Landtagsauflösung in Thüringen - 42+21-4+1-2=58

Um Neuwahlen zu erwirken, haben die Thüringer Regierungsparteien Linke, SPD und Grüne einen Auflösungsantrag des Landtags gestellt. Die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit wackelt seit Wochen. Denn die FDP verweigert die Zustimmung wie auch vier CDU-Abgeordnete.

Reichen die Stimmen? Steffen Dittes (l-r, Die Linke), Astrid Rothe-Beinlich (Bündnis90/Die Grünen) und Matthias Hey (SPD)/ dpa
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Henry Bernhard ist seit 2013 Landeskorrespondent Thüringen des Deutschlandradios. Foto: Deutschlandradio 

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42+21-4+1-2=58. Auf diese Formel ließe sich das Dilemma der Thüringer Landespolitik momentan bringen. Es geht um die Neuwahl, geplant für den 26. September – gemeinsam mit der Bundestagswahl –, vereinbart zwischen Linken, SPD, Grünen und CDU in dem sogenannten „Stabilitätsmechanismus“, die eine Duldung der Minderheitsregierung Bodo Ramelows ist, aber nicht so heißen darf wegen des Unvereinbarkeitsbeschlusses der CDU. 

Eine Neuwahl halten viele Abgeordnete im Thüringer Landtag und laut Umfrage auch eine Mehrheit der Thüringer für nötig, nachdem das Vertrauen nachhaltig zerstört worden war, als sich der Liberale Thomas Kemmerich mit den Stimmen von AfD, CDU und FDP zum Ministerpräsidenten wählen ließ.
Für eine Neuwahl muss der Landtag sich zuvor selbst auflösen, mit zwei Drittel seiner Mitglieder. Das sind 60 von 90 Abgeordneten. Und genau hier kommt diese Formel ins Spiel: 42+21-4+1-2=58.

42 Stimmen haben die Linke, Sozialdemokraten und Grüne zusammen, die CDU 21. Das ergäbe 63 und würde satt ausreichen. Vier Christdemokraten aber haben – mit Verweis auf ihr Gewissen und die Landesverfassung – schon vor Wochen angekündigt, dass sie gegen eine Auflösung des Landtags stimmen würden. Alle Versuche der Fraktions- und der Parteispitze, sie umzustimmen, versandeten. Selbst ein Besuch vom Alt-Ministerpräsidenten Bernhard Vogel, immer noch Ehren-Vorsitzender der Thüringer CDU, bei den vier Abweichlern blieb ohne Wirkung.

Eine FDP-Abweichlerin gilt als Hoffnung für eine Mehrheit

Der Zählerstand für die Parlamentsauflösung stünde so bei 59 – eine Stimme zu wenig. Der Fraktionsvorsitzende der CDU, Mario Voigt, behauptet aber weiter tapfer: „Die CDU steht zu ihrer Zusage.“ Voigt hat einen Joker – eine Abgeordnete der FDP-Fraktion, Ute Bergner. Bergner will ebenfalls für die Auflösung des Landtages stimmen. Das wäre die rettende 60. Stimme. Ihre Stimme hat aber einen unangenehmen Beigeschmack: Ute Bergners Mitgliedschaft in der FDP ruhte erst lange, vor kurzem ist die erfolgreiche Unternehmerin aus der Partei ausgetreten. Sie ist längst designierte Spitzenkandidatin einer von ihr selbst neu gegründeten Partei, „Bürger für Thüringen“, ein Auffangbecken für enttäuschte Liberale, Christdemokraten, Sozialdemokraten, Querdenker und Corona-Leugner. In der FDP-Fraktion wird sie nur geduldet, weil ohne sie der Fraktionsstatus verloren ginge – und damit viel Geld, Mitarbeiterstellen, Rede- und Initiativrechte im Parlament, ein Dienstwagen mit Fahrer für den Fraktionsvorsitzenden Thomas Kemmerich. Ute Bergner will also für die Auflösung des Landtages, für eine Neuwahl stimmen.

Nun aber regt sich das Gewissen zweier linker Abgeordneter, Kati Engel und Knut Korschewsky. Sie wollen nicht die Stimme von Ute Bergner und überhaupt gar keine Stimmen der FDP-Fraktion „akzeptieren“ – mit Verweis auf den 5. Februar 2020, als sich der Liberale Thomas Kemmerich von AfD, CDU und FDP zum Ministerpräsidenten wählen lassen hatte, was nicht nur Linke als „Dammbruch“ bezeichneten. Die CDU müsse – der Absprache folgend, alle nötigen Stimmen selbst liefern. Eine Auflösung des Landtags wäre unter diesen Umständen unmöglich, denn am Ende der Gleichung steht eine 58.

Querelen innerhalb von R-R-G machen die Rechnung komplizierter

Nun könnte man die Formel noch etwas verkomplizieren. 42+21-4+1-2+x-y=z
x wäre die Anzahl der AfD-Abgeordneten, die für die Landtagsauflösung stimmen würden. Wie viele das sind, ob es überhaupt welche gibt, ist unbekannt. Der AfD-Fraktionsvorsitzende Björn Höcke hält sich da bedeckt und sagt, es herrsche da kein Fraktionszwang.

y wiederum wäre die Anzahl der Abgeordneten von Linken, SPD und Grünen, die angesichts der Stimmen der AfD ihre Stimme zurückziehen würden, um einen „Dammbruch 2.0“ zu vermeiden, wie sie es nennen. Dass z dann die 60 erreichen würden