Martin Dulig - „Ich gehe davon aus, dass Michael Kretschmer seine Partei im Griff hat“

Während er Morddrohungen erhält, kämpft Sachsens stellvertretender Ministerpräsident Martin Dulig (SPD) für die kommende Landtagswahl inzwischen um jeden Prozentpunkt. Damit die AfD nicht an die Regierung kommt, hofft er auf die Zusagen der CDU

Kämpft um jeden Prozentpunkt in Sachsen: Martin Dulig (SPD) / picture alliance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Herr Dulig, Mitte Mai haben Ihnen Unbekannte den Nachbau eines Sturmgewehrs an Ihre Privatadresse geschickt bekommen. Alle Ihre Strafanzeigen wegen Beleidigung oder Morddrohungen wurden bis dahin wegen angeblicher „Geringfügigkeit“ eingestellt. Sind Sie als stellvertretender Ministerpräsident Freiwild?
Dieses Gefühl habe ich tatsächlich. Ich bin in meiner Position vielleicht sogar etwas beschützter. Ich habe, als das Paket mit der Waffe kam, gleich den Innenminister informiert und die Polizei. Die waren diesmal sofort da. Die Ermittlungen laufen. Ich will diese Vorfälle aber gar nicht nur auf mich beziehen. Was ist mit den Bürgermeistern, den Stadträten und Abgeordneten, die den Hass vor Ort erleben?

Welche Botschaft verbinden Sie mit diesem Gewehr?
Wir wissen, wo Du wohnst. Wir wissen, was wir von Dir zu halten haben und was Dir blüht.

Was verrät es über den sächsischen Rechtsstaat, wenn er die Strafanzeigen des stellvertretenden Regierungschefs und Wirtschaftsministers bis dahin nicht verfolgt hat?
Ist das ein rein sächsisches Phänomen? Ich will nicht mit dem Finger auf die sächsische Polizei und die Justiz zeigen. Wir haben in den vergangenen Jahren dafür gesorgt, dass die Polizei und die Justiz in Sachsen besser ausgestattet wird und dass politische Ausbildung wieder eine Rolle in der Ausbildung der Polizei spielt.

Aber warum nutzt die Justiz nicht alle Instrumente, die sie hat, um solche Morddrohungen oder strafbare Hetze zu verfolgen?
Die Frage stelle ich mir auch. Meist werden die Verfahren eingestellt, oft sind es Formulierungen, die angeblich nicht hart genug sind, um juristisch dagegen vorzugehen. Dabei verroht unsere Sprache zunehmend. Es ist inzwischen völlig normal, dass man im Internet tagtäglich beschimpft, beleidigt oder mit Mord bedroht wird. Leider bleibt es nicht bei verbaler Gewalt, wie einige Politiker bereits erfahren mussten.

Sie spielen auf den Mord an dem hessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke an. Er wurde zwei Wochen später auf seiner Terrasse erschossen. Hat das die Bedrohung in Ihrem Fall noch verschärft? 
Ja, aber ich will die Sache nicht auf eine Ebene mit dem Mord heben. Es gibt aber einen zeitlichen Bezug. Der Mord an Lübcke fand zwei Wochen später statt. Trotzdem werde ich keine Spekulationen anstellen. Ich will nicht, dass man mir vorwirft, ich würde das politisch instrumentalisieren.

Sachsen und insbesondere Dresden ist die Geburtsstätte von Pegida. Hier wurde die terroristische Vereinigung „Revolution Chemnitz“ ausgehoben. Warum bietet dieses Bundesland ein guten Nährboden für Rechtsextremismus?
Das gilt für den ganzen deutschen Osten. Aber auch für weite Teile in Westdeutschland, etwa im Ruhrgebiet. Aber ich will nichts verharmlosen: Sachsen hat ein Problem mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Das Problem ist, dass man das viel zu lange heruntergespielt hat. Und damit meine ich nicht nur diesen schrecklichen Satz von Kurt Biedenkopf: „Die Sachsen sind immun gegen Rechtsextremismus.“

Sondern?
Die CDU-Regierung hat den Leuten jahrzehntelang eingeredet: Kümmert Euch nicht darum – wir machen das schon. Der Rechtsextremismus, wie wir ihn jetzt erleben, ist nicht neu. In den 90er-Jahren gab es schon eine solche Welle – denken Sie an die Skinheads Sächsische Schweiz oder die fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Hoyerswerda. Was wir jetzt erleben, ist eine schleichende Normalisierung. Unsagbares ist auf einmal sagbar geworden.

