Morddrohungen gegen Bürgermeister - „Das Gemotze über unsere Demokratie muss endlich aufhören“

Weil er Morddrohungen bekam, trat Markus Nierth 2015 als Bürgermeister von Tröglitz (Sachsen-Anhalt) zurück. Im Interview erklärt er, warum Facebook beim Kampf gegen ein Flüchtlingsheim eine zentrale Rolle spielte und was der Staat tun muss, um Amtsträger zu schützen

„Die Morddrohungen waren nicht das Schlimmste. Uns ist das soziale Umfeld weggebrochen“: Markus Nierth/ picture alliance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Markus Nierth war von 2009 bis 2015 ehrenamtlicher Bürgermeister der 3000-Einwohner-Gemeinde Tröglitz in Sachsen-Anhalt. Der Ort sorgte weltweit für Schlagzeilen, weil danach das örtliche Flüchtlingsheim angezündet wurde. Die Täter wurden nie gefasst. Nierth ist parteilos und wurde von der CDU für dieses Amt nominiert. Er ist evangelischer Theologe und Vater von sieben Kindern.  

Herr Nierth, Sie sind 2015 als ehrenamtlicher Bürgermeister der Gemeinde Tröglitz nach Morddrohungen zurückgetreten. Wie haben Sie auf die Nachricht vom Mord an Walter Lübcke reagiert? 
Meine Frau und ich, wir waren sehr erschrocken. Wir leiden innerlich mit Familie Lübcke mit. Es ist fürchterlich zu sehen, dass nach vier Jahren vermutlich ein Rechtsextremist umgesetzt hat, was damals uns schon angedroht wurde.

Seit dem Anschlag auf den Kasseler Regierungspräsidenten häufen sich bundesweit die Morddrohungen gegen Politiker. Sie sind zwar als Bürgermeister zurückgetreten. Haben Sie trotzdem eine Sekunde lang Angst gehabt, dass es Sie auch wieder treffen könnte?
Nicht nur eine Sekunde lang, das ist inzwischen unser Alltag. Dies ist ja die Strategie der Rechtsextremisten, Angst zu verbreiten, um die Zivilgesellschaft zu lähmen. 

Bis Ende 2014 galten Sie in Ihrer 3000-Einwohner-Gemeinde als äußerst beliebt. Plötzlich aber wechselten Bürger die Straßenseite bei Ihrem Anblick. Was war passiert? 
Wir haben uns für die Aufnahme von Flüchtlingen eingesetzt. Dagegen haben Wutbürger gemeinsam mit der NPD Demonstrationen organisiert. Und da der gesellschaftliche Widerstand dagegen ausblieb, wurde meine Familie zur einzigen Zielscheibe ihres Hasses. Deshalb sollte die neunte Demonstration vor unser Privathaus führen. Als uns auch noch das Landratsamt allein ließ und sich weigerte, die Demo mit Auflagen zu belegen, zog ich die Reißleine und trat zurück. 

Ende 2014 wiesen Sie die Einwohner in einem offenen Brief auf die geplante Unterkunft hin. Darin heißt es auch: „Wir möchten eigentlich keine Asylanten in Tröglitz haben, weil wir die bisherige soziale Struktur schon durch einheimische Kriminelle und sich unsozial benehmende Menschen genügend überanstrengt sehen.“ Haben Sie den Protest damit nicht geradezu herausgefordert? 
Der Entschluss, Ärger zu machen, stand da schon fest. Sie müssen dieses Zitat im Kontext des gesamten Briefes lesen. Einerseits hab ich gesagt, auch um die Menschen abzuholen: Eigentlich haben wir schon genug soziale Spannungen. Andererseits heißt es am Ende des Briefes klar: Aber die Flüchtlinge sind nun mal da, wir sollten sie jetzt, gerade vor Weihnachten, menschenfreundlich aufnehmen. 

Trotzdem: Würden Sie das nochmal so formulieren?
Nein, das war ein Fehler. Ich hatte gedacht, dass ich es mit mündigeren Bürgern zu tun habe. Ich hätte wissen müssen, dass einige längere Texte entweder gar nicht mehr zu Ende lesen oder sich nur das herausgreifen, was in ihr Weltbild passt. 

