Unternehmen in der Pandemie - „Wir müssen die Prozesse besser auf Extremsituationen einstellen“

Die Verknappung von Rohstoffen aufgrund von Lieferengpässen hält an, die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen klingen nach. Im Gespräch erklärt der Logistik-Experte Gerd Kerkhoff die Ursachen für den Mangel und beantwortet die Frage, welche Rolle der globale Wettbewerb spielt.

Herstellung von Fahrwerksystemen für Automobile / dpa
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Autoreninfo

Charlotte Jost studiert Political- and Social Studies an der Julius-Maximilians Universität in Würzburg und ist Hospitantin in der Cicero Online-Redaktion.

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Gerd Kerkhoff, Gründer der Kerkhoff Group, ist Unternehmensberater und einer der führenden Spezialisten in Sachen Logistik und Beschaffung. Zudem ist er Autor mehrerer Fachbücher zum Thema Einkauf.

Herr Kerkhoff, teilweise werden jetzt schon Weihnachtsgeschenke bestellt aus Angst vor weiterer Verknappung. Ist diese Sorge gerechtfertigt?

Die aktuellen Lieferschwierigkeiten werden noch über Weihnachten hinaus anhalten. Lieferketten sind komplex, und werden sie gestört, benötigt die Erholung in den vor- und nachgelagerten Ketten recht viel Zeit. Die grundsätzliche Sorge in Bezug auf Weihnachtsgeschenke teile ich aber nicht, wenn man mögliche verlängerte Lieferzeiten beachtet und rechtzeitig seine Besorgungen erledigt. Die meisten Konsumartikel sind erhältlich und meistens gibt eine Vielzahl an Angebotsalternativen. Wenn Sie jedoch zu Weihnachten ein Auto verschenken wollen, wird es knapp.

Das liegt an dem Mangel an Mikrochips, auch etwa in Elektrogeräten, da könnte es zur Weihnachtszeit hin schon eng werden.

Sicher, Chips sind knapp, das ist richtig. Aber ich empfinde es als Panikmache, wenn sich nun alle sorgen, dass sie zu Weihnachten keine Handys mehr verschenken können. Um Ostern habe ich mir zum Beispiel einen Kühlschrank bestellt, und dieser ist immer noch nicht da, weil die notwendigen Chips fehlen. Das ist natürlich ein Problem, und ich glaube nicht, dass diese Knappheit innerhalb dieses Jahres wieder verschwinden wird, aber dann sollte man auf Alternativen umsteigen und geduldig bleiben, anstatt in Panik zu verfallen.

Welche Rolle spielt der zunehmende Online-Handel?

Für den stationären Einzelhandel sicher eine erhebliche Rolle, er muss, wenn nicht bereits geschehen, zugleich selbst ein attraktives Onlineangebot bereithalten und die lokale Präsenz und das Online-Geschäft mit sinnvollen Services verknüpfen.

Wie entstand die Rohstoffverknappung in der Corona-Krise?

Unternehmen haben ihre Produktion heruntergefahren, gleichzeitig stieg jedoch die Nachfrage bei einigen Produkten. Die Menschen konnten nämlich nicht mehr in den Urlaub fahren, hatten somit Geld übrig und waren an ihr Haus gebunden. Sie gaben mehr Geld aus für Gegenstände, die im Haus benötigt werden oder die den Alltag schöner machen: etwa eine neue Stereoanlage, ein Fernseher, ein Kühlschrank. Somit stieg die Nachfrage an Produkten, deren Herstellung gedrosselt war.

Hat sich die Situation der Rohstoffengpässe nun etwas verbessert, da inzwischen gegen Corona geimpft werden kann?

Zumindest ist das Impfangebot förderlich gewesen, und man mag sich gar nicht ausmalen, was ohne dieses Angebot auf dem Markt los wäre. Dennoch haben sich eine Vielzahl an ineinander wirkenden Einflussfaktoren „hochgeschaukelt“. Gestörte Lieferketten durch gestörte Produktionsplanungen und Transportengpässe pendeln sich nur sehr zeitverzögert auf normalisierte Prozesse in der Supply Chain ein. Aufgestaute Lieferrückstände müssen erst schrittweise abgebaut werden.

