Monika Maron über Merkel und den Osten - „Es gibt diktatorische Elemente in der Demokratie“

In einer überraschend persönlichen Rede zur Wiedervereinigung hat die Bundeskanzlerin kritisiert, dass ihre eigene Ost-Biographie von der CDU als „Ballast“ bezeichnet wurde. Hat Merkel plötzlich ihr Herz für den Osten entdeckt? Monika Maron sieht in dem Statement einen strategischen Schachzug.

„Ich baue ja die Ecken nicht, sondern stoße mich nur daran und nehme die blauen Flecken hin“: Monika Maron / dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Monika Maron gilt neben Christa Wolf als wichtigste Schriftstellerin mit Wurzeln in der DDR. Ihr erster Roman „Flugasche erschien 1981 im westdeutschen S. Fischer Verlag. Zuletzt hatte sie für Schlagzeilen gesorgt, weil sich ihr Verlag nach 40 Jahren von ihr getrennt hatte – mit Hinweis auf ihre Positionen in der Flüchtlingsfrage, zum Islam sowie zum Gendern. 

Frau Maron, die Bundeskanzlerin hat in einer überraschend persönlichen Rede in Halle am Tag der Wiedervereinigung darüber geklagt, dass sie als Ostdeutsche diskriminiert werde. In einem 2020 von der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegebenen Buch über die CDU heißt es, sie, „die als 35-Jährige mit dem Ballast ihrer DDR-Biographie in den Wendetagen zur CDU kam, konnte natürlich kein von der Pike auf sozialisiertes CDU-Gewächs altbundesrepublikanerischer Prägung sein“. Die Kollegin Anja Reich von der Berliner Zeitung schrieb, sie habe mit den Tränen kämpfen müssen, weil sie gespürt habe, welchen Mut es Merkel kostete, diese Rede zu halten. Was haben Sie gedacht?

Grundsätzlich fand ich es schon immer ziemlich simpel und auch unklug, Merkels Wesen auf ihre Ost-Herkunft zurückzuführen.

Käme sie aus Afrika, würde man sagen, es sei rassistisch.

Es ist dumm, weil es viele andere Beispiele gibt. Also, ich komme auch aus dem Osten, sogar aus einer kommunistischen Familie, und ich denke ganz anders als Frau Merkel. Ich glaube, die Lösung des Rätsels liegt eher in ihrem Charakter als in ihrer ostdeutschen Herkunft. Sie hat ein sehr sensibles Verhältnis zur Macht. Das hat sie im Osten genutzt, um sich dem Regime weitgehend zu entziehen. Sie ist ja im Osten gut durchgekommen. Mit der gleichen taktischen Intelligenz ist sie im Westen an die Macht gekommen und hat sie auch behalten. Ich denke, sie ist dabei eher den Erfolgsaussichten gefolgt als einem politischen Interesse.

Das ist so, als würde man einem Lehrer sagen, er hätte den Beruf nur wegen der Ferien gewählt und nicht wegen der Kinder. 

Ihr Interesse an der Macht ist offensichtlich größer als an politischen Zielen. Anders lässt sich ja gar nicht erklären, warum sie sich im Lauf der Zeit so vollkommen widersprüchlich geäußert hat – egal, ob es um Migration oder Kernenergie ging. Jeder weiß ja, dass die Toten in Fukushima Opfer des Tsunamis und nicht des Atomunfalls waren. Als Naturwissenschaftlerin weiß sie das erst recht. Trotzdem nimmt sie das zum Anlass, um die schon beschlossene Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke auszusetzen und den Atomausstieg übers Knie zu brechen. 

Bisher hat Merkel ihre ostdeutsche Herkunft aber kaum thematisiert. Warum macht sie es jetzt, kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit?

Naja, ich denke, es geht auch um den Nachruhm. Wie wird man später über sie sprechen?

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Sie möchte als die Frau in die Geschichte eingehen, die Ost und West miteinander versöhnt hat?

Wohl kaum. Sie hat einen Mann wie den Ostbeauftragten Marco Wanderwitz eingesetzt und unterstützt, der den Ostdeutschen zu großen Teilen Demokratie-Unfähigkeit bescheinigt. Es wäre doch furchtbar für sie, wenn man ihr nun auch noch nachsagt, dass sie nicht in der westdeutschen Gesellschaft angekommen ist – nur auf andere Art als die AfD-Wähler.

Welches Bild von sich will sie denn hinterlassen?

Schwer zu sagen. Sie will auf jeden Fall nicht als die Frau in die Geschichte eingehen, die die CDU ruiniert hat. Das wäre doch schlimm. Sie hat es aber getan, wenn auch nicht allein.

