Ministerpräsidentenwahl in Thüringen - Die Erfurter Republik, ein Totalausfall

Die Lage an der griechischen Grenze eskaliert, das Coronavirus lässt die Börsen beben und Deutschland starrt auf Thüringen. Die Nabelschau der Erfurter Republik zeigt, wie gelähmt die deutsche Politik zur Zeit ist. Und es ist nicht absehbar, dass sich das bald ändert.

Der Ein-Tages-Ministerpräsident übergibt dem Minderheitsministerpräsidenten einen Blumenstrauß / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

So erreichen Sie Christoph Schwennicke:

Anzeige

Manchmal merkt man die Groteske gar nicht mehr, weil man schon so sehr in ihr lebt wie seinerzeit die Hauptfigur in der „Truman Show“, die auch nicht weiß und lange nicht merkt, dass um sie herum nur Kulissen und Komparsen eines Filmsets sind.  

Den ganzen lieben Nachmittag dieses frühlingshaften 4. März starrte man also auf einen mal volleren, mal leeren Plenarsaal in Erfurt, der Landeshauptstadt von Thüringen, um dem wiederholten Wahlversuch eines Ministerpräsidenten beizuwohnen, der wiederum auf eine Landtagswahl zurückgeht, die am 29. Oktober vergangenen Jahres stattgefunden hat. 

Ramelow wieder in seiner Kurfürstenrolle

Habemus Ministerpräsidentem Minimalis, hieß es dann nach langen zwei Stunden und drei Wahlgängen. Der neue Ministerpräsident ist der alte Ministerpräsident, der immer noch geschäftsführende Ein-Tages-Ministerpräsident Thomas Kemmerich übergab die Amtsgeschäfte wieder an Bodo Ramelow, der sich ohnehin in einer Art Kurfürstenrolle von Thüringen sieht. 

Während es sich das politische Deutschland erlaubt, auf das ebenso kleine wie ungeheuer schöne Städtchen an der Gera zu blicken, gehen Meldungen um die Welt, wonach die griechischen Grenzschützer einen Migranten erschossen hätten (dementiert kurz danach), Corona sich weiter in Deutschland und um den Globus ausbreitet, die Börsen beben und sich der Kandidat der US-Demokraten herauskristallisiert (Joe Biden), der die Welt von Donald Trump im nächsten Herbst befreien möchte. 

Keine Zeit

Kleiner war Deutschland nie. Die Erfurter Republik hat die Bonner und die Berliner Republik abgelöst. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz kann noch so sehr barmen, dass man doch bitte eine gemeinsame Politik gegen Erdogans Türkei und den Ansturm der von ihm in Marsch gesetzten Migranten finden müsse, weil sonst die offenen Binnengrenzen in der Europäischen Union Geschichte seien. 

Keine Zeit. In Berlin sitzt man im Kanzleramt, in den Parteizentralen und den Redaktionsstuben vor dem Fernseher und schaut der Soap von Erfurt zu. Weil alle wissen, was viele negieren: Dass hier in Berlin das Seebeben stattgefunden hat, das zum Tsunami in Erfurt geführt hat: Die AfD so groß, dass an ihr parlamentarisch kaum ein Weg zur exekutiven Macht mehr vorbeiführt, die CDU so zerrissen, dass sich eine multiple Persönlichkeit dagegen wie ein in sich ruhender und mit sich im Reinen seiender Zeitgenosse ausnimmt. 

Zerklüftung des Parteiensystems

Bodo Ramelow wird nun eine Regierung bilden und mit diesem Minderheitskabinett das gute Jahr bis zur vorgezogenen Neuwahl am 25. April 2021 Thüringen politisch verwalten. Damit ist die Sache erstmal gelaufen für das kleine Bundesland, nicht aber für die Republik. 

Die Zerklüftung des Parteiensystems, das die 15 Jahre der Kanzlerschaft Angela Merkels angerichtet haben, türmt sich weiter vor aller Augen auf. Es wird Jahre dauern, bis diese Zerklüftungen der Parteienlandschaft wieder einigermaßen einplaniert sind. Genau ein Jahr vor dem vorgezogenen Wahltermin in Thüringen, am 25. April dieses Jahres, wählt die CDU einen neuen Parteivorsitzenden, von dem es maßgeblich abhängt, wie lange, wie viele Jahre es dauern wird, bis Deutschland wieder ein politisch funktionsfähiges Gemeinwesen ist, das den Partnern in der Welt mit all seiner Kraft unter die Arme greift, und sich den Wettbewerbern und Kontrahenten mit ebensolcher Kraft in den Weg stellt. 

Im Moment aber ist Deutschland, ist die Erfurter Republik mit ihrer Nabelschau ein ziemlicher Ausfall. National, was schon schlimm genug ist. Und international. Was noch viel schlimmer ist.    

Anzeige