Gemeinsame Migrationspolitik der EU - Die Wiedergutmachung

Angela Merkels Migrationspolitik hat Europa geschadet. Die deutsche Ratspräsidentschaft ist eine gute Gelegenheit, diesen Schaden zu beheben. Es würde die EU mehr einen als jedes noch so große Corona-Hilfspaket. Hat die Kanzlerin diese Kraft? Und den Willen?

Die Zeit für eine gemeinsame EU-Migrationspolitik ist günstig / dpa
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Ende dieser Woche wird sich erweisen, wie unter der Ratspräsidentschaft Deutschlands das milliardenschwere Corona-Hilfspaket ausgestattet sein wird. Mindestens 500 Milliarden Euro, das zeichnet sich bisher ab, werden wohl als Schenkungen unter europäischen Mitgliedsländern nach dem Grad ihrer ökonomischen Betroffenheit verteilt werden.

Zum ersten Mal werden dafür gemeinsame Schulden gemacht und zum ersten Mal wird gemeinsam gebürgt. Die Triple-A-Bewertung der großen Ratingagenturen für Deutschland auch nach Ausbruch der Corona-Pandemie markiert dasjenige Land, das am Ende den niedrigen Zins bedingen wird. Und für diese Kreditwürdigkeit dann am Ende auch ganz vorne einzustehen hat. 

Merkel hat Europa zerrissen

Dieser Vorgang ist von einer Dimension, dass eine andere Aufgabe Deutschlands in diesem halben Jahr des Vorsitzes im Moment gar nicht im Blickpunkt ist. Kaum einen halben Satz hat Angela Merkel in ihrer, nennen wir es, Regierungserklärung vor den EU-Parlamentariern vor eine Woche darauf verwandt. Dabei ist es eine Frage der Ehre und von Verantwortung, dass sich Deutschland anschickte, der Europäischen Union eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik zu geben.

Es wäre eine Art von Wiedergutmachung. Nichts hat Europa so zerrissen wie Angela Merkels Migrationssolo vor fünf Jahren. Sogar der Brexit steht damit im Zusammenhang, weil die deutsche Politik fatale Auswirkungen auf die Stimmung in Großbritannien vor dem Referendum hatte. 

Das Muster bleibt gleich

Anfangs noch unterstützt von Österreich (dessen Kanzler bald darauf weg war) und Schweden, bald aber allein und gegen den massiven Widerstand vor allem osteuropäischer Länder und begleitet vom passiven Laissez-faire der Franzosen, übte Deutschland mit seiner Kanzlerin einen Sog auf die Migranten aus, der sie über die Balkanroute und später übers Mittelmeer aufs europäische Festland kommen und fast durchweg nur ein Ziel kennen ließ. Alle Versprechen Angela Merkels, es werde zu einer gerechten Verteilung dieser Migranten kommen, verhallten im Nichts. 

Die Dimensionen dieser Ströme hat sich verändert. Das Muster nicht. Wie eine aktuelle Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion ergab, nimmt Deutschland weiterhin mit Abstand die meisten Migranten auf, die im Rahmen der EU-Türkei-Erklärung direkt aus türkischen Flüchtlingslagern nach Europa gebracht werden. Nach Zahlen der EU-Kommission kamen 9967 der insgesamt 26.835 Migranten im Zeitraum vom 4. April 2016 bis zum 16. März 2020 nach Deutschland – mehr als doppelt so viele wie nach Frankreich, das an zweiter Stelle der Aufnahmeländer steht.

Den Misstand in der Migrationspolitik endlich lösen

Die Niederlande nahmen im selben Zeitraum 4.571 Personen auf, Finnland 1.964, Schweden 1.940 und Spanien 766. Österreich, Kroatien, Italien, Litauen, Luxemburg und Portugal beteiligten sich mit Kontingenten im niedrigen dreistelligen Bereich. Zypern, Tschechien, Griechenland, Ungarn, Irland, Polen, Rumänien und die Slowakei nahmen demnach keine Flüchtlinge nach dem EU-Türkei-Deal auf, teilte das Bundesinnenministerium mit.

Wer sich wirklich anschicken möchte, den Zusammenhalt in Europa wieder zu stärken (den Begriff Zusammenhalt machte die Kanzlerin zum Schlüsselwort ihrer Rede in Brüssel), muss den Misstand in der Migrationspolitik dringend mit einem gemeinsamen Kompromiss lösen. 

Die Zeit ist günstig

Die Zeit dafür ist sogar günstig, weil die Türkei, früher fast erpresserisch am längeren Hebel, durch die Coronakrise in eine schwächere Verhandlungsposition geraten ist. Die Karten sind neu gemischt, um ein Wort der Kanzlerin dieser Tage zu entlehnen. Ziel muss es sein, an den Außengrenzen der Europäischen Union gemeinsame Asylzentren aufzubauen, in denen innerhalb von Wochen geprüft wird, ob ein Recht auf Asyl besteht. Auch auf türkischem Terrain könnte und müsste ein solches Zentrum aufgebaut werden.

Darüber hinaus muss die private Seenotrettung unterbunden werden. Das ist eine hoheitlich Aufgabe, die einer gemeinsamen Küstenwache obliegt. Vor allem aus Deutschland kommen diese auf privater oder kirchlicher oder NGO-Basis finanzierte Schiffe, die letztlich als Fährzubringer dienen.

Ein kleines Gedankenspiel

Der Impuls des Helfens ist ein zutiefst sympathischer. Politisch aber wirken diese Schiffe verheerend. Und diejenigen, die sie betreiben, sollten mit einem kurzen Gedankenspiel überlegen, ob es geboten ist, eine hoheitliche Aufgabe kurzerhand privat zu übernehmen. Denn die gleiche Klientel würde zu Recht dagegen protestieren, wenn sich private Polizeien, vulgo Bürgerwehren irgendwo gründeten.

Beides geht nicht. Beides muss in den Händen von Staaten oder eines Staatenverbundes liegen. Die Polizei ebenso wie Küstenwache und damit einhergehende Seenotrettung. An einem Grenzübergang irgendwo auf dem Festland kann auch keine Privatperson einfach so Fahrzeuge durchwinken. 

Gemeinschaft heißt Geben und Nehmen

Schließlich müssten für eine, von der Mehrheit der Mitgliedstaaten gewünschte, restriktivere Migrationspolitik verbindliche Zusagen aller EU-Mitgliedsländer her, sich an der Aufnahme von Asylbewerbern zu beteiligen, deren Antrag stattgegeben wurde. Das wäre der Preis, den auch diejenigen zahlen müssten, die sich sich die Migration einfach wegwünschen. Eine Gemeinschaft ist Geben und Nehmen. Und auf diesem Feld fehlt die Bereitschaft des Gebens bei Ländern wie Polen und Ungarn. 

Würde sich Angela Merkel dieser großen Aufgabe annehmen, könnte sie den Schaden, den sie in der Europäischen Union angerichtet hat, wieder zu einem großen Teil gutmachen. Es sieht leider überhaupt nicht danach aus, dass sie das Thema auch nur streifen möchte. Ohne eine Lösung auf diesem Gebiet aber werden die Fliehkräfte innerhalb Europas weiter wirken und am gemeinsamen Kern zerren. Kein noch so großes Corona-Paket wird daran etwas ändern. Sondern nur eine Lösung in dieser existenziellen Frage.           

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