Tatsächlich hat die Partei bei der Bundestagswahl gerade das schlechteste Ergebnis ihrer Nachkriegsgeschichte erzielt. Aber liegt das nicht auch daran, dass sie so fokussiert auf Merkel war, dass sie ohne sie in ein tiefes Loch fällt? 

Die CDU hat sie 16 Jahre lang wie eine Monstranz vor sich hergetragen – ihre Mitglieder waren ja nicht alle aus dem Osten. Sie hat ihnen ja gefallen. Offenbar haben sie sich in ihr verkörpert gesehen.

Weil sie ausstrahlt, dass sie nicht einmal ein herabstürzender Meteorit aus der Bahn werfen könnte?

Die meisten Menschen halten sie für nicht korrupt, wobei sie vergessen, dass nichts so gründlich korrumpiert wie Macht. Man kann Angela Merkel nicht vorwerfen, sie allein habe die CDU ruiniert. Die CDU hat sich ja begeistert ruinieren lassen und hat zugesehen, wie ein starker Mann nach dem anderen in der Versenkung verschwand.

Aber wie hat sie das geschafft? Als Frau in der CDU – und dann noch als eine, die keinen Stallgeruch mitgebracht hat, weil sie aus dem Osten kommt.

Eigentlich hat sie sich während ihrer ganzen Amtszeit als geschlechts- und herkunftslose Person inszeniert. Aber die Selbstinszenierung entgleitet ihr nun. Sie sieht, dass jetzt schon kritischer über sie geschrieben wird. Wenn sie ganz weg ist, gibt es keine Schonung mehr. Und schon gar nicht, wenn die CDU sich tatsächlich in der Opposition erneuern sollte. Dann darf kein Stein auf dem anderen bleiben, wird ja jetzt schon gefordert. Dann steht auch ihre Rolle zur Diskussion.

Sie haben ihr schon in der Flüchtlingskrise Kopflosigkeit vorgeworfen. Müssen Sie ihr nicht zumindest dafür Respekt zollen, dass sie es als Frau geschafft hat, diese Männerpartei CDU aufzumischen?

Ich gebe zu, dass es mir am Anfang imponiert hat, wie sie jeden Abend vor der Kamera stand und wie ein Herold die neuen Schrecklichkeiten in der Kohl-Geschichte verkündet hat.

Die Kaltblütigkeit hat Sie beeindruckt?

Nein, die Sachlichkeit. Die Männer, die sie nicht wollten, dachten wahrscheinlich, die ist hinterher verbrannt, wenn sie den Kohl abgesägt hat. Stattdessen schwärmte plötzlich jeder Taxifahrer von „Angie“. Ich habe sie einmal getroffen, weil ich etwas über sie geschrieben habe und herausfinden wollte, ob es stimmt, was ich über sie denke.

Und, stimmt es?

Sie hat mir anhand eines physikalischen Kugel-Experimentes erklärt, was passiert, wenn man sich so oder so verhält. Und dann sagte sie: „Ich bin 45 – ich hab Zeit.“ Das hat mir auch imponiert, weil es so unhysterisch war und so klar. Was es bedeutet, habe ich erst viel später verstanden: Es war eine ganz kühle Machtkalkulation. Welche Kugel sie nun im Augenblick wieder über eine schräge Ebene schiebt, weiß ich nicht (lacht).  Aber ich glaube nicht, dass es um den Osten oder überhaupt um Deutschland geht. Es geht um Macht und was davon übrig bleibt.

Das könnte man über Adenauer, Brandt, Schmidt, Kohl und Schröder auch sagen. Warum kreiden Sie es Merkel als Malus an?

Weil bei ihr damit keine politischen Überzeugungen verbunden waren, jedenfalls nur beliebig veränderbare. Und alle Kanzler vor ihr waren heftigster Kritik und Angriffen der Medien ausgesetzt. Bei Merkel war es zum ersten Mal so, dass sie bis zur Coronakrise als Kanzlerin unantastbar war. Es gab auch keine wirkliche Opposition mehr im Parlament außer der AfD, aber die zählte nicht. Egal, ob in der Migrations- oder in der Klimapolitik: Alle waren sich in allem einig, obwohl es eine starke Opposition in der Bevölkerung gab. 

Aber diesen Schuh müssen sich die Grünen und die FDP anziehen, nicht die Kanzlerin.

Auch, aber sie hat eigentlich jeder Partei die Themen weggesaugt und zu ihren eigenen gemacht.

Was Angela Merkel jetzt in ihrer Halle-Rede gesagt hat, dürfte aber Balsam auf den Wunden der Menschen sein, die sich als Verlierer der Wende sehen. Zählen Sie sich auch dazu?