Was verursacht die Preissteigerung einzelner Rohstoffe?

Zum Teil künstliche Verknappung. Aber vor allem werden die Preise durch mangelnde Verfügbarkeiten aufgrund erhöhter internationaler Nachfrage nach oben getrieben.

Die Nachfrage nach Kunststoff, Pappe, Stahl und Blech ist durch die Coronakrise erheblich gestiegen. Warum?

Es gibt im arbeitsteiligen internationalen Handel nicht die eine Antwort. Daher hier ein kleiner Zeitraffer der ineinandergreifenden Ereignisse: Covid überraschte die Welt, so dass ein erheblicher Nachfragerückgang mit entsprechenden Produktionsstopps folgte. Wir lernen nun mit der Pandemie umzugehen, die Nachfrage steigt deutlich, Produktionen können nicht so rasch hochgefahren werden, Nachfragestaus verlangen höhere Kapazitäten, Nachfrage normalisiert sich womöglich rasch, daher sind Ausbauinvestitionen unsicher. Parallel Störfälle, Werksunfälle, Containerstaus. All das führt zu Verknappung und zu Preissteigerungen. Sie verhageln den Unternehmen positive Deckungsbeiträge, die sich dadurch im Krisenmodus befinden. Der Vertrieb muss Preissteigerungen verkaufen, der Einkauf sie abwehren und parallel Verfügbarkeiten aus dem Homeoffice sicherstellen.

Welche Güter oder Branchen sind besonders betroffen?

Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag e. V. hat dazu eine Erhebung veröffentlicht, die sich mit den Erfahrungen unserer Kunden deckt. Maschinenbauer und Unternehmen der Metallindustrie nennen überwiegend Beschaffungsprobleme bei Stahl und Aluminium, das Baugewerbe ergänzt mit hohen Preisen Holz und Kunststoffe. In der Fahrzeugindustrie sind es neben Stahl, Aluminium und Kunststoffen unter weiteren knappen Vorprodukten überwiegend die Halbleiter. In der Chemieindustrie sind vor allem Kunststoffe sowie chemische Rohstoffe und Vorprodukte knapp. Der Einzelhandel nennt sogar Lebensmittel und Textilien. Über alle Branchen hinweg sind Verpackungen Mangelware. Elektronikkomponenten sind in vielen Branchen schwer oder nur teuer verfügbar.

Sie haben mit uns bereits im Juli 2021 gesprochen. Wie beantworten Sie mit dem heutigen Wissen die Frage, ob bald auch lebensnotwendige Güter wie Lebensmittel oder medizinische Produkte knapp werden?

Es kann vereinzelt zu Knappheiten bei Lebensmitteln kommen, aber nicht bei Grundnahrungsmitteln. Auch hier sind oft Knappheiten bei Verpackungen der Grund. Ebenso sehe ich lebensnotwendige medizinische Produkte auf absehbare Zeit nicht als ernste Gefahr. Mit Preissteigerungen haben aber Hersteller und Verbraucher gleichermaßen zu kämpfen.

Markt-Giganten wie Nestlé oder Henkel wollen Preiserhöhungen von mehr als 10 Prozent durchsetzen. Für wie wahrscheinlich halten Sie diese Forderung?

Für sehr wahrscheinlich, wir sehen sie ja bereits jetzt. Grundlegend sind Steigerungen auch aktuell begründet. Die Frage ist, in welcher Höhe. Hier wird aktuell schon ordentlich draufgeschlagen, und der Verbraucher wird entscheiden, ob er seinem ursprünglichen Lieblingsprodukt treu bleibt oder eben die Alternativen wählt.

Wie wirkt sich das Zusammenspiel von Rohstoffverknappung und Inflation auf den deutschen Markt aus?

Die Verknappung treibt die Inflation an. Ein wesentlicher Treiber sind aber auch die Gas- und Ölpreise.

Ist die verstärkte Globalisierung mit schuld an der Abhängigkeit Deutschlands vom Import sowie an der aktuellen Güterverknappung?

