Proteste der „Letzten Generation“ - Radikalismus rettet das Klima nicht

Die Mitglieder-Initiative „Letzte Generation“ hält Gesetzesbruch für legitim, da eine Notsituation herrsche – denn das Aussterben der Menschheit drohe. Sie seien die letzte Generation, die das verhindern könne. Deshalb blockieren sie beispielsweise Straßen und Autobahnen oder treten in den Hungerstreik, um die Bundesregierung dazu zu zwingen, Maßnahmen zu erlassen, die Deutschland in eine Verzichtsgesellschaft verwandeln.

Klimaaktivisten blockieren die Autobahn A100 in Berlin, um gegen Lebensmittelverschwendung zu protestieren / dpa
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Julien Reitzenstein befasst sich als Historiker in Forschung und Lehre mit NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte. Als Autor betrachtet er aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen.

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Das Motiv ist edel, und die Haltung zeugt von moralischen Ansprüchen. Gleichzeitig empfinden viele die Aktionen der „Letzten Generation“ als naiv. Dass die amtierende Bundesumweltministerin Steffi Lemke sie für legitim hält, macht die Sache nicht besser.

Der Klimawandel ist nicht zu leugnen und ebenso nicht, dass der menschengemachte Anteil daran hoch ist. Es muss hohe Priorität haben, den Anstieg der Erderwärmung zu bremsen. Der Wortkünstler Max Goldt kritisierte Aktionismus am Beispiel der Wahrnehmung bei der Rettung von Überlebenden von Erdbeben: „Wie geht die Suche vor sich? Natürlich ‚fieberhaft‘. Dabei will man doch stark hoffen, dass es Fachleute und besonnene Helfer sind, die einigermaßen kühlen Kopfes und in Kenntnis der bergungslogistischen Notwendigkeiten die Menschen suchen, und nicht, dass da irgendwelche emotional aufgeweichten Gestalten wie im Fieberwahn in den Trümmern herumwühlen.“ Emotionaler Aktionismus garantiert nun mal kein Überleben – nirgendwo.

Das ist kein Grund, von grundlegenden Energiesparmaßnahmen in Staat und Gesellschaft abzusehen. Allerdings sollte stets bedacht werden, welcher Aufwand welchen Nutzen hat. In Bereichen mit finanziell sehr großem Aufwand, mit dem nur ein geringer Klimaeffekt erzielt werden kann, sollte auf die Maßnahme verzichtet und die Mittel stattdessen sinnvoller eingesetzt werden.

Dem Klima ist nicht durch Autobahnblockaden gedient

Sinnvoller sind sie eingesetzt, um zum einen Schlüsseltechnologien zur Reduzierung des CO²-Ausstoßes zu entwickeln, die ja auf dem gesamten Planeten wirken können, zum anderen, um sinnvolle Schutzmaßnahmen gegen die Folgen des Klimawandels zu entwickeln, beispielsweise gegen die Folgen von Starkregen, Fluten, Dürren und vielem mehr. Das Ziel muss also sein, gleichzeitig dort CO² zu reduzieren, wo es mit vertretbarem Aufwand möglich ist, und klimawandelbezogene Technologien zu entwickeln. Radikale statt abgewogener Lösungen haben selten in der Menschheitsgeschichte Erfolg gehabt.

Insofern ist das Ziel der „Letzten Generation“, ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung und den damit einhergehenden Klimaeffekt, ebenso gut und richtig wie die Reduzierung von Fleischkonsum oder die Entwicklung CO²-armer Lebensmittelproduktionsprozesse. Gleichzeitig ist aber die Annahme, dass die Menschheit ausstirbt, wenn nicht sofort radikal gehandelt wird, ebenso Unsinn wie die Vorstellung, dem Klima durch Autobahnblockaden zu dienen.

Der weiße Elefant im Raum der Klimadebatte ist die Frage, wie lange sich eigentlich CO² und andere Treibhausgase in der Atmosphäre halten. Die Antwort wurde vor kurzem in Cicero von Klimaforschern gegeben: Jahrzehnte bis Jahrhunderte. Das ist die unangenehme Wahrheit für die „Letzte Generation“. Selbst wenn die demokratiefeindlichsten Ansätze radikaler Klimaschützer ihnen morgen die Macht in einer Klimadiktatur sichern würde, würde der Klimawandel dennoch kommen und die Erde sich noch jahrzehntelang weiter erwärmen.

