Lisa Paus startet Nationalen Aktionsplan  - Kinderarmut ist keine Schande, sondern ein statistischer Effekt 

Familienministerin Lisa Paus startet einen Aktionsplan gegen Kinderarmut. Ihr zufolge ist jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut betroffen. Doch ihre Definition von Armut bezieht sich lediglich auf Einkommensungleichheit, nicht auf tatsächliche materielle Entbehrung. Was die Bundesregierung vorhat, würde überdies die Situation wirklich armer Familien eher verschlechtern.

An solche Bilder denkt man, wenn man das Wort „Kinderarmut“ hört. Aber die Wirklichkeit in Deutschland sieht anders aus / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Vor wenigen Tagen hat die neue Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) einen nationalen Aktionsplan gegen Kinderarmut ins Leben gerufen. Dass diese Tatsache in der medialen Öffentlichkeit weitgehend ignoriert wurde, liegt dabei nicht nur am Krieg in der Ukraine. Sondern auch am Ministerium selbst. 

Genau genommen scheint der Aktionsplan auch eher ein Geheimplan zu sein. Auf der Internetseite des Ministeriums jedenfalls findet man das Dokument nicht. Auch Anrufe in der Pressestelle, um die Herausgabe des Dokumentes zu erbitten, schlagen fehl. Zwar versichern Mitarbeiter höflich, sie würden sich kümmern. Sie sagen nur nicht wann. 

Angesichts des hohen moralischen Tons, den Ministerin Paus in einer Pressemitteilung anschlug, sind das erstaunliche Tatsachen. In Deutschland nämlich sei jedes fünfte Kind „von Armut bedroht oder betroffen“. Und damit dürfe man sich auf keinen Fall abfinden: „Das ist für ein so reiches Land wie Deutschland eine Schande“, sagte die Ministerin. 

Eine Schande ist es vor allem, dass die zuständige Ministerin und ihre Pressestelle nicht zu wissen scheinen, wie Armutsquoten berechnet werden. Als arm oder von Armut bedroht gilt man nach EU-weiter Definition nämlich dann, wenn das eigene Einkommen geringer ist als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) des jeweiligen Landes. Im Jahr 2019 lag das bei einem Paar mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2256 Euro monatlich. Und diese Zahl meint nicht das Brutto-, sondern das tatsächlich verfügbare Einkommen. 

Die Armutsquote misst lediglich das Ausmaß ungleicher Einkommensverteilung

Das Dilemma an dieser Definition ist nun allerdings, dass Armut nicht aus der Welt verschwinden wird, solange es Märkte gibt, die Leistung belohnen und unterschiedlich hohe Einkommen zur Folge haben. Selbst dann, wenn sich das verfügbare Einkommen aller Deutschen von heute auf morgen verfünffachen würde, gäbe es weiterhin rund 20 Prozent der Kinder, die statistisch gesehen von Armut betroffen oder bedroht wären. Das liegt einfach daran, dass dann immer noch dieselbe Anzahl von Menschen weniger Einkommen zur Verfügung hätte als 60 Prozent des mittleren Einkommens, das sich ja ebenfalls verfünffacht hätte. 

In Wahrheit misst die Armutsquote daher auch nicht das Ausmaß materieller oder kultureller Entbehrung, sondern das Ausmaß ungleicher Einkommensverteilung. Wer Armut in diesem Sinne als „Schande“ skandalisiert, müsste sich eigentlich für eine Angleichung der Einkommensverteilung an Standards der DDR aussprechen. Dort jedenfalls waren die Einkommensunterschiede sehr gering. Allerdings gab es nicht allzu viel, was man mit diesem gleich verteilten Einkommen kaufen konnte. 

Dabei sind sogar die Zahlen, auf die sich Bundesministerin Paus stützt, ziemlich umstritten. Sie geht davon aus, dass rund 20 Prozent der Kinder von Armut betroffen sind. Folgt man der Bertelsmann-Stiftung, sind es sogar 21,3 Prozent – mit seit Jahren angeblich steigender Tendenz. Dieser hohe Wert ergibt sich allerdings nur, wenn man das übliche Verfahren der Armutsmessung um weitere Faktoren ergänzt. 

