Mit massenhaften Straftaten die Politik in die Knie zwingen - Das 9-Euro-Ticket zum Selber-Basteln

Fragt man die aktuelle Bundesregierung, dann ist das 9-Euro-Ticket ein „voller Erfolg“ gewesen. In den Monaten Juni, Juli und August konnte man mit neun Euro pro Monat nicht nur Bus und Straßenbahn, sondern auch den schienengebundenen Regionalverkehr in vollen Zügen genießen - und zwar bundesweit. 2,5 Milliarden Euro hat der Spaß den Steuerzahler gekostet. Eine private Initiative hat sich nun entschlossen, das Projekt fortzusetzen - allerdings mit illegalen Methoden.

Ein voller Erfolg: Der Hamburger Hauptbahnhof im August 2022. /privat
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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In Politik, Zivilgesellschaft wie Medien wird das 9-Euro-Ticket überwiegend abgefeiert. Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo zum Beispiel richtete erst jüngst einen „flammenden Appell“ an die Politik, das Ticket auch in Zukunft anzubieten. Das Ticket sei nicht nur „klimafreundlich“, sondern außerdem ein ultimativer Beitrag zu mehr „Lebensfreude“ der Menschen in diesem Land. Die wichtigsten fünf Gründe für die Nutzung des Tickets, so Lobo, seien nach einer Erhebung denn auch die folgenden gewesen: „Ausflüge und Wochenendfreizeit, private Erledigungen, Alltagsfreizeit wie Sport, Einkaufen und Urlaub“.

Ja, das wäre eigentlich eine feine Sache. Und wenn die Corona-Krise mit ihren verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen auf die mittelständische Wirtschaft, der Krieg in der Ukraine und explodierende Energiepreise nicht die bittere Realität wären, dann hätte die ganze Argumentation fast etwas für sich. Nur: Leider ist die Lage etwas anders.

Die Existenzängste vieler Menschen 

Wenn man politische Maßnahmen beurteilt, sollte man sich ja zuallererst die Frage stellen, ob das Mittel auch dem Zweck dient, für den es ursprünglich erdacht wurde. Und nein: Beim 9-Euro-Ticket ging es ursprünglich nicht um mehr „Lebensfreude“ in Deutschland, nicht um mehr Party und mehr individualistische Selbstverwirklichung, sondern um ganz banale Existenzängste vieler Menschen in diesem Land.

Die Bundesregierung hatte sich auf Druck der FDP entschlossen, die Pendler durch Reduzierung der Kraftstoffsteuer für drei Monate zu entlasten.  Und da Wähler von SPD und Grünen, angeblich, lieber Bus und Bahn nutzen, als das eigene Kind mit dem SUV zur Grundschule in privater Trägerschaft zu fahren, musste natürlich – als Ausgleichsmaßnahme – auch noch das 9-Euro-Ticket her.

Es ging bei beiden Maßnahmen also vor allem darum, jene zu entlasten, die auf Auto, Bus oder Bahn angewiesen sind, um zur Arbeit zu gelangen und unser aller Wohlstand zu erarbeiten. Das 9-Euro-Ticket sollte keine Spaß-Veranstaltung sein, wie Spiegel-Kolumnist Lobo offenbar meint, sondern dabei helfen, den sozialen Abstieg der Mittelschicht zu verhindern. Für „Lebensfreude“ nämlich mitten in einer sich ankündigenden wirtschaftlichen Krise und während eines Krieges mitten in Europa haben nur die größten Zyniker Zeit und Verständnis.

In den Zügen spielten sich Dramen ab

Wer in den letzten drei Monaten vom 9-Euro-Ticket Gebrauch gemacht hat, wird indes auf eine andere Realität gestoßen sein. Insbesondere bei den Bahnverbindungen zwischen größeren Städten haben sich ästhetische Dramen abgespielt. In den Zügen der Deutschen Bahn tummelten sich vor allem zwei Gruppen: Da wären einerseits die Rentner, die es sich nicht haben nehmen lassen, für schlappe 9 Euro pro Monat durch das Land zu tingeln und ihrem Städte-Tourismus zu frönen. Und man stieß außerdem auf Großfamilien mit Migrationshintergrund, die endlich einmal Familie oder Freunde in Frankfurt am Main, Hamburg, Berlin oder München besuchen konnten. „Lebensfreude“ eben!

