Meinungsforscher - Im Kaffeesatz der Demokratie

Mit Meinungsumfragen wird Politik gemacht. Im Wahlkampf fürchten Politiker denn auch, Wähler könnten ihre Entscheidung an der Wahlurne nach der vermeintlichen Stimmung im Land ausrichten. Und doch kommt es trotz prognostizierter Wahltrends der Meinungsforscher oftmals ganz anders.

Ein Wähler wirft in einem Wahllokal seinen Stimmzettel in die Wahlurne / dpa
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Mit Meinungsumfragen wird Politik gemacht. Im unionsinternen Kampf um die Kanzlerkandidatur war der damals deutliche Vorsprung des CSU-Chefs Markus Söder gegenüber Armin Laschet das zentrale Argument seiner Anhänger. Es ging kaum darum, wer welche Inhalte vertritt oder wer als Persönlichkeit besser für das Amt des Regierungschefs geeignet ist. Entscheidend für Söder und seine Unterstützer waren die Zahlen der Demoskopen.

Noch im April hielten laut Infratest dimap 44 Prozent der Bundesbürger den bayerischen Ministerpräsidenten für den geeigneteren Kandidaten. Nur 15 Prozent sprachen sich für den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Laschet aus. Noch deutlicher war der Unterschied bei den Unions-Anhängern. Also bei denjenigen Befragten, die angegeben hatten, sie würden CDU oder CSU wählen: 77 Prozent für Söder, 17 Prozent für Laschet.

Einfluss der Demoskopie

Dass es trotz der Zahlen anders kam und Laschet sich durchsetzte, brachte zunächst Unruhe in die Unionsparteien. An der Basis witterte so mancher eine Verschwörung der Parteifunktionäre und äußerte Unlust, für den ungeliebten Kandidaten Plakate zu kleben oder Wahlkampfbroschüren zu verteilen. Doch die Unruhe legte sich bald – und auch das hatte mit Demoskopiewerten zu tun. Denn nachdem Laschet und Söder ihren Machtkampf beigelegt hatten, kletterten CDU/CSU in den Umfragen Prozentpunkt um Prozentpunkt nach oben. Und die Grünen, die zwischenzeitlich in der Sonntagsfrage vor der Union lagen, verloren an Zustimmung. Mit der Siegeszuversicht kehrte wieder Ruhe in die aufgewühlte Parteiseele ein. 

Auch bei den Grünen ließ sich der Einfluss der Umfragewerte auf die Entscheidungsfindung gut beobachten. 2018 setzten sie zum Höhenflug an und erreichten Werte um die 20 Prozent, teilweise sogar deutlich darüber. Ohne diesen dauerhaft erscheinenden Erfolg in der von Demoskopen gemessenen Wahlabsicht hätte sich die Ökopartei wohl kaum getraut, erstmals einen eigenen Kanzlerkandidaten auszurufen. Kurz darauf setzte der Umfragen-Sinkflug ein.

All dies zeigt, wie groß der Einfluss der Meinungsumfragen ist. Immer wieder stehen die Institute deshalb auch in der Kritik. So soll sich Helmut Kohl in den achtziger Jahren aufgeregt haben, dass die Union in den Vorab-Umfragen stets schlechter abschnitt als am Wahlabend. Er fürchtete, ihm gingen Stimmen verloren, weil Wähler ihre Entscheidung nach der vermeintlichen Stimmung im Land ausrichten könnten.

Entgegengesetzte Hypothesen

In der Politikwissenschaft wird der von Kohl befürchtete Effekt als „Bandwagon-Hypothese“ bezeichnet. „Sie besagt, dass erfolgreich erscheinende Parteien aufgrund ihres Erfolgs zusätzliche Unterstützung in der Wählerschaft erfahren“, schreibt Thorsten Faas in „Demokratie und Demoskopie“. Doch gleichzeitig sei auch der gegenteilige Effekt möglich, der die „Underdog-Hypothese“ beschreibt. „Sie besagt, dass erwartbare Gewinner Stimmen zugunsten scheinbarer Verlierer einbüßen“, formuliert Faas. Beiden Hypothesen liege ein eher emotional begründeter Mechanismus zugrunde: „Es fühlt sich gut an, zu den Siegern zu gehören. Oder verdient der Verlierer doch unser Mitleid?“

Hermann Binkert, Chef und Gründer des vergleichsweise jungen Meinungsforschungsinstituts Insa, bestreitet gar nicht, dass Umfragen Wahlen beeinflussen können. Er hält es für das Recht eines mündigen Bürgers zu wissen, was seine Stimme bewirken wird. „Es ist völlig legitim, dass Wähler auch noch kurz vor der Wahl erfahren, wie die aktuelle Stimmung ist. Das ist demokratische Transparenz“, sagt Binkert.

