Landtagswahl in NRW - Kraft statt Schulz

Die Landtagswahl in NRW ist auch eine kleine Bundestagswahl. Die SPD braucht einen Sieg, die CDU kann abwarten. Und alle Parteien müssen aufpassen, dass sie nicht zu viel taktieren. Vor allem die FDP

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Die Wirtschaft steht im Mittelpunkt des Wahlkampfs in NRW, doch der CDU gelingt es nicht, die SPD zu stellen / Jörg Brüggemann
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Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Unterschiedlicher hätte die Stimmung kaum sein können. In Essen wird Martin Schulz mit rhythmischem Klatschen begrüßt. In Münster schleicht sich Angela Merkel in die Halle. Die Mitglieder der Jungen Union, die zur Begrüßung abgestellt sind, halten ihre Plakate lustlos in die Luft. „Neuer Antrieb für NRW“ steht darauf. Aber der Antrieb des Parteinachwuchses reicht nicht einmal, um etwas Lärm zu machen. In Essen wird der SPD-Kanzlerkandidat von 1400 Anhängern minutenlang gefeiert. In Münster ist der Beifall der 600 christdemokratischen Delegierten für Merkel allenfalls höflich. Landeschef und Spitzenkandidat Armin Laschet spricht anschließend von einer „typisch westfälischen Begrüßung“. Euphorie Anfang April beim Wahlkampfauftakt der SPD, Routine auf dem Landesparteitag der CDU. Wenn sich ein Wahlsieg herbeijubeln ließe, wenn sich die Fähigkeit, an sich selbst zu berauschen, unmittelbar in Wählerstimmen verwandeln ließe, dann müssten sich die Sozialdemokraten um den Wahlsommer keine Sorgen machen. 

Müssen sie aber. Noch gibt es keine Antwort auf die Frage, ob die Euphorie der Sozialdemokraten tatsächlich ein Ausdruck von Stärke ist. Bislang haben sich die nur selbst begeistert. Schulz schweißt die Genossen zusammen. Aber der erste Versuch, auch die anderen Wähler mitzureißen, ist gescheitert. Und so bekommt die CDU-Chefin Merkel in Münster erstmals spontanen Beifall, als sie ihren Partei­freunden mit trockenem Humor „schöne Grüße aus dem Saarland“ bestellt. Schwarz schlägt Rot, Routine schlägt Autosuggestion. Große Koalition schlägt Rot-Rot-Grün. Merkel weiß, wo sie steht.

Die SPD weiß es nicht. Die Wahl im Saarland am 26. März hat die Partei verloren, und schon steht sie unter Druck. Vielleicht ist die inszenierte Geschlossenheit ja doch kein Zeichen von wiedergewonnenem Selbstbewusstsein. Vielleicht sind die 100 Prozent, mit denen Martin Schulz eine Woche vor der Saarlandwahl zum SPD-Vorsitzenden gewählt wurde, vielmehr das Krisensymptom einer verunsicherten und orientierungslosen Partei. Womöglich scharen sich die Genossen um das letzte personelle Aufgebot. 

Für die SPD geht es um alles

Saarland war die kleinste der drei Landtagswahlen in diesem Jahr. Noch hat die SPD eine zweite und eine dritte Chance. Dass sie mit ihrer Begeisterung die Wähler anstecken können, das müssen sie jetzt im Mai beweisen. Erst am 7. Mai in Schleswig-Holstein und vor allem am 14. Mai in Nordrhein-Westfalen. Auf das bevölkerungsreichste Bundesland kommt es also an. 

In Essen treffen sich die Sozialdemokraten in einer einstigen Hochburg zu ihrem Wahlkampfauftakt. Aber der Ort zeigt auch, vor welchen Herausforderungen die SPD in NRW steht. Der Strukturwandel im Ruhrgebiet kommt nur schleppend voran, die Arbeitslosenquote in Essen ist mit 11,9 Prozent doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Die Zeche Zollverein war einst die größte Steinkohlezeche der Welt. Inzwischen ist sie ein Museum, die Kompressorenhalle der Kokerei eine Eventlokation. Über den alten Maschinen der Halle hängt der postmoderne Wahlkampfslogan der Sozialdemokraten, Twitter-konform heißt er #NRWIR, statt wie einst unter Johannes Rau „Wir in NRW“. Auf emotionalen Zusammenhalt setzt die SPD also immer noch. Aber die Zeiten, in denen sie mit ihrem legendären Landesvater absolute Mehrheiten gewann und in Ruhrgebietsstädten wie Essen bis zu zwei Drittel der Wähler mobilisierte, sind vorbei. Essen wird seit 2015 von einem CDU-Oberbürgermeister regiert. An die Linke haben die Sozialdemokraten im Ruhrgebiet viele Wähler verloren, und zuletzt setzte ihr die AfD zu. Essen zeigt: Will die SPD wieder Wahlen gewinnen, muss sie in der Mitte und an den Rändern Wähler zurückholen. Ein Gerechtigkeitswahlkampf wird dafür nicht reichen. 

