Mehr Macht für den Bund in der Pandemie-Bekämpfung? - Nicht das Ende des Föderalismus

Eine wachsende Zahl von Politikern fordert: Um Corona besser bekämpfen zu können, soll der Bund mehr Kompetenzen übertragen bekommen. Aber ist das verfassungsrechtlich überhaupt zulässig? Und was bedeutet es praktisch? Der Staatsrechtler Alexander Thiele gibt Antworten darauf.

Das deutsche Grundgesetz in Miniaturausführung / picture alliance
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Autoreninfo

Prof. Dr. Alexander Thiele hat  eine Lehrstuhlvertretung für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der LMU in München inne. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Staatsrecht und der Demokratietheorie.

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Die föderale Pandemiebekämpfung gibt gegenwärtig – euphemistisch gesprochen – kein allzu gelungenes Bild ab. Die Konferenz der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten tagt hinter verschlossen Türen, die Ergebnisse werden nach ewigen Verhandlungen mitten in der Nacht verkündet. Ihre Haltbarkeit ist dennoch begrenzt, teilweise werden sie eingefangen, bevor sie in Kraft getreten sind – Stichwort Osterruhe.

Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass die Bundeskanzlerin öffentlich angedacht hat, die Zuständigkeiten des Bundes auszuweiten. Mittlerweile bekommt sie von einigen prominenten Abgeordneten ihrer Fraktion Unterstützung. Aber: Ist das verfassungsrechtlich überhaupt möglich? Und welche Chancen und Risiken wären damit verbunden?

Zunächst zur Möglichkeit: Könnte der Bund die Zuständigkeit an sich reißen? Und wenn ja: wie? Die Verteilung der Zuständigkeiten ist nicht frei zwischen Bund und Ländern verhandelbar, sondern an die Vorgaben des Grundgesetzes gebunden. Beim Infektionsschutz handelt es sich bereits um eine Bundeskompetenz, das Infektionsschutzgesetz ist ein Bundesgesetz. Dieses könnte damit im gewöhnlichen Gesetzgebungsverfahren zügig angepasst werden.

Eine hochpolitische Frage

Aus verfassungsrechtlicher Sicht entscheidend ist vornehmlich die Frage, inwieweit in diesem Zusammenhang der Bundesrat zu beteiligen wäre, ob und wann er also zustimmen müsste. Das ist nicht nur eine rechtliche, sondern eine zugleich hochpolitische Frage. Die Beantwortung hängt von der Art den konkreten Änderungen ab. Insofern sind verschiedene Konstellationen zu unterscheiden.

Der einfachste Weg wäre eine konkretere Fassung der im Infektionsschutzgesetz vorgesehenen Maßnahmen. Hier wird den ausführenden Ländern in § 28a IfSG aktuell ein vergleichsweise großes Angebot an denkbaren Maßnahmen unterbreitet. Bisher ist es aber weitgehend den Ländern überlassen, unter welchen Voraussetzungen sie welche konkrete Maßnahme vorsehen.

Die Einräumung eines solchen Spielraums ist angesichts der Vielzahl der Pandemiesituationen im Prinzip richtig. Diese Spielräume vollständig abzuschaffen, wäre sicher kein sinnvoller Weg. Sie haben aber zur Folge, dass sich die ergriffenen Maßnahmen in den Bundesländern unterscheiden.

Denkbar wäre es insofern, dass der Bundesgesetzgeber zumindest in bestimmten Konstellationen den Ländern das Ergreifen konkreter Maßnahmen verbindlich vorschreibt – etwa in Form einer einheitlichen „Notbremse“, die dann auch den Umgang mit Schulen regeln könnte. Für den Bund hätte das den Vorteil, dass eine solche Änderung keiner Zustimmung des Bundesrates bedürfte.

Allerdings wäre der Bund weiterhin nicht in der Lage, in anderen Fällen flexibel, sprich auf dem Verordnungswege einzugreifen. Das ginge nur, wenn das Infektionsschutzgesetz zugleich um eine Verordnungsermächtigung für die Bundesregierung ergänzt würde (die eventuell mit einer Zustimmungspflicht des Bundestages versehen werden könnte). Auch das ist verfassungsrechtlich möglich, ohne dass der Bundesrat vorab zustimmen müsste.

Da dadurch aber die Kompetenzen der Länder tangiert wären, sieht das Grundgesetz eine Beteiligung des Bundesrates an den von der Bundesregierung im Anschluss erlassenen Verordnungen vor: Nach Art. 80 Abs. 2 GG muss der Bundesrat dem Erlass jeder einzelnen Verordnung zustimmen.