Zum Beispiel gibt es Ansätze, nach denen Bezieher von Sozialleistungen generell als arm gelten. Freilich macht dieser normative Ansatz methodisch nicht allzu viel Sinn – es sei denn, man will die Armutsquoten auf dem Papier in die Höhe treiben. Ein Sozialstaat, der großzügig verfährt und den Berechtigtenkreis für soziale Leistungen ausweitet, erhöht dadurch statistisch gesehen nämlich die Armutsquote. In manchen Fällen, dies betrifft zum Beispiel Alleinerziehende mit mehreren Kindern, heben Leistungen der Grundsicherung das Familieneinkommen sogar über die Armutsschwelle an. Das Statistische Bundesamt will daher auch nichts von einer Armutsquote unter Kindern von mehr als 20 Prozent wissen. Es taxiert den tatsächlichen Wert auf rund 15 Prozent

Wer wirkliche Armut erfassen will, muss qualitativ an die Sache herangehen

Stützt man sich allerdings auf international vergleichbare Datensätze von Eurostat, ergibt sich noch ein anderes Bild. Plötzlich sind nur noch zwölf Prozent der Kinder in Deutschland von Armut betroffen. Und das hat einen einfachen Grund: Eurostat berechnet die Armutsquoten „einschließlich aller sozialen Transferleistungen“. Das macht für politische Entscheidungen auch Sinn: Denn um abschätzen zu können, ob und welche staatlichen Maßnahmen erforderlich sind, muss man die Wirkung der bereits bestehenden natürlich in die Bestandsanalyse mit einbeziehen.  

Gemäß europäischer Datenlage ist die tatsächliche Armutsquote aber nicht nur etwa nur halb so groß, wie von der Regierung behauptet. Sie steigt auch nicht an, sondern sinkt – und zwar deutlich. Im Jahr 2011 betrug sie noch 15,5 Prozent. Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil im Rahmen der Flüchtlingskrise umgekehrt eher mit einem erheblichen Anstieg der Armutsquote unter Kindern zu rechnen gewesen wäre. 

Aber nicht einmal eine Armutsquote von zwölf Prozent überzeugt die europäischen Chefstatistiker so richtig. Die Armutsquote würde nämlich gar nichts über tatsächliche Armut, sondern bloß „über die vorhandene Ungleichheit spezifischer Bevölkerungsgruppen“ im Hinblick auf ihr Einkommen aussagen. Das 60-Prozent-Medianeinkommen sei in Deutschland so hoch, „dass die relative Armutsgefährdungsquote (…) oberhalb des Spitzeneinkommens vieler anderer europäischer Länder“ liege. 

Mit anderen Worten: Wer erfassen will, wieviel Prozent der Kinder tatsächlich arm sind, also unter materiellen wie kulturellen Entbehrungen leiden, muss qualitativ an die Sache herangehen. Dazu wurde die Entbehrungsquote (severe material deprivation rate) entwickelt. Als in diesem Sinne arm gilt ein Kind dann, wenn mindestens drei von neun Kriterien erfüllt sind. Dazu gehören zum Beispiel: Raummangel in der Wohnung, keine Möglichkeit, einmal im Jahr in den Urlaub zu fahren oder bedarfsgerecht Kleidung und Möbel zu beschaffen oder jeden zweiten Tag Fleisch zu essen. Als in diesem Sinne wirklich arm gelten laut Eurostat im Jahr 2018 nur 2,6 Prozent der Kinder in Deutschland, auch hier mit fallender Tendenz.

Laut Unicef weist Deutschland die geringste Einkommensarmut bei Kindern auf

Was Lisa Paus regierungsoffiziell für eine Schande hält, sieht Unicef daher auch ganz anders. Deutschland weise neben einigen anderen Ländern international „die geringste Einkommensarmut sowohl bei den jüngeren als auch bei den älteren Kindern auf“. Und: Vor allem der Rückgang der Kinderarmut bei gleichzeitiger Integration der Flüchtlinge sei ganz und gar „erstaunlich“. 

Der Erfolg sei dabei „im Wesentlichen auf die zunehmende Integration der Mütter in das Erwerbsleben zurückzuführen“, so die Experten von Unicef. Nicht ausufernde Sozialprogramme sind also der Schlüssel zur Bekämpfung von Kinderarmut, sondern die Erwerbstätigkeit der Eltern. Wer hätte das gedacht? 