Von wem ging denn die Stimmungsmache im Ort aus? 
Es gab im Ort schon länger das Gerücht, dass bei uns Flüchtlinge untergebracht werden sollten. Ein NPD-Abgeordneter hatte das gestreut. Daraufhin haben Wutbürger eine Facebook-Seite gegründet: „Keine Asylanten für Tröglitz.“ 

Sie reden von „Wutbürgern“. Dass Menschen, die in ihrem Leben bislang kaum Kontakt zu Zugewanderten hatten, mit Sorge reagieren, ist doch erstmal nachvollziehbar. Oder nicht? 
Nein, das war gefestigter Rassismus. Der Hauptinitiator, ein LKW-Fahrer, berichtete andauernd auf seiner Seite, wie glücklich er darüber sei, dass die griechische Polizei das „Asylantenpack“ von seinem LKW herunter gedroschen habe.

Politiker streitet darüber, ob Hassbotschaften in soziale Netzwerken die Gewaltbereitschaft fördern. Was glauben Sie: Hätte der Protest gegen das Heim auch ohne Facebook solch ein Ausmaß angenommen? 
Nein, ohne Facebook wäre es nicht so weit gekommen. Am Anfang hat die Seite die Unsicherheit und Wut im Ort mit Gerüchten und Halbwissen entfacht. Per Facebook wurden die Einladungen geteilt, so dass bald gewaltbereite Rechte aus der ganzen Umgebung dazu kamen. Ohne Facebook wären selbst die „Wutbürger“ wohl für rationale Argumente mehr zugänglich gewesen. Stattdessen wurde die Stimmung durch gezielte Hetze hochgepusht.

Haben Sie den Konflikt nicht vielleicht noch selber damit angeheizt, indem sie alle Skeptiker als „Wutbürger“ diffamiert haben?
Diffamiert? Wer Bilder von geköpften Kleinkindern benutzt oder in ekelhafter, menschenverachtender Weise über Flüchtlinge hetzt, ist nicht nur mal mehr nur Wut-, sondern schon längst ein Hassbürger! Außerdem haben wir ständig aufgeklärt, was rassistisch und was völkisch-nationalistisch ist. Erstaunlicherweise fühlten sich „die Besorgten“ dennoch als Nazis beschimpft.

Was haben Sie dagegen unternommen? 
Ich habe mehrere Gemeindebriefe geschrieben und diese mit einigen Ortschaftsräten verteilt, immer mit der Aussage: „Vorsicht Leute, lauft nicht mit der NDP!“ 

Hat das irgendwen beeindruckt? 
Ja, ich wollte meine Einwohner davon abhalten, und das gelang größtenteils auch. Nach anfangs 90 Interessierten waren bei der zweiten Demo nur noch ungefähr 30 Tröglitzer dabei, aber etwa über 100 Neonazis von außerhalb.

Was waren die schlimmsten Sätze, die Sie auf der Facebookseite lesen mussten?
Es war das Foto eines geköpften syrischen Mädchens, das der Admin der Facebookseite „Tröglitzer“ gepostet hat. Darunter schrieb er: „Das werden wir hier auch bald haben.“ 

Sind alle Nutzer der Seite mit Klarnamen in Erscheinung getreten?
Einige schon. Das waren Menschen, die ich kannte.

Haben Sie gegen die Verfasser der Hass-Posts Anzeige bei der Polizei erstattet?
Natürlich, wir haben alles zur Anzeige gebracht – auch die anderen Sachen, die uns passiert sind. Aber in keinem einzigen Fall wurde ein Verfahren eröffnet. 

Was meinen Sie mit „den anderen Sachen“?
Die Morddrohungen und andere Briefe, in denen Kot drin war. In denen stand: „Lügenpack Nierth, verzieht euch aus Tröglitz!“ Meine Frau hat da beim ersten Mal hineingegriffen. Das war eine furchtbare Entwürdigung, ein Schock, der bis heute sitzt. 

Zum Zeitpunkt der Tat haben drei Ihrer sieben Kinder noch zu Hause gelebt. Wie haben die auf die Drohungen reagiert?
Ich bin meiner Kinder zuliebe zurückgetreten, als ich erfuhr, dass eine Demo zu unserem Haus führen sollte. Ich wollte nicht, dass die hassverzerrten Gesichter der Demonstranten in ihre Kinderzimmer schauen. Natürlich wurden sie durch die Morddrohungen verängstigt. 