Weitreichende Zentralisierungen sind möglich

Das erscheint aus der Perspektive des Bundes offenkundig wenig sinnvoll. Auch diese Zustimmungsbedürftigkeit könnte allerdings im Infektionsschutzgesetz ausgeschlossen werden, was nunmehr jedoch eine einmalige vorherige Zustimmung des Bundesrats erforderte. Dennoch, der Blick ins Grundgesetz zeigt: Weitreichende Zentralisierungen der Zuständigkeiten sind möglich. Damit stellt sich die Frage nach den Chancen und Risiken einer solchen Änderung. Warum sollten die Länder einer solchen Änderung ihre Zustimmung erteilen?

Auf den ersten Blick scheint es wenig wahrscheinlich, dass es zu einer Zustimmung kommt. Wer würde freiwillig Zuständigkeiten und damit Macht aufgeben wollen? Andererseits: Mit entsprechender Macht geht Verantwortung einher. Derjenige, der zuständig ist, muss dafür einstehen, dass die bestehenden Möglichkeiten ansprechend genutzt werden. Und das heißt in der Pandemie: die Ausbreitung des Virus verhindern, um schnell wieder Freiheitsräume zu öffnen.

Wo das nicht gelingt oder jedenfalls der Eindruck besteht, dass es nicht gelingt, kann eine Zuständigkeit zur Bürde werden. Genau das scheint in den letzten Wochen der Fall zu sein. Die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten müssen sich nicht nur ständig für ihr konkretes Vorgehen rechtfertigen, sondern sehen sich zunehmend (zumindest politisch) dafür in der Verantwortung, dass es mit der bundesstaatlichen Abstimmung suboptimal läuft.

In Wahlkampfzeiten kann es daher politisch sinnvoll sein, auf solche Zuständigkeiten zu verzichten. Die Verantwortungsabgabe kann dann entlastend wirken, indem zukünftig auf den Bund verwiesen werden kann, wenn Unmut über die konkrete Strategie aufkommt. Eifrige Ministerpräsidenten mit Ambitionen (es dürfte klar sein, wer gemeint ist) könnten sich dann auf andere Dinge fokussieren und kämen zumindest zeitweilig aus dem negativen medialen Aufmerksamkeitsbrennglas.

Sehnsucht nach Einheitlichkeit

Hinzu kommt: In der Bevölkerung scheint durchaus eine gewisse Sehnsucht nach Einheitlichkeit zu bestehen, der man auf diesem Wege nachkäme.

Allerdings wären mit einer solchen Änderung auch Risiken verbunden. Diese wären indes erneut weniger verfassungsrechtlicher Natur. Mit einer solchen Zentralisierung, die sich auf nachvollziehbare Gründe stützen könnte, würde nicht das Ende des Föderalismus eingeleitet. Der Bund wäre zwar stärker am Zug, aber das erscheint auf diesem Gebiet kaum problematisch.

Die Pandemie ist bald überwunden, und andere Zuständigkeiten sind nicht betroffen. Um den Föderalismus steht es insofern zwar tatsächlich schon länger weniger gut. Das liegt aber vor allem daran, dass sich die Länder originäre Kompetenzen durch Verfassungsänderungen „abkaufen“ lassen. In diesem Falle ginge es hingegen um eine von der Verfassung vorgesehene und schon deshalb prinzipiell unproblematische partielle Zuständigkeitsverlagerung, die nur in Zeiten einer Pandemie Wirksamkeit entfaltet.

Nein, die Risiken wären erneut vornehmlich politischer Natur: Es bestünde die Gefahr, dass eine Zuständigkeitsabgabe als das Herauswinden einer als unangenehm (weil möglicherweise teilweise überfordernden) Verantwortung wahrgenommen wird. Das aber könnte gerade für potenzielle Kanzlerkandidaten unangenehme Folgen haben: „Wer Bundeskanzler werden will, muss krisenfest sein“, hatte der Sache nach Markus Söder einst formuliert.

Ist die Abgabe von Zuständigkeiten ein Ausdruck von Krisenfestigkeit? Theoretisch durchaus, aber wird es in diesem Fall auch wahrgenommen? In der Krise sind jedenfalls politische Auf- und Abstieg eng beieinander – Jens Spahn hat das bereits zu spüren bekommen. Mittlerweile befürworten sowohl Armin Laschet als auch Markus Söder eine stärkere Zentralisierung. Ob es ihnen nützt bleibt offen und gleiches gilt für den Fortgang der Pandemiebekämpfung: Denn natürlich garantiert auch eine Bundeskompetenz nicht automatisch bessere Entscheidungen.

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