Nein, gar nicht. Ich empfinde meine Ost-Vergangenheit auch nicht als Ballast. Sie ist sogar ein Gewinn, etwas, das Westdeutsche nicht haben. Ich kenne beides.

Sie fühlen sich nicht als Bürgerin zweiter Klasse?

Nein, ich sowieso nicht, ich bin privilegiert. Aber ich denke auch nicht in Ost und West oder in Rechts und Links. Es ist auch nicht meine Erfahrung, dass bestimmte Gedanken und Gefühle geografisch verankert wären.

Was kann denn der Westen vom Osten lernen?

Viele Ostdeutsche haben das Gefühl, sie hätten gewisse Formen politischer Indoktrination schon einmal in der DDR erlebt.

Da bin ich als im Westen sozialisierte Frau aber gespannt: Wie kann man eine Diktatur mit einer Demokratie vergleichen?

Von einer Diktatur würde ich ja auch nicht reden. Aber es gibt autoritäre und diktatorische Elemente.

Zum Beispiel?

Autoritär ist zum Beispiel die Genderei. 70 Prozent der Bevölkerung wollen sie nicht. Aber die Leute, die in den Universitäten, Rathäusern oder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk an den Mikrofonen sitzen, meinen wohl: Jetzt erst recht, wir hämmern das so lange in die Köpfe der Menschen, bis sie das irgendwann für vernünftige Sprache halten. Das ist eine Vergewaltigung der Sprache. 

Aber Frau Maron, bei allem Respekt: Wie albern ist der Streit um das Gendersternchen im Vergleich dazu, dass es Ihnen in der DDR ging wie vielen oppositionellen Autoren, die ihre Bücher nicht veröffentlichen durften? 

Das kann man sehr wohl vergleichen, weil da etwas von einer medial herrschenden, nicht legitimierten Minderheit gewaltsam durchgesetzt wird. So etwas hat es auch in der DDR gegeben. Und diese Gender-Aktivisten haben die politische Deutungshoheit gewonnen: Wer nicht gendert, ist rechts. 

Sagt wer?

Das haben einige Zeitungen auch über mich geschrieben, es gehört zu den Merkmalen der Rechts-Verdächtigen. Aber als Schriftstellerin kann ich nur gegen das Gendern sein. Mit dem Quatsch kann man doch kein Buch schreiben. 

Aber mal ehrlich, brechen Sie sich einen Zacken aus der Krone, wenn Sie Ihre „Leser und Leserinnen“ ansprechen?

Warum sollte ich? In der Aufzählung merken Sie, wie albern das ist. Die Autoren und die Autorinnen, die Lektoren und die Lektorinnen, die Leser und die Leserinnen, das kann ich endlos aufzählen. So kann man nicht reden, und so kann man nicht schreiben. Ich will das nicht. Dabei ist die Doppelnennung noch die mildeste Form. Am Ende wird die weibliche Endung noch verschluckt. Und was kommt dabei heraus? Liebe Leser und liebe Leser.  

Aber würden Sie deshalb von einem  Déjà-vu-Erlebnis aus der DDR sprechen?

Ich kann nur sagen, wann ich dieses Gefühl zum ersten Mal hatte. Es war 2015, in der Flüchtlingskrise, ich saß nachts mit Freunden in Vorpommern unterm Himmel. Wir haben uns gefragt: Wie soll das gut gehen? Und im gleichen Moment dachte man schon, eigentlich darf man das nicht sagen, ohne dem Verdacht der Ausländerfeindlichkeit anheimzufallen. Dieses ohnmächtige Gefühl, dass etwas geschieht, das die Mehrheit so nicht will und auch nicht versteht, das aber gewaltsam durchgesetzt wird, das kannten wir schon. 

Fällt Ihnen ein vergleichbares Erlebnis aus der DDR ein?

Ach, Gott. In der DDR war das Alltag. Man kann nicht sagen, es sei ständiger Frust oder ständiger Aufruhr gewesen. Man hat sich eben Möglichkeiten gesucht, sich zu wehren. Aber natürlich war das schrecklich, als ich noch für Zeitungen gearbeitet und Reportagen aus Betrieben geschrieben habe und dabei immer überlegen musste: Wie kann ich das schreiben? Das konnte schon mal in pubertären Wutausbrüchen enden. 

Erzählen Sie mal.  