Welche Spuren haben die Drohungen bei Ihnen hinterlassen? 
Wir haben hier in Tröglitz keinen Raum mehr, uns gesellschaftlich mit einzubringen. Die Erde hier ist für uns verbrannt. Es hat uns bis heute viel Lebensfreude gekostet. Die Morddrohungen waren dabei gar nicht das Schlimmste. Uns ist das soziale Umfeld fast komplett weggebrochen. Ursache und Wirkung haben sich verdreht. Wir sind nun die „Nestbeschmutzer“. 

Was hat man Ihnen genau vorgeworfen?
Dass wir diejenigen gewesen seien, die die Medien in den Ort geholt hätten. Dabei waren wir ja nicht der Auslöser. Die Interviewanfragen haben wir angenommen, weil uns geraten wurde, die Morddrohungen öffentlich zu machen, um geschützter zu sein. Nachdem die örtliche Flüchtlingsunterkunft nach meinem Rücktritt abgebrannt ist, hat nicht mehr nur Deutschland, sondern Europa und die halbe Welt auf Tröglitz geschaut. Und das Interesse war ja berechtigt. 

Gab es gar keine Solidarität?
Doch, nach meinem Rücktritt gab es Anteilnahme und Blumen. Aber als die Flüchtlingsunterkunft brannte und der zweite Medienhype begann, zogen sich viele Einwohner zurück. Noch lange kamen aus ganz Deutschland viele ermutigende Briefe und Zeichen.

Sie haben danach neun Monate Polizeischutz bekommen. Wie sah der aus?
Tag und Nacht stand ein Bus mit Polizisten vor unserer Haustür, die auch Streife ums Haus liefen. 

Wie fühlt sich das an?
Als ob man die Gefahr plötzlich gespiegelt sieht. Ein paar Freunde meiner Kinder durften nicht mehr vorbei kommen. Aus unserer Tanzschule haben sich Kunden abgemeldet, weil sie Angst hatten. 

Wie groß war Ihre Angst als Familienvater? 
Riesengroß, weil man sich mehr um die Anderen als um sich selber sorgt. Ich hatte nach einiger Zeit gar nicht mehr so sehr Angst vor dem eigenen Tod. Ich habe mich eher mit der Sorge um das Danach gequält. Was würde dann aus meiner Frau und den Kindern? 

Die Strafverfolgung der Täter ist das eine. Als Sie jetzt bei Maybrit Illner in der Talkshow aufgetreten sind, haben Sie gesagt, jetzt  müsse es auch darum gehen, die schweigende Mehrheit zu mobilisieren. Warum ist Ihnen das in Tröglitz nicht gelungen?
Das fragen wir uns bis heute, zumal bei der nächsten Landtagswahl der AfD-Rechtsaußen-Hardliner André Poggenburg von 36 Prozent der Tröglitzer gewählt wurde, die NPD kam auf 5,5 Prozent. Dann gibt es eine scheinbar unpolitische Mitte, die aber dennoch politisch wirkt, weil sie dauermotzt über den Staat und somit die Rechten stärkt. Wenn nur eine Handvoll sozialer Autoritäten Gesicht gezeigt und sich zu uns gestellt hätten, hätten die Rechten nicht die Stimmungshoheit gewonnen. 

Wieviele bleiben dann noch übrig?
Ich schätze, ein Drittel der Bürger sind uns wohl gesonnen. Aber es trauen sich nicht alle, lauter zu werden. Vielleicht haben sie Angst davor, von Rechten bedroht zu werden. Vielleicht ahnen sie, dass auch sie von der Dorfgemeinschaft geächtet würden.

Der oder die Täter, die den Brandanschlag auf das Flüchtlingsheim verübt hatten, wurden nie gefasst. Welches Signal hat das an die Bevölkerung gesandt? 
Es hat verhindert, dass wir rehabilitiert wurden. Im Dorf wird ja immer noch geredet, es seien gar nicht die Rechten gewesen, sondern die Linken. Oder es sei „der Nierth“ selbst gewesen. Dabei ist es ein lautes Geheimnis, dass es einige Menschen gibt, die den Namen des Täters kennen.