Kleine Bundestagswahl

Traditionell gilt die Landtagswahl an Rhein und Ruhr als kleine Bundestagswahl, nicht zum ersten Mal ist sie auch eine machtpolitische Testwahl. Drei Machtwechseln im Bund ging jeweils ein Machtwechsel in NRW voraus. Bevor Willy Brandt 1969 Kanzler wurde, regierte in Düsseldorf seit 1966 eine sozialliberale Koalition. Bevor Gerhard Schröder und Joschka Fischer das rot-grüne Projekt starteten, gab es einen Testlauf in NRW. Und nachdem die SPD die Landtagswahl 2005 krachend verloren hatte, flüchtete sich Schröder in vorgezogene Neuwahlen, die mit einem Wahlsieg von Angela Merkel endeten. 

Für die SPD geht es deshalb bereits am 14. Mai um alles. Sie muss nicht nur die Wahl gewinnen, in ihrer Hochburg stärkste Partei werden. Sie muss auch zeigen, dass sie Machtoptionen hat. Optionen sind die zweite Währung im Vielparteiensystem. Wenn fünf oder gar sechs Parteien in ein Parlament einziehen, dann ist die Partei im Vorteil, die mit möglichst vielen anderen koalieren kann. Und je stärker die AfD wird, desto wahrscheinlicher wird es, dass es drei Parteien braucht, um eine Regierung jenseits der Großen Koalition zu bilden – in den Ländern genauso wie im Bund. Doch das Saarland zeigt, wie schnell man sich da verheddern kann. Denn die Vorstellungen der Wähler liegen manchmal weit weg von den Machtfantasien der Funktionäre.

Schulz kann alles verlieren

Die Latte für die Landtagswahl in NRW hat Martin Schulz selbst aufgelegt. Wenn Ministerpräsidentin Hannelore Kraft die Wahl gewinne, tönt er beim Wahlkampfauftakt in Essen, „dann wird die SPD auch im Bund die stärkste Partei, und ich werde Bundeskanzler“. Heißt umgekehrt: Wenn die SPD in Nordrhein-Westfalen verliert, ist für ihn auch die Bundestagswahl verloren, bevor der Wahlkampf richtig begonnen hat. Nordrhein-Westfalen ist für Schulz also auch eine bundespolitische Schlacht, er kann zwar nicht viel gewinnen, aber bereits alles verlieren. Für Angela Merkel hingegen beginnt der Wahlkampf erst, wenn die Landtagswahl dort vorbei ist. 

Das heißt aber auch: Auf Hannelore Kraft, die seit 2010 an der Spitze einer rot-grünen Landesregierung steht, kommt es in den kommenden Wochen an. Hannelore Kraft muss dem Schulz-Zug wieder Schwung geben. Ausgerechnet jene Sozialdemokratin, die von den Genossen in Berlin nur milde belächelt wird, seit sie allen bundespolitischen Ambitionen schon vor ein paar Jahren entsagte.

Es läuft, so möchte man meinen, nicht schlecht für Kraft. Es läuft also auch nicht so schlecht für Schulz. Die Ministerpräsidentin hat sich wieder gefangen. Lustlos wirkte sie noch Ende vergangenen Jahres, eingeigelt hatte sie sich mit ihren engsten Vertrauten, bundespolitisch stand sie im Abseits. Die Sicherheitsdebatte um die Ereignisse Silvester 2015 in Köln und den Terroristen Anis Amri hatte ihr zugesetzt. 