Ich habe im Zimmer eines stellvertretenden Chefredakteurs vor Wut in dessen Topf mit Büroklammern gegriffen und durchs Zimmer geschmissen (lacht). Zur Strafe musste ich Leserbriefseiten gestalten. Ich habe dann eine Seite zu Schichtarbeitszeiten und eine über Teilzeit gemacht. Mit beiden Seiten habe ich Diskussionen in Gang gesetzt, die dann alle nicht wollten. Und dann musste ich in die Presseabteilung des Zentralkomitees der SED (ZK). Ich bin da im sehr knappen Minikleid hingegangen. Auch darüber haben sie sich beschwert. 

In einem Interview haben Sie sich mal als „freiheitssüchtig“ beschrieben. Wie konnten Sie sich mit so einem System arrangieren?

Man arrangiert sich ja nicht, man eckt ständig an. Ich habe fast für jede meiner Reportagen eine Prämie bekommen. Dann stand aber am Schwarzen Brett: Monika Maron bekommt nur die Hälfte der Prämie, weil sie wieder unpünktlich war oder dies und das gemacht hat. 

Kann es sein, dass Ihnen das Anecken Spaß gemacht hat?

Nö, es macht mir heute noch keinen Spaß. Ich baue ja die Ecken nicht, sondern stoße mich nur daran und nehme die blauen Flecken hin.

Ist es das, was der Ostbeauftragte Marco Wanderwitz meint, wenn er sagt, ein Großteil der DDR-Bürger sei diktaturgeschädigt?

Ach, Wanderwitz. Ich denke, wir sind aus Erfahrung nur empfindlicher für autoritäre und ideologische Anmaßungen.

Im Osten hat die AfD bei der Bundestagswahl zugelegt. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Ohnmachtserfahrung in der DDR und der Faszination für eine Partei, die per se gegen alles ist, was die Bundesregierung beschließt?

Ich kann Ihnen ein Beispiel aus meiner Gegend in Vorpommern erzählen. Diese Gegend wird von Windrädern umzingelt. Und die Bewohner haben alles versucht, um sich dagegen zu wehren. Sie haben Mahnwachen gehalten, Bürgerinitiativen und sogar eine Partei gegründet: Freier Horizont.  Sie haben Frau Schwesig eingeladen. Alles vergebens. Da werden illegal Flächen für neue Windräder freigegeben, obwohl längst viel mehr Windräder da stehen, als für die Flächen vorgesehen sind. Ungefähr 20 Prozent wählen da jetzt die AfD – nicht, weil sie die so toll finden, sondern weil es die letzte Form des Protests ist, die ihnen noch einfällt.  

Gut, aber was ist mit den übrigen 80 Prozent? Nach einer Allensbach-Umfrage von 2019 halten nur 42 Prozent der Ostdeutschen die Demokratie für die beste Staatsform. Im Westen sind es 77 Prozent.

Ich möchte die Umfrage sehen. Ich habe selbst einmal an so einer Umfrage teilgenommen, die Fragen konnte man nur mit Ja oder Nein beantworten, nicht mit Aber. Und dann sagen die Leute halt irgendwas. Ich glaube nicht, dass die alle gegen die Demokratie sind. Sie stellen sich eine  Demokratie nur anders vor. Ein Parlament mit einer richtigen Opposition. Ein öffentlich-rechtliches Fernsehen, in dem auch ihre Meinung vorkommt. Vielleicht wünschen sie sich auch Volksabstimmungen. Aber auf keinen Fall wünschen sie sich doch eine Diktatur.

2017 haben Sie in einem Gastbeitrag für die NZZ geschrieben, Sie würden die FDP wählen, weil Sie damit am wenigsten Schaden anrichten. Für wen haben Sie diesmal gestimmt?

Wieder für die FDP, ja. Es ist die einzige Partei, die noch von Freiheit spricht. Bei den anderen kommt das Wort nicht vor.

Gut, mit Freiheit meint die FDP aber in erster Linie die Freiheit der Selbstständigen und Unternehmer.

Nein, sie meinen auch die Freiheit und Selbstverantwortung der Bürger. Und sie meinen die Mittelständler. Was machen wir denn ohne Industrie in diesem Land? Im internationalen Vergleich sackt Deutschland in allen Bereichen ab: in der Wirtschaft, in der Bildung, in der Forschung sowieso. Was soll denn werden aus diesem Land? 

Neben den Grünen hat die FDP am meisten Erstwähler gewonnen. Hat Sie das überrascht?

Nein, diese ganzen alten Gesichter, die einem seit Jahren in immer neuen Funktionen präsentiert werden, die will man nicht mehr sehen. Die Generation der 40- bis 50-Jährigen muss doch irgendwann ihr Leben organisieren dürfen. Aber dann sitzt da immer noch der alte Schäuble und zieht die Fäden – und er zieht sie so falsch, dass seine Partei pleitegeht.

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

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