwa die EU vor ein paar Jahren eine Kennzeichnungspflicht für Produkte aus israelischen Siedlungsgebieten. Andere Länder, die in umstrittenen oder besetzten Gebieten wirtschaftlich tätig sind, hatte die EU indes nicht auf dem Schirm. Stattdessen verglich der Generalanwalt des EuGH den demokratischen Staat Israels mit der südafrikanischen Apartheid, weswegen man Kunden eine „ethische Erwägung“ beim Kauf der entsprechenden Produkte ermöglichen wollte. Vor allem für Deutschland, das den Satz „Kauft nicht beim Juden!“ nur allzu gut kennt, dürfte diese Regelung wenig mit dem besonders menschenfreundlichen Image zu tun haben, das viele Progressive gerade feiern. 

„Europa hat etwas, was unschätzbar ist: Rechtsstaat, Freiheit, Demokratie, Offenheit für viele Lebensentwürfe – das finden junge Menschen nicht in China oder Russland“, erzählte Ursula von der Leyen vor einem Jahr bei einer Rede zum Mauerfall. Das mag sein. Für eine Identität, auf die man besonders stolz sein kann, reicht mir das persönlich aber trotzdem nicht.

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