Gegen den Amtsbonus kommt die Opposition jedoch nicht an. Kraft setzt auf einen Trend, mit dem sich zuletzt in so unterschiedlichen Ländern wie Baden-Württemberg oder Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern oder Saarland die Regierungschefs durchsetzen konnten. In allen vier Ländern lagen die Amts­inhaber von Grünen, SPD und CDU in Umfragen zurück, teilweise deutlich. Am Ende war ihre Popularität das entscheidende Argument für die Mobilisierung der unentschiedenen Wähler. Auch in NRW gibt es keine Wechselstimmung, sagen die Demoskopen. Die Amtsinhaberin ist beliebter als der Herausforderer.

Der konservative Polarisierer

Armin Laschet tut sich schwer. Die Rolle des konservativen Polarisierers, der mit scharfen Worten mehr Polizei und mehr Abschiebungen fordert, steht ihm überhaupt nicht. Der Christdemokrat war schließlich von 2005 bis 2010 in NRW der erste Integrationsminister in Deutschland, vor Jahren schon warb er für ein schwarz-grünes Bündnis, in der Flüchtlingskrise stand er fest an der Seite von Angela Merkel, auch wenn der eigene Landesverband murrte. 

Vergeblich arbeitet sich die Opposition an der rot-grünen Landesregierung und ihrer landespolitischen Bilanz ab. Anfang April tagt der Düsseldorfer Landtag das letzte Mal vor der Landtagswahl. Union und FDP haben viele Themen auf die Tagesordnung gesetzt, die noch einmal die Ministerpräsidentin und ihre rot-grüne Regierung ins Visier nehmen sollen. Der Fall des islamistischen Terroristen Anis Amri, den die nordrhein-westfälische Polizei nicht einsperrte und abschob, wird genauso diskutiert wie die Kölner Silvesterübergriffe. Die „desaströse Bildungspolitik“ der Landesregierung prangert der FDP-Fraktionschef Christian Lindner an, die wirtschaftspolitische „Schlusslichtbilanz“ knöpft sich Armin Laschet vor. Laut geht es im Plenarsaal zu, die Stimmung ist angespannt, die Zwischenrufe häufen sich, es wimmelt nur so von Vorwürfen wie „Versagen“ oder „Inkompetenz“, „Täuschung“ oder „Lüge“. Und während Laschet sich in Rage redet, stichelt Kraft so lange leise von der Regierungsbank, bis der Herausforderer die Nerven verliert. Mehrfach klopft er hektisch auf das Redepult und beschwert sich darüber, dass die Ministerpräsidentin dazwischenredet. Ein souveräner zukünftiger Landesvater sähe anders aus. 

Nicht berauschend

Laschet ist nervös. Zumal ihm ein zentrales Thema seiner Kampagne aus den Händen geglitten ist. Auf das Nullwachstum des Landes im Jahr 2015 verwies der Oppositionsführer in den vergangenen Monaten gerne. Es habe Nordrhein-Westfalen auf den letzten Platz im Länderranking zurückgeworfen. Wahlkampfvideos, in denen eine rote Laterne eine zentrale Rolle spielt, hat er bereits produzieren lassen. Doch plötzlich liegt NRW beim Wirtschaftswachstum im vorderen Mittelfeld, etwa im Bundesdurchschnitt. Berauschend ist das nicht, aber es reicht für den sozialdemokratischen Vorwurf, Laschet würde das Land schlechtreden. 

Und Christian Lindner? Er hält zwar die markigeren Reden, und deshalb nennt jeder im Düsseldorfer Landtag ihn den „heimlichen Oppositionsführer“. Aber ihm bleibt nichts anderes übrig, als zumindest teilweise vor der Landesregierung zu kapitulieren. Vor einiger Zeit hat der FDP-Vorsitzende verkündet, niemals werde er Hannelore Kraft zur Ministerpräsidentin wählen, Innenminister Jäger macht er dafür verantwortlich, dass das Land zu einem „Eldorado für organisierte Kriminalität“ geworden sei. Doch plötzlich räumt er im Landtag ein, dass Kraft wohl nicht mehr zu schlagen ist. „Sie werden nicht viel verlieren“, sagt Lindner dort an die Ministerpräsidentin gewandt, Rot-Grün jedoch sei „am Ende“. 

Geht es für Linder also nur noch darum, die Grünen aus der Regierung zu drängen? Bewirbt sich da jemand als neuer Juniorpartner? Träumt der FDP-Chef schon von der Wiedergeburt einer sozialliberalen Koalition in Düsseldorf und anschließend von einer Ampelkoalition in Berlin? Eröffnet sich für Martin Schulz endlich eine Machtoption in Berlin jenseits der Großen Koalition und einem rot-rot-grünen Bündnis? 