Woran liegt das?
Wir haben keine Kultur des Widerspruchs entwickelt, weil jeder, der sich gegen Fremdenfeindlichkeit engagiert hat, gleich in die linke Ecke gestellt wurde. Das hat die Gesellschaft verunsichert.

In keinem anderen Bundesland ist die AfD so stark wie in Sachsen. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Rechtsextremismus und dem Erfolg der AfD?
Ja. Die AfD baut da auf einem guten Nährboden auf. Alle Distanzierungen von nationalistischen und rassistischen Gesinnungen von Mitgliedern oder Anhängern waren halbherzig. Ich glaube aber nicht, dass die AfD bei der Landtagswahl die stärkste Fraktion wird.

Warum nicht?
Ich glaube, die AfD hat ihren Mobilisierungszenit bei der Bundestagswahl 2017 erreicht. Bei der Landtagswahl spielen andere Fragen eine Rolle als bei der Europawahl. Zum Beispiel die, wen man als Ministerpräsident haben will. Reiner Protest wird da nicht reichen. Zumal die AfD keine Ideen und Vorschläge hat, wie sie die anstehenden Herausforderungen in unserem Land lösen will.

Immerhin liegt die AfD momentan mit der CDU gleich auf. Seit Monaten wird trotz CDU-Dementis über eine mögliche schwarz-blaue Koalition spekuliert. Wie wahrscheinlich kommt die AfD doch an die Regierung?
Ich glaube dem Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU). Er hat eine Koalition mit der AfD ausgeschlossen. Ich gehe davon aus, dass er seine eigene Partei im Griff hat.

Leichter gesagt als getan. Nach einer Umfrage der Initiative „Zukunft Sachsen“ haben sich nur 46 von 61 CDU-Direktkandidaten gegen eine Koalition mit der AfD ausgesprochen.
Noch einmal. Ich gehe davon aus, dass Michael Kretschmer seine Partei im Griff hat. Wir reden alle viel zu viel über die AfD und helfen ihr dabei – sie ist somit immer im Gespräch.

Bei der Bürgermeisterwahl in Görlitz haben die großen Parteien ein Zweckbündnis geschlossen, um den AfD-Kandidaten zu verhindern. Gibt es ähnliche Überlegungen auch für die Landtagswahl?
Nein, das wäre auch verhängnisvoll. Wir müssen über den 1. September hinausdenken. Eine Wahl ist dazu da, die Mehrheitsverhältnisse in einer Gesellschaft abzubilden. Ich habe ja nichts dagegen, dass man in den Wahlkreisen überlegt, ob man sich gegenseitig unterstützt. Diese lokalen Entscheidungen dürfen aber nicht in eine landesweite Strategie münden. Wir treten als unabhängige Parteien, mit eigenen Programmen und Werten an.

Laut einer MDR-Umfrage wünscht sich die Mehrheit der Bürger eine Viererkoalition aus SPD, CDU, Grünen und FDP. Ist das auch Ihr Traum?
Nein. Ich glaube, die meisten Bürger wollen erstmal stabile, politische Verhältnisse. Deshalb bin ich auch zuversichtlich, dass die SPD gestärkt aus der Wahl hervorgeht.

Woher nehmen Sie diese Zuversicht? Sie stehen bei 9 Prozent.
Weil sie weiterhin benötigt wird, um eine Mehrheit zu schaffen. Es wird so oder so auf eine Koalition hinauslaufen. Ich gehe aber davon aus, dass es maximal eine Dreierkoalition geben wird.