In Lisa Paus’ Geheimplan scheint das aber keine große Rolle zu spielen. Sie kündigt vielmehr die Einführung einer Kindergrundsicherung an. Das kann zu einer Verbesserung der Lebenslage von Kindern führen, wenn denn auch mehr Geld in die Kassen der Familien gespült wird.  

An zweiter Stelle ihrer Maßnahmen steht eine „14-tägige Partnerschaftsfreistellung nach der Geburt“. Das mag ja ein hübsches familienpolitisches Instrument sein und möglicherweise auch ein Beitrag zur geschlechtergerechten Aufteilung von Haus- und Erziehungsarbeit, aber mit der Bekämpfung von Kinderarmut hat es absolut nichts zu tun. 

Dann will sie drittens endlich „Qualitätsstandards in der Kindertagesbetreuung“ einführen. Das könnte langfristig etwas gegen Kinderarmut ausrichten – oder vielmehr gegen deren Vererbung. Dazu müssten sich die Qualitätsstandards vor allem auf Aspekte frühkindlicher Bildung beziehen und die Kleinen besser auf die Schule vorbereiten. Allerdings wird wohl auch die Wirkung dieser Maßnahme eine Nullnummer bleiben. Denn die Standards, die Paus einführen will, gibt es schon seit Jahrzehnten: in entsprechenden Gesetzen der Länder, die für diese Aufgabe ohnehin zuständig sind. 

Das Bürgergeld“ wird Kinderarmut zementieren

Schließlich verspricht die Ministerin noch „Verbesserungen beim Elterngeld“. Es ist schwer vorstellbar, wie das Kinderarmut verringern soll. Das Elterngeld ist eine für nur wenige Monate wirkende Maßnahme, Kinderarmut aber vor allem ein strukturell-langfristiges Problem. Erfunden wurde das Elterngeld übrigens auch nie zur Bekämpfung von Kinderarmut, sondern u.a. als Anreiz für Gutverdiener aus der Mittelschicht, sich wieder häufiger für Kinder zu entscheiden. Es fördert überdurchschnittlich „Besserverdienende“ und nicht jene mit geringem oder gar keinem Einkommen. 

Was Bundesministerin Paus aber zu fehlen scheint, ist das klare Bewusstsein dafür, dass Kinderarmut nicht in erster Linie über Sozialtransfers beseitigt wird, sondern durch die Integration betroffener Eltern in den ersten Arbeitsmarkt. Und das ist nicht nur eine Frage des Einkommens, sondern auch der Strukturierung des Lebensalltags der Familie sowie der Vorbildwirkung gegenüber den eigenen Kindern. 

In dieser Hinsicht wird von der Ampelkoalition aber nicht allzu viel zu erwarten sein. In bester Absicht will sie die Grundsicherung zu einem „Bürgergeld“ umwandeln. Die Marschrichtung gab vor vier Jahren schon Andrea Nahles (SPD) vor, die Sanktionen bei Hartz-IV-Bezug junger Erwachsener gleich ganz abschaffen wollte. 

Wovon Nahles, die ab August die Bundesagentur für Arbeit leiten wird, nur träumen konnte, macht Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) gerade wahr: Zumindest für 2022 sollen als Vorgriff auf das „Bürgergeld“ sämtliche Sanktionen ausgesetzt werden. Ab nächstem Jahr wird der Grundsatz „Fördern und Fordern“ dann einen ganz neuen Klang erhalten: Der Staat muss fördern, während der Leistungsberechtigte fordern darf. 

Freilich wird diese staatlich kultivierte Anspruchshaltung gerade in jenen Familien Kinderarmut zementieren und nicht verringern, in denen ihre Beseitigung doch am dringlichsten wäre. Zwar ist es nur ein kleiner Teil von Leistungsbeziehern, der sich im staatlichen Fördersystem behaglich eingerichtet hat und gar nicht beabsichtigt, es wieder zu verlassen. Aber es gibt sie, und gerade die Kinder dieser Familien bräuchten am dringendsten staatliche Hilfe – und zwar die richtige.  

Die Kombination aus immer weiteren Sozialleistungen und der starken Einschränkung von Mitwirkungspflichten bei der Jobsuche sind nicht Teil der Lösung, sondern des Problems.

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