Schulz könnte Lindner noch brauchen

Lindner ist eine Schlüsselfigur im Landtagswahlkampf in NRW. Die FDP könnte zum entscheidenden Mehrheitsbeschaffer werden. Für ein Jamaika-Bündnis mit CDU und Grünen, das Armin Laschet anstrebt. Oder für die Wiederwahl von Hannelore Kraft. Der FDP-Vorsitzende ist deshalb auch eine Schlüsselfigur für die Machtperspektive der SPD im Bund. Martin Schulz könnte Christian Lindner brauchen, will er tatsächlich Bundeskanzler werden. 

Führende Sozialdemokraten des Landes nicken mit einem Lächeln auf den Lippen, wenn sie nach einer Koalition von SPD und FDP gefragt werden. Sie wissen, es müsste in den letzten Wochen des Wahlkampfs schon einen starken Stimmungsumschwung geben, damit es noch einmal für Rot-Grün reicht. Die AfD könnte, wenn sie in den Landtag einzieht – und danach sieht es aus –, eine Große Koalition erzwingen. Es sei denn, die FDP zeigt sich tatsächlich machtpolitisch flexibel. Ein Bündnis mit SPD und Grünen schließt Lindner zwar kategorisch aus, weil er nicht in eine „abgewirtschaftete Regierung“ eintreten will. Eine Koalition allein mit der SPD schliesst er nicht aus, auch wenn er sie „unwahrscheinlich“ nennt. Sogar per Parteitagsbeschluss hat er einer Ampel in Düsseldorf eine Absage erteilt, ob es im Bund einen solchen Beschluss geben werde, sei offen. Die Tür für Rot-Gelb-Grün in Berlin ist also nicht zu.

Lindner gefällt seine sibyllinische Botschaft. In dem Duell Kraft gegen Laschet macht es ihn für unentschiedene Wähler interessant. Schon sein Lehrmeister Jürgen Möllemann hat im Wahlkampf in NRW gerne und im Jahr 2000 mit großem Erfolg über ein sozialliberales Bündnis spekuliert.

Landtagswahl ist nur die Durchgangsstation 

Aber das Duell Kraft gegen Laschet ist zugleich das Duell Schulz gegen Merkel, und da muss Lindner aufpassen, dass er sich nicht ins Abseits taktiert, sein eigentliches Wahlziel dieses Sommers in Gefahr bringt. Denn die Landtagswahl in NRW ist für ihn nur eine Durchgangsstation auf dem Weg der FDP zurück in den Bundestag. 

Alles ordnet Lindner seit 2013, als die FDP nach einer verheerenden Bilanz in der schwarz-gelben Bundesregierung aus dem Bundestag geflogen ist, diesem Ziel unter. Mit einem guten Ergebnis aus NRW im Rücken will er dann in den Bundestagswahlkampf starten. Der FDP-Chef tritt sogar als doppelter Spitzenkandidat an und er hofft, dass die Wähler das nicht übel nehmen. Nur: Drängt es ihn zu schnell wieder in eine Regierung, könnte die FDP das alte Image einholen, dass es ihr nur um die Macht gehe und sie als Mehrheitsbeschaffer billig zu haben sei. Das wäre tödlich. Paktiert er gar mit der SPD, könnte das bürgerliche Wähler, die sich nach einer schwarz-gelben Bundesregierung zurücksehnen, verprellen. 

Und das Saarland hat gezeigt, wie unliebsame Bündnisspekulationen dem Wahlkampf eine völlig neue Dynamik verschaffen können. Dort kippte die Stimmung in den letzten Tagen vor der Wahl zugunsten der CDU und Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer, weil die Mehrzahl der Wähler ein rot-rotes Bündnis, das sich in Umfragen abzeichnete, ablehnte. Noch nicht mal ordentlich geblinkt hat Lindner, schon warnt die grüne Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann vor einer „sozial-marktradikalen“ Landesregierung.

Es könnte für die schwächelnden Grünen ein Wahlkampfschlager werden, um die Rot-Grün-Anhänger für sich zu mobilisieren. Martin Schulz ist also nicht der Einzige, der sich beim Spiel mit seinen Optionen zu verheddern droht. 

 

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