Dagegen wäre ja nichts zu sagen, wenn das 9-Euro-Ticket ursprünglich erfunden worden wäre, um mitten in einem Krieg, einer heraufziehenden Wirtschaftskrise oder angesichts explodierender Energiepreise etwas mehr „Lebensfreude“ zu versprühen. Aber das war ja nicht der Sinn der Maßnahme. Eigentlich, so wurde von der Politik beteuert, ginge es darum, jenen zu helfen, die Tag für Tag den Wohlstand dieses Landes erarbeiten, von dem wir alle leben.

Die Opfer der Kamelle-Politik

Aber ausgerechnet diese „Wohlstandsarbeiter“ fanden sich angesichts des 9 Euro-Tickets in einer ganz anderen Situation wieder. Sie durften sich, zu verbilligten Preisen selbstverständlich, stehend und bei tropischen Temperaturen an schwitzende und hechelnde Mit-Leiber in überfüllten Zügen lehnen. Ausgerechnet jene, für die die Maßnahme eigentlich gedacht war, entpuppten sich am Ende als die Opfer und nicht als die Nutznießer der Kamelle-Politik der Bundesregierung. 

Aber es gab noch eine zweite Opfergruppe bei dem ganzen Debakel, nämlich die Mitarbeiter der Deutschen Bahn sowie privater Bahnunternehmen. Mit welcher Ruhe und Professionalität Zugführer und Co. über Monate das ganze Schlamassel ertragen haben, kann einem nur Respekt abnötigen.

Eigentlich ahnte man ja schon vorher, dass die Deutsche Bahn über erhebliche infrastrukturelle und personelle Engpässe verfügt. Aber wer das nicht glauben wollte, darf sich nun durch das 9 Euro-Tickets eines Besseren belehrt fühlen. Schon nach wenigen Wochen war der Krankenstand bei den Beschäftigten der Deutschen Bahn so hoch, dass bundesweit zahlreiche Bahnstrecken ausgedünnt oder zeitweise ganz eingestellt wurden. Dafür wiederum waren die eigentlich beabsichtigten Nutznießer der gesamten Maßnahme, die hart arbeitenden Menschen in diesem Land, sicher ganz besonders dankbar. Von den Verspätungen, die allein dadurch entstanden, dass prall gefüllte Leiber sich nicht mehr in die Waggons pressen ließen und die durch Lichtschranken regulierten Eingangstüren ihren Dienst versagten, ganz zu schweigen. Es waren diese Zustände, die Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) von einer „Gratismentalität“ in Deutschland sprechen ließen.

Der Fonds fürs Schwarzfahren

Aber was soll’s! Wo der Staat nicht mehr ganz genau weiß, was er eigentlich tun soll, hilft die „Zivilgesellschaft“. Während sich die Ampelkoalition verspätet darüber streitet, ob das mögliche Nachfolger-Modell 29, 49 oder 69 Euro pro Monat kosten soll, ist vielleicht Rettung in Sicht. Die zivilgesellschaftliche Initiative „9eurofonds“ hat sich entschlossen, das 9 Euro-Ticket ab September einfach selbst anzubieten.  

Und das geht so: Sie zahlen pro Monat 9 Euro in einen Fonds ein - und fahren dann einfach „schwarz“. Wenn Sie dabei erwischt werden, springt der Fonds ein. „Wirst Du bei einer Kontrolle ohne gültigen Fahrschein angetroffen, bezahlt Dir der Fonds das erhöhte Beförderungsentgelt. Du musst uns nur die Zahlungsaufforderung des jeweiligen Verkehrsunternehmens zusenden und wir überweisen das Entgelt für dich.“, so die Initiatoren. Es gibt nur eine Ausnahme: die Deutsche Bahn. Dort werde zu oft kontrolliert, deshalb könne der Fonds hier nicht beim Schwarzfahren einspringen. Es handelt sich am Ende also um ein am Busen der staatlichen Kamelle-Politik genährtes Versicherungsunternehmen – gerichtet gegen den Staat selbst. Allerdings hat die Sache einen Haken: Selbstverständlich ist Schwarzfahren eine Straftat.

In gewissen Kreisen erfreut sich dieses Ticket dennoch großer Unterstützung. Zu den Begeisterten zählen dabei auch bekannte Klimaaktivisten wie Pauline Brünger oder Carla Reemtsma. Durch die Aktion müsse niemand mehr wegen teurer ÖPNV-Tickets „in Armut rutschen“.  „Ich bin dabei – macht mit!“, ruft Reemtsma auf ihrem twitter-Account ihren Followern zu. Die Welt einfach durch massenhafte Straftaten besser machen – so ungefähr scheint die Logik der Klimaaktivisten zu sein.

Klimaschutz mit Rechtsbruch?

