Moralismus - „Politik ist das laute ‚Entweder‘, das ein leises ‚Oder‘ immer mitdenkt“

Franz Blei schrieb 1932 eine Biographie über Talleyrand, den Außenminister Napoleons. Darin beschreibt er glasklar, woran die politische Debatte krankt. In einer Zeit des rigorosen Moralismus ist seine Diagnose aktueller denn je 

Ikone des rigorosen Moralismus: Greta Thunberg / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Seltsame Zeiten sind das. Und schwere für den vernünftigen, den fairen politischen Diskurs. Da reist ein 16jähriges Mädchen durch die Welt, das sagt: „Ich möchte, dass ihr die Angst spürt, die ich spüre“, und alle Welt weiß dass dieses Mädchen eine Krankheit hat, die zur verzerrten Wahrnehmung, auch zu Angstzuständen führen kann. Aber weil sie in ihrer Botschaft der Klimarettung sakrosankt ist, dass (existenziell wichtige) das Ziel jedes Mittel rechtfertigt, wird das stillschweigend akzeptiert. 

Hingegen wird sofort zur Phobie erklärt, genauer: zur Islamophobie erklärt, wenn im anderen großen Thema unserer Zeit jemand den Hinweis gibt, dass die massive Migration aus dem entsprechenden Kulturraum mit einigen Kollateralerscheinungen einhergehen wird, wenn beide Kulturräume aufeinanderprallen. 

Schlag nach bei Franz Blei 

Hier ist etwas gewaltig verrutscht, man sucht dafür Erklärung und Halt. Und findet ihn manchmal in Texten, die lange vor dieser bestimmenden Phänomenologie unserer Zeit geschrieben wurden. Unlängst wurde ein Text von Theodor W. Adorno exhumiert, der das Erstarken von Rechtsaußen in den dreißiger Jahren analysierte  und viele jedenfalls diskutable Erklärungsmuster für den erstarkenden Rechtspopulismus heute bereit hielt. 

Eine eigene Lesefrucht dieser Tage im Zusammenhang mit dem schiefen politischen Diskurs dieser Tage, Woche und Jahre: Die Talleyrand-Biographie von Franz Blei von 1932. Franz Blei war ein österreichischer Schriftsteller, Übersetzer und Intellektueller, Zeitgenosse und Freund des großen Robert Musil. Herausgeber diverser Kulturessays und Zeitschriften. Bekannt geworden vor allem für sein spöttisch-ironisches „Großes Bestiarum der deutschen Literatur“.

Woran der politische Diskurs krankt

Seine stilistisch und gedanklich bestechende Biographie des Außenministers von Napoleon Bonaparte beginnt mit einem großen Gedanken, der wesenhaften Unterscheidung von Religion und  Politik. „wenn wir das Unbedingte in der Glaubenshaltung sehen“, hebt Blei an, „so ist es das Wesen des Politischen, daß es im Bedingten existiert“. Das Absolute: Das Reich des Glaubens. Das Bedingte: Das Reich der Politik. Logisch fährt Blei fort: „Politik kann immer nur von und mit Menschen gemacht werden, die mit sich reden lassen.“ Jeden Satz muss man hier nachhallen lassen: Politik ist nur möglich „von und mit“ Menschen, die mit sich reden lassen. Und so mündet der erste Absatz seines Buches in der logischen Schlussfolgerung: „Sie (die Politik. Anm. d. Autors) ist die Nachgiebigkeit scheinbar unnachgiebiger Überzeugungen, Interessen, Haltungen.“

Schließlich: „Sie ist ein lautes Entweder, das sich auf ein leises Oder eingestellt hat.“ Der Wesenskern der Politik: dass sich ein lautes Entweder immer auf ein leises Oder einstellt und es auch für zulässig, geradezu notwendig für die Existenz des Politischen erachtet. Das scheint – mir jedenfalls – der entscheidende Verlust des politischen Diskurses unserer Zeit zu sein: Im überzeugten Entweder das Oder mitzudenken. Oder zu wissen, dass es kommen wird. Kommen darf. Kommen MUSS!

Politik vor der Hermetik der Echoblase

Was haben sich Franz Josef Strauß und Herbert Werner für erbitterte politische Duelle geliefert. Und sich doch hinterher auf ein Bier zusammensetzen können. So geht Politik. So ging Politik, muss man sagen. Vor der Hermetik der Echoblase. Und der Erhebung mancher politischer Positionen ins Unbedingte, ins Religiöse. Einen Politiker-Typus macht Blei, 1932 wohlgemerkt, aus, der sich für den politischen Diskurs als letal erweist. „Der rigorose Moralist“, schreibt Blei, „kann das Politische und den Politiker aufheben und hat es als dessen Antagonist immer getan.“ Und weiter: „Von der rigorosen Moral her gesehen ist Politik immer unmoralisch“. 

Der politische Moralist als Antagonist des Politikers und als jemand, der sich über ihn erhebt. Frage während der Lektüre Bleis: Könnte es sein, dass derzeit zu viele politische Moralisten im Gewand des Politikers unterwegs sind und den Wesenskern der Politik so zerstören? Man liest gebannt weiter und kommt an diese Stelle, die in einen unerhörten Schluss mündet, den Zusammenhang des politischen Moralismus mit dem Totalitären: „In Zeiten solchen moralischen Rigorismus wird man bis zum Auftreten des Diktators den Politiker vergeblich sich bemühen sehen.“ Den einen oder anderen politischen Raum auf dieser Welt gibt es schon, an dem der politische Rigorismus als falsch verstandener Ersatz für Politik in diese Richtung geführt hat. Es wäre wünschenswert, diese Zusammenhänge mehr zu erkennen, um dieser unseligen Entwicklung Einhalt zu gebieten. Blei lesen hilft da sehr. 

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