Umfrage-Kooperationen

Doch wie exakt geben die Ergebnisse die Stimmung im Land wieder? Lassen sich aus Stichproben von 1000 bis 2000 Befragten bis auf den Prozentpunkt Rückschlüsse auf das Wahlverhalten von Millionen ziehen? Die klassische Sonntagsfrage – „Wen würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“ – ist einer der besten Prüfsteine. Denn bei keiner anderen Meinungsumfrage lassen sich die ermittelten Daten mit dem realen Meinungsbild vergleichen. Nach dem Urnengang setzt daher jedes Mal ein munteres Vergleichen ein: Welches der konkurrierenden Institute lag mit seiner kurz vor der Wahl veröffentlichten Schätzung am nächsten am Wahlergebnis?

Dem Wettlauf zwischen den Wahlforschern verdankt Insa-Chef Binkert, dass er sein Institut im Markt gut positionieren konnte. Ihm gelang es, die Wahlerfolge der 2013 gegründeten AfD treffender vorherzusagen als die etablierten Wettbewerber. Das hänge mit der Methodik zusammen, sagt er. Während die Meinungsforschungsinstitute bislang vor allem auf die Befragung am Telefon gesetzt hatten, arbeitete Insa von Anfang an auch mit Online-Umfragen. „Wir haben festgestellt, dass der Mix von Telefon- und Internet-Befragungen das repräsentativste Bild ergibt“, sagt Binkert. Inzwischen hält das auch Infratest dimap so. Das Institut ermittelt die Wahldaten für die ARD, während Insa mit der Bild zusammenarbeitet, das ZDF auf die Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen setzt und die Frank­furter Allgemeine Zeitung eine Kooperation mit dem Institut für Demoskopie Allensbach pflegt. 

Probleme der Telefonbefragung

Dass rein telefonisch geführte Umfragen zunehmend schwierig sind, ist seit Jahren bekannt. Es gibt zwei Hauptgründe. Der eine Grund gilt für alle Themen, der andere vor allem für politisch heikle Themen.

Grund eins ist die hohe Zahl an Verweigerern. Für die Callcenter-Interviewer wird es immer schwieriger, die Angerufenen zu überzeugen, sich zu beteiligen. Das Misstrauen hat zugenommen, auch weil unseriöse Anbieter unterwegs sind, die Verkaufsgespräche als Umfragen ausgeben. „Inzwischen muss man zehn Anrufe machen, bis man jemanden findet, der bereit ist teilzunehmen“, beschreibt Insa-Geschäftsführer Binkert das Problem. Hinzu kämen jene rund sechs Millionen Telefonanschluss-Inhaber, die sich in eine Sperrkartei haben eintragen lassen. Je höher die Verweigerungsquote, desto größer die Herausforderungen für die Institute. Denn um eine aussagekräftige Stichprobe zu erhalten, muss jede Person die gleiche Chance haben, in diese Auswahl zu gelangen. Man nennt das Zufallsstichprobe. Laut statistischer Theorie entsteht dann ein verkleinertes, repräsentatives Abbild der Gesamtheit. 

Doch in der Realität habe die Zufallsstichprobe noch nie funktioniert, sagen die Demoskopie-Praktiker. Es sei nicht machbar, dass jeder mit der exakt selben Wahrscheinlichkeit ausgewählt werde. Wie gut jemand zu erreichen ist, hänge mit vielen Faktoren zusammen, die sich verzerrend auf die Stichprobe auswirkten. Kommt dann noch die hohe Zahl an Leuten hinzu, die man zwar erreicht, die sich aber nicht beteiligen wollen, fällt das Modell in sich zusammen.

Die Forscher behelfen sich mit zwei Tricks. Zum einen setzen sie ihre Stichprobe nach vorher festgelegten Quotenmerkmalen zusammen, die denen der Gesamtheit entsprechen. Das sind etwa Geschlecht, Alter und Bildungsabschluss. Zum anderen gewichten sie die erfassten Daten nachträglich, um mögliche Verzerrungen rechnerisch auszugleichen. Wie die Institute dabei vorgehen, zählt zu ihren bestgehüteten Geheimnissen.

Nicht jeder Wähler outet sich

Der zweite Grund, weshalb telefonisches Befragen problematisch sein könnte, nennt sich „soziale Erwünschtheit“. So mancher Teilnehmer scheut sich, seine Meinung kundzutun, wenn er davon ausgeht, dass diese gesellschaftlich unerwünscht ist. Bei Wahlumfragen trifft das vor allem auf potenzielle AfD-Wähler zu. Und zwar deutlich stärker in West- als in Ostdeutschland, sagt Binkert. „Im Osten ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sich ein AfD-Wähler outet.“ Aber auch die Linke habe Anhänger, die ihre Wahlabsicht nicht preisgeben. „Das ist regional sehr unterschiedlich.“ Die geringsten Hemmungen, über ihre Präferenz Auskunft zu geben, hätten Anhänger von Union und Grünen. 