Aber Obacht! Sogar die ganze Initiative dürfte am Ende eine Straftat sein. Der renommierte Strafrechtsexperte Reinhard Merkel, Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften (Leopoldina), hält die Angelegenheit zumindest für einen „Grenzfall“. Eine direkte Anstiftung zu einer Straftat sieht er nicht als gegeben an. Dazu müsste sich die entsprechende Aufforderung an „jeweils konkret bestimmte Personen“ richten. Dies sei hier nicht der Fall, so Merkel. 

In Frage komme aber Paragraph 111 des Strafgesetzbuches, also die „öffentliche Aufforderung zu Straftaten“, nämlich zum „Erschleichen von Leistungen“. Der Bundesgerichtshof (BGH) jedenfalls neige dazu, das Auffordern „weit auszulegen“. Hierzu reiche es mitunter aus, wenn der „Appell-Charakter“ der Aufforderung in „Form einer bloßen Offerte oder Information“ daher komme. „Das dürfte hier der Fall sein“, sagt Merkel. Man dürfe dabei jedoch den Wortlaut des Gesetzes nicht ignorieren. Eine Strafbarkeit sei erst dann gegeben, wenn der „appellative Sinn der Offerte“ eindeutig festgestellt werden könne. Das dürfte im vorliegenden Fall nicht allzu schwer sein.

Erst zeigten die Macher von „9eurofonds“ durchaus Interesse daran, ein paar Fragen zu ihrem Projekt zu beantworten. Nachdem die Fragen an die vorgegebene Presseadresse verschickt waren, herrschte indes Funkstille. Das mag an deren Inhalt gelegen haben. Ob sie denn am Ende nicht zu Straftaten aufriefen und sich so ggf. selbst strafbar machten, wollte Cicero wissen. Und auch, ob die Initiatoren nicht wenigstens ein paar „moralische Bedenken“ hätten, so zu handeln. Sie zogen es vor zu schweigen.

Der Staat als Geld gebendes Gegenüber

Über eines scheinen Carla Reemtsma und Co. dabei nicht so recht nachgedacht zu haben: Wenn sich alle so verhielten wie sie, bräche der geliebte ÖPNV mangels Einnahmen einfach zusammen. Offenbar begreifen diese Aktivisten und ihre Trittbrettfahrer „den Staat“ nicht als etwas, dem sie selbst angehören, sondern als das Gegenüber, dem man notfalls mit Erzwingungspolitik das Geld für die eigenen Interessen aus der Tasche ziehen muss.

Christian Lindner (FDP) hatte daher ganz Recht, als er von einer „Gratismentalität“ sprach, die sich in Deutschland immer mehr breit mache und die zu einer Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts führen kann. Allerdings hat ja die FDP bei der Einführung des 9 Euro-Tickets und somit bei der Beförderung der anschließend beklagten „Gratismentalität“ selbst kräftig mitgeholfen.

In Wahrheit würde die Fortsetzung der „Gratismentalität“ im ÖPNV das Verkehrsaufkommen auf Dauer deutlich steigern – und nicht vermindern. Das war ja auch der Sinn von mehr „Lebensfreude“. Eine angeblich klimafreundliche Maßnahme würde den Ressourcen- und Energieverbrauch so in Wahrheit weiter steigern und nicht vermindern. Das belegen inzwischen auch empirische Daten. Nur zwei bis drei Prozent der Autofahrten sollen in den ÖPNV abgewandert sein. Nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes hat sich allerdings gleichzeitig das Aufkommen der schienengebundenen Personenbeförderung im Vergleich zu 2019 sprunghaft um rund 50 Prozent erhöht.  Es ist erstaunlich, ausgerechnet Klimaaktivisten auf einen so simplen Zusammenhang aufmerksam machen zu müssen.

Klimageld fördert Eigenverantwortlichkeit 

Besser als unüberlegte und zeitlich befristete Panikaktionen wie der Tankrabatt oder das 9-Euro-Ticket wäre daher die Umsetzung eines Versprechens aus dem Koalitionsvertrag: ein solide ausgestaltetes, auf Dauer angelegtes Klimageld für alle Bürger. Dann könnten die Preise für Energie und Kraftstoffe vergleichsweise hoch bleiben, um Sparanreize zu setzen, und die Bürger könnten mit Hilfe des Klimageldes auch höhere Preise finanzieren. 

Das wäre nicht nur sozial gerechter und klimafreundlicher als das 9 Euro-Ticket, sondern könnte dazu beitragen, die Eigenverantwortung der Bürger zu stärken und die ausufernde Anspruchshaltung gegenüber „dem“ Staat zurückzudrängen. Es ist höchste Zeit für eine liberale Wende im besten Sinne des Wortes.


 

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