Sie wohnen immer noch in Tröglitz. Hat sich die Spannung im Ort viereinhalb Jahre nach Ihrem Rücktritt gelegt
Nein, das Leben hat sich für uns eher noch verschlechtert. Man hat es uns übel genommen, dass wir auch weiterhin nicht geschwiegen haben. Der neue Ortsbürgermeister hat uns sogar ermahnt, wir sollten keine Interviews mehr geben. 

Und, was haben Sie ihm geantwortet?
Wir werden das tun, was wir für richtig halten. Es ist die Öffentlichkeit, die uns geschützt hat, weshalb die Rechten sich zurück gehalten haben.

Müssen Sie unter diesem Aspekt nicht Angst haben, dass jetzt auch dieses Interview gegen Sie verwendet werden kann? 
Ja, meine Frau und ich wählen unter den Medien-Anfragen sorgfältig aus. Es ist uns bewusst, dass jedes Interview unsere Gefahrenlage erhöhen könnte.

Warum nehmen Sie dieses Risiko trotzdem auf sich? 
Diese schweigende Mitte ist der Grund, warum ich weiter in die Öffentlichkeit gehe. Ich will nicht, dass die Rechten unser Land wieder unter ihre Herrschaft bringen. Solange die breite Bevölkerung nicht laut wird und sich mutig gegen rechten Hass und Hetze aufsteht und sich zu ihren gewählten Politikern stellt, werden auch Polizei und Justiz unsere freiheitliche Demokratie nicht wirklich schützen können.

Haben Sie nie mit dem Gedanken gespielt, wegzuziehen?
Doch, jeden zweiten Tag. Wir sind selbstständig und werden wirtschaftlich boykottiert. Ich habe unseren Hof als Familienburg für unsere Kinder gebaut, wir wollten hier unsere Enkel aufwachsen sehen. Nun werden unsere erwachsenen Töchter verständlicherweise nicht mehr zurückkommen. Und wir werden spätestens im Alter hier wegziehen.

Sie sind kein Einzelfall. Die Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger werden seit einiger Zeit statistisch erfasst. 2018 waren es 1256 Delikte. Die Zahl geht seit Jahren leicht zurück. 
Ich habe Zweifel, dass diese Statistik ansatzweise stimmt. Viele Bürgermeister trauen sich doch gar nicht mehr, Straftaten anzuzeigen, weil sie ahnen, dass sie dann sozial geächtet werden – oder weil diese sowieso nicht ernsthaft verfolgt wird.

Woher wollen Sie das wissen?
Wir haben Kontakt zu ehemaligen Kollegen. Viele sind genauso resigniert wie ich. Anzeige zu erstatten, das bringt scheinbar nichts. Es kostet bloß Zeit, Kraft und Nerven. Unsere Anzeigen zum Beispiel sind alle bei der Justiz hängengeblieben. Das hinterlässt ein sehr mulmiges Gefühl. 

Was muss der Staat tun, um Menschen wie Sie zu unterstützen?
Diese Hasskriminalität im Internet muss stärker sanktioniert werden. Und die Politik ist gefragt, Polizei und Justiz von rechten Verflechtungen zu befreien.

Sie sind als Bürgermeister zurückgetreten, das Flüchtlingsheim in Tröglitz ist abgebrannt. Die Rechten haben gewonnen. Wem soll Ihre Geschichte jetzt noch Mut machen, sich ehrenamtlich in der Kommunalpolitik zu engagieren?
Das Gemotze über unsere Demokratie muss endlich aufhören. Wir müssen erkennen, was für einen Schatz wir da kaputtmachen, auch wenn es einige Ungerechtigkeiten gibt. Entweder, wir setzen uns selbst für ein besseres Miteinander ein – oder halten besser die Klappe. Diese ewige Ausrede, man könne nichts bewegen, ist Quatsch. Ich konnte als Ortsbürgermeister sehr viel bewegen, und sei es, dass ich Kinderspielplätze ausgebaut habe. Noch wichtiger aber war etwas anderes. 

Was denn?
Bürgermeister sind auch Kümmerer. Ich habe als „Seelsorger des Ortes“ ganz viel Frust abfangen können. 

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