Schwarz-Rot-Grün, eine Kenia-Koalition?
Zum Beispiel. Einen Koalitionswahlkampf lehne ich aber ab. Die SPD wird nicht eine einzige Stimme dadurch gewinnen, wenn wir Werbung für andere Parteien machen. Die Wahl darf nicht über Protest gegen die Angstmacher entschieden werden. Es muss um den Wettbewerb der besten Ideen gehen.

Man bekommt angesichts der schlechten Umfragewerte das Gefühl, Ihre Partei habe den Osten längst aufgegeben.
Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles hat sie einen Tiefpunkt erreicht. Wir sind auf 7 Prozent in Umfragen gefallen. Seither klettern wir wieder langsam hoch, haben jede Woche zugelegt und sind jetzt bei knapp zehn Prozent.

Das sind immer noch 2,4 Prozent weniger als bei der Landtagswahl 2014.
Richtig, das reicht mir ja auch nicht. Wir werden dieses Ergebnis noch verbessern.

Nochmal: Was macht Sie so zuversichtlich?
Der Zuspruch zur Gleichstellungs- und Integrationsministerin Petra Köpping und mir ist deutlich höher als der Zuspruch zur Bundespartei. Wir haben als SPD im Freistaat längst einen eigenen Kurs eingeschlagen. Wir wissen, wir können nur aus eigener Kraft heraus gewinnen.

Laut einer Umfrage sind 53 Prozent der Sachsen mit der Arbeit der Landesregierung „sehr zufrieden oder zufrieden.“ Warum ist es der SPD nicht gelungen, dieses Ergebnis auch als ihren eigenen Erfolg zu verkaufen?
Wir leiden in Sachsen unter dem schlechten Image der Bundespartei. Die Wähler in Sachsen sehen, was die SPD gerade in Berlin verzapft hat. Umso mehr Kraft müssen wir darauf verwenden, zu zeigen, dass wir eine eigene Politik machen.

Die SPD stand mal für soziale Gerechtigkeit. Im Augenblick gewinnt man den Eindruck, sie sei primär mit sich selbst beschäftigt. Kann man es den Wählern da verübeln, wenn sie sich von der Partei in Scharen abwenden?
Genau das ist meine Kritik. Wer mit sich selbst beschäftigt ist, hat nur begrenzte Zeit und Kraft, sich mit den Problemen auseinanderzusetzen, die die Menschen eigentlich beschäftigen. In Sachsen haben wir versucht, uns davon freizumachen. Mit Aktionen wie mit meiner Küchentisch-Tour oder mit Petra Köppings Buch „Integriert doch erstmal uns“, haben wir den direkten Kontakt zu den Bürgern gesucht und gefunden. In den nächsten Wochen heißt es: Kämpfen, kämpfen, kämpfen.

Ist das nicht furchtbar frustrierend?
Wenn es einen SPD-Landesverband in Deutschland gibt, der weiß, was Demut ist, dann ist es der sächsische. Wir sind 2004 auf 9,8 Prozent gefallen. Aber wir haben nie aufgegeben. Mir muss niemand erzählen, was es heißt, eine Partei ohne landesweite Struktur führen zu können. Wir haben mehr weiße als rote Flecken in Sachsen. Mit der Situation leben wir seit Jahrzehnten. Wir haben uns davon nie unterkriegen lassen und werden das auch jetzt nicht tun.

Der Ton in diesem Wahlkampf ist so rau wie noch nie. Was passiert, wenn die Landtagswahl wiederholt werden muss, weil Gerichte zu dem Schluss kommen, dass die Streichung von 43 AfD-Kandidaten auf den Landeslisten durch den Landeswahlausschuss unzulässig war?
Diese Bewertung, ob es unzulässig war oder nicht, überlasse ich den Gerichten. Ich gehe davon aus, dass die Mitglieder des Landeswahlausschusses nach Recht und Gewissen gehandelt haben. Sie haben sich die Entscheidung sicherlich nicht leicht gemacht. Dass sie nun von der AfD dafür persönlich verklagt und angefeindet – im Internet sogar bedroht werden – sagt viel über das krude Rechtsverständnis dieser Partei aus.