Wie geht der Demoskop mit diesen Verzerrungen um? Zum einen soll der Methodenmix aus Online- und Telefon-Befragung helfen. Denn bei einer anonymen Umfrage im Internet sei die Hemmschwelle niedriger, sagt Binkert. Zum anderen erfassen seine Interviewer auch die Rückwahlerinnerung. „Wir fragen: ,Welche Partei haben Sie bei der letzten Wahl gewählt?‘ Damit stellen wir sicher, dass wir nicht zu viele oder zu wenige Anhänger einer Partei in der Stichprobe haben.“

Politische Meinungsforschung als Marketing

Seit 2015 mischt ein anderer Neuling den Markt auf: das Berliner Start-up Civey. Es erhebt seine Daten allein mit Online-Umfragen. Die Teilnehmer rekrutiert Civey über Kooperationen mit Nachrichtenseiten wie spiegel.de. Nutzer bekommen Fragen eingeblendet, auch zu politischen Themen. Im Anschluss können die Teilnehmer die Ergebnisse sehen, erfahren also, wo sie mit ihrer Meinung im Vergleich zum Rest der Bevölkerung stehen. „Das ist die Belohnung“, sagt Gerrit Richter, einer der Gründer und Geschäftsführer. „Andere Institute locken mit finanziellen Anreizen, bei uns bekommt man maximale Transparenz.“

Auch bei der Datenaufbereitung geht Civey neue Wege: Was in traditionellen Instituten die Aufgabe von Statistikspezialisten ist, erledigen bei dem Start-up Algorithmen. „In der Markt- und Meinungsforschung ist das Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft“, sagt Richter. Für Civey dient die politische Meinungsforschung eher als Aushängeschild. Ihr Geld verdient die Firma mit Umfragen für Unternehmen. Bei anderen Instituten ist das ähnlich. Einzige Ausnahme: die Forschungsgruppe Wahlen. Sie wurde 1974 als Verein gegründet und widmet sich ausschließlich politischen Themen. Finanziert wird deren Arbeit durch das ZDF.

Mehr Demoskopie wagen

Civeys Vorteil gegenüber der Konkurrenz ist die Schnelligkeit. „Ein Beispiel: Für Volkswagen begleiten wir die Markteinführung von Elektrofahrzeugen. Die Einstellungen dazu ändern sich schnell. Wir können das sehr genau erfassen“, sagt Richter. 
Rund 800 Kilometer entfernt von Berlin-­Mitte findet man den Gegenpol zur Hoch­ge­schwin­dig­keits­demoskopie. In Allensbach am Bodensee hat das gleichnamige Meinungsforschungsinstitut seit seiner Gründung 1948 seinen Sitz. Elisabeth Noelle-Neumann, die 2010 verstorbene Grande Dame der Demoskopie, brachte Methoden aus den USA in die junge Bundesrepublik. Ihre Nachfolgerin Renate Köcher trat 1988 in die Geschäftsführung ein.

Allensbach leistet sich als einziges Meinungsforschungsinstitut noch ein bundesweites Netz von Interviewern, die die Umfrageteilnehmer persönlich befragen. „Unsere Interviews sind komplex, deshalb setzen wir größtenteils auf die Face-to-Face-Befragung“, sagt Köcher. Die Methoden der Online-Institute seien zwar spannend. „Aber es sind Methoden, die sich noch in der Entwicklung befinden. Sie müssen kritisch überprüft werden. Das geschieht unseres Erachtens nicht ausreichend.“ So seien bei Online-Befragungen Frauen über 60 Jahren unter- und junge Internetaffine überrepräsentiert, meint Köcher. „Man kann diese Verzerrung durch nachträgliche Gewichtung der Ergebnisse korrigieren. Das geht allerdings auf Kosten der Genauigkeit.“

Den Vorwurf, Politiker richteten sich zu sehr nach kurzfristigen Umfragewerten statt nach politischen Überzeugungen, teilt Köcher nicht. „Ich würde eher sagen: Die Politik nutzt das Potenzial von Umfragen viel zu wenig.“ Köcher meint nicht die Sonntagsfrage. „Wirklich interessant wird es, wenn man sich anschaut, wie die Bevölkerung bestimmte Situationen einschätzt, und inwieweit sie bereit ist, Reformen mitzugehen“, sagt die Meinungsforscherin. „Das wird etwa beim Thema Klimaschutz noch spannend, vor allem auch in Bezug auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen.“ Die Rückkopplung zwischen Politik und Gesellschaft sei in einer Demokratie enorm wichtig. Dazu könne die Demoskopie einiges beitragen.

 

Dieser Text stammt aus dem Sonderheft zur Bundestagswahl des Cicero, das Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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