Die Globalisierung ist nicht zu verteufeln und schon gar nicht aufzuhalten. Wir selbst und andere wollen mehr Wohlstand – das ist legitim. Die handelnden Unternehmensmanager müssen Prozesse besser auf Extremsituationen einstellen und auf deren Abhängigkeiten. Mehr Kooperation anstatt Konfrontation. Es müssen durch die Digitalisierung sogar stärkere Vernetzungen stattfinden und Win-win-Situationen in den Fokus genommen werden, die ein umfassendes Risiko-Controlling in Echtzeit erfordern. 

Geht Deutschland im internationalen Wettbewerb unter?

Nein, das sehe ich nicht. Dennoch ist es wichtig, dass Politik und Wirtschaft gemeinsam gestalten und die Chancen nutzen. Die baldige neue Regierung muss in Zusammenarbeit mit den Partnern das Gewicht der EU stärken. Wir haben zwar viel Potential liegengelassen, aber ich spüre schon einen Veränderungsgeist.

Aber China hat sich im Vergleich deutlich schneller erholt.

Ja, China hat als totalitäres politisches System eine andere wirtschaftliche Strategie als die Demokratien in Westeuropa. Alle marktwirtschaftlichen Systeme, also die europäischen Staaten, haben es in einer Krise schwerer, da sie stärker exportorientiert sind. China hat ein stark restriktives Wirtschaftssystem: Bei einer Verknappung von Gütern, sorgten Staaten wie China dafür, dass zuerst die Nachfrage im eigenen Land bedient wird, um die eigene Wohlstandssituation weiter zu erhöhen. Darunter leiden europäische Staaten, die auf den Import dieser Produkte angewiesen sind.

Das heißt die EU als Staatenbund spielt wirtschaftlich insbesondere in solchen Situationen eine große Rolle?

Ja, sie sollte eine größere Rolle spielen, insbesondere, wenn man bei Güterverknappung großen Wirtschaftsmächten wie China oder den USA gegenübersteht.

Wie lange ist noch mit Engpässen zu rechnen?

Das ist wirklich schwer vorherzusagen, aber vor Mitte 2022 sehe ich keine neue Normalität.

Gibt es Alternativen, die nachhaltiger funktionieren? Sowohl für Großkonzerne, als auch für den privaten Verbraucher?

Aktuell gilt es in den Unternehmen, die Krisensituation in den Griff zu bekommen. In Bankensprache gesprochen, haben alle einen Stresstest erlebt. Sie müssen sich umfassend mit der Transformation einer digitalisierten Supply Chain auseinandersetzen. Alles Schritte, die auch für die Herausforderungen wie das Lieferkettengesetz eine bedeutende Rolle spielen. Der Verbraucher wird auch weiterhin Angebotsalternativen haben, wenn er etwas flexibel ist.

Haben Unternehmen also aus dieser Pandemie gelernt und sind für die nächste Krisensituation gewappnet?

Ja, das denke ich schon. Nehmen wir das Beispiel Einkauf: Durch die Krise und die Verknappung von Gütern hat sich das Machtverhältnis zwischen Einkäufer und Lieferant geändert – plötzlich sitzt der Lieferant, der über das knappe Gut verfügt, am längeren Hebel, und der Einkäufer muss dem Lieferanten entgegenkommen. Wenn es „früher“ vereinfacht formuliert darum ging, den besten Preis zu verhandeln, sind diese Verhaltensmuster zu durchbrechen. Vernetzt denken und vernetzte Lösungen schaffen, lautet die Devise. Aktuelle Herausforderungen in Einkauf und Beschaffung lassen sich nicht im Alleingang lösen, sondern allein durch partnerschaftliche Beziehungen zwischen Auftraggebern und unternehmenssensiblen Lieferanten. Die Impfstoffbestellung ist ein gutes Beispiel, ein knappes Gut mit hoher Nachfrage: Die EU war zu langsam in der Verhandlung, Israel dagegen ist den Kompromiss eingegangen, und hat für schnellere Lieferung der Impfstoffe einen Aufpreis geboten.

Das Interview führte Charlotte Jost.

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