Seit dem Rücktritt von Andrea Nahles sucht die SPD verzweifelt ein neues Spitzenduo nach dem Vorbild des von den Medien gehypten Super-Grünen Habeck/Baerbock. Wer sollte es Ihrer Meinung nach machen?
Verzweifelt suchen wir nicht. Die ersten Teams haben sich ja schon beworben. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass Michael Roth und Christina Kampmann ihren Hut als erste in den Ring geworfen haben.

Zwei Kandidaten, die bislang kaum einer kennt.
Michael Roth ist Staatsminister im Auswärtigen Amt und Christina Kampmann ehemalige Familienministerin in NRW. Auch wenn beide vielleicht noch nicht so bekannt sind, ich habe immer dafür geworben, dass sich die SPD auf der Suche nach Spitzenpersonal auch mal in den Ländern umgucken soll oder Oberbürgermeister fragt. Die haben noch eine Verbindung zur Kommunalpolitik. Die stehen mit beiden Beinen im Leben. Ich könnte mir einige an der Spitze vorstellen. Aber ich werde keine Namen nennen, um die nicht zu verbrennen.

Habeck und Baerbock werden wie Popstars gefeiert. Kriterien wie die Frage, wie telegen jemand ist, spielen bei der SPD gar keine Rolle?
Michael Roth und Christina Kampmann bringen das mit, da habe ich überhaupt keine Sorge. Es ist leider so, dass in einer medial geprägten Demokratie auch die Ausstrahlung eine Rolle spielt. Es wäre aber schlimm, wenn wir Politik darauf reduzieren würden. Es geht um Haltung und Leidenschaft. Die Bürger wünschen sich Politiker, die für ihre Sache brennen. Beide tun das.

Von den drei Duos, die sich bisher beworben haben, kommt kein einziges aus dem Osten. Mangelt es Ihren Kollegen an Selbstbewusstsein, oder haben sie keine Lust, sich um einen Schleudersitzplatz zu bewerben?
Ich verstehe Ihre Ungeduld. Aber die Bewerbungsfrist läuft bis zum 1. September. Bis dahin haben wir Zeit. Es wird noch mehr Kandidaturen geben.

Sie galten lange als das Wunderkind der ostdeutschen Sozialdemokratie. Warum machen Sie es nicht?
Weil ich mich für Sachsen entschieden habe. Wir haben am 1. September eine richtungsweisende Landtagswahl. Ich kann nicht glaubhaft vor meine Wähler treten, wenn alle denken, der nutzt das nur als Sprungbrett. Meine Aufgabe in Sachsen ist noch nicht zu Ende. Ich kann das nur mit ganzem Herzen machen. Daher: Ich trete diesmal nicht an.

Dabei gehören Sie zu den Politikern, die über den Tellerrand hinausschauen. Gerade haben Sie in einem 10-Thesen-Plan dargelegt, was die SPD machen muss, um sich für jüngere Mitglieder zu öffnen und sich zu erneuern. Können Sie das in einem Satz zusammenfassen?
Die SPD hängt alten Ritualen an, die nicht mehr zeitgemäß sind. Wir nennen uns Volkspartei, was für mich ein sinnentleerter Begriff ist. Wir müssen eine Gesellschaftspartei werden, die auf die aktuellen Fragen Antworten gibt.

Was heißt das ganz konkret?
Wer kümmert sich darum, dass das Thema Klimawandel mit Innovation und mit Arbeit verbunden wird – damit es allen nutzt? Das kann doch nur eine SPD. Wir müssen Experten des Wandels werden. Die Leute müssen uns glauben, dass wir darauf achten, dass es beim Klimawandel auch um Gerechtigkeit geht. Die SPD muss zeitgemäßer und moderner werden, auch in ihren Beteiligungsformen. Sie ist jetzt über 150 Jahre alt. Warum sieht man uns das auch an?

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