Die Menschheit hat weit heftigere Klimaschwankungen überlebt

Ob die Menschheit des Klimawandels wegen ausstirbt, wird sich zeigen. Ein Blick in die Geschichte vermag entsprechende Überlegungen zu bereichern: In Deutschland gab es bereits tropische Regenwälder und dicke Eispanzer, lange bevor es Menschen gab. Fast sämtliche Arten aus diesen Epochen sind ausgestorben. Vor etwa 1000 Jahren war es in Europa etwa so warm wie heute, einige Jahre später gar noch deutlich wärmer, wie der Blick ins Klimaarchiv zeigt. In England gedieh prächtiger Wein, in Deutschland Feigen- und Olivenbäume. Die Gletscher schmolzen, Grönland war seinem Namen entsprechend Grünland – aber in weiten Teilen der Welt machten Dürren der Weltbevölkerung zu schaffen, die etwa 5% der heutigen Weltbevölkerung entsprach. Viele Spezies starben aufgrund der steigenden Temperaturen aus. Ab dem 15. Jahrhundert folgte die Kleine Eiszeit. Lange Winter und kalte Sommer führten zu Missernten und Hungersnöten. Flüsse und Kanäle, die damals wichtigsten Verkehrswege, froren über lange Zeit zu, beispielsweise die Themse. Zweimal – Mitte des 17. Jahrhunderts und Mitte des 19. Jahrhunderts – drangen in den Alpen die Gletscher so weit vor, dass sie ganze Dörfer zerstörten. Das Gletscherwachstum war das größte seit der Eiszeit. Seit etwa 1850 begann wieder eine Erderwärmung, die Gletscher schmelzen seither wieder ab.

Es dürfte also unzählige Generationen gegeben haben, die sich durch klimawandelbedingten Hunger und Not als letzte Generation gewähnt haben. Doch was unsere Generation von allen vorhergehenden der Menschheitsgeschichte unterscheidet, sind gewaltige wissenschaftlich-technologische Erkenntnisse und noch gewaltigerer Wohlstand, um einerseits den Klimawandel zu bremsen und andererseits Technologien zu entwickeln, um mit dessen Folgen umzugehen. Es wäre geschichtsvergessen und ein Zeichen mangelnder Demut, diese Ressourcen nicht sinnvoll einzusetzen und zudem in Überlebenspanik zu verfallen. Die Menschheit hat ohne diese Ressourcen weit heftigere Klimaschwankungen und das Aussterben unzähliger Spezies überlebt – und sich in den letzten 1000 Jahren dennoch rund verzwanzigfacht. Die Ursache für das einzige Beinahe-Aussterben der Menschheit vor rund 75.000 Jahren war der Ausbruch des Supervulkans Toba, vor dessen Folgen sich weltweit weniger als 10.000 Menschen retten konnten.

Insofern wirken die Ängste der „letzten Generation“ zum Aussterben der Menschheit aufgrund des Klimawandels eher wie eine religiöse denn wie eine naturwissenschaftlich belastbare Vision. Gleichwohl sollte man einige Ziele der Aktivisten unterstützen: Wo immer es geht, sollte man vermeidbaren CO²-Ausstoß vermeiden. Ein Modellprojekt könnte so aussehen: Bei derzeitigen Außentemperaturen zwischen null und zehn Grad wird niemand lange ohne Heizung stillsitzen. Wer stundenlang im Stau steht, wird den Motor laufen lassen, um nicht zu frieren oder gar krank zu werden. Auch nur eine Stunde Stau auf der Berliner Stadtautobahn verursacht so unzählige Tonnen zusätzlichen CO²-Ausstoßes durch tausende laufende Motoren. Die so entstehenden Emissionen einzusparen, wären ein wichtiger Beitrag beim Kampf gegen die Erderwärmung. Dazu wäre nicht viel mehr nötig, als auf Blockaden der Stadtautobahn als Mittel des Kampfs gegen die Erderwärmung zu verzichten. Vielleicht denken noch radikalere Klimaschützer schon darüber nach, statt Stadtautobahnen lieber Stadtautobahnblockierer zu blockieren – dem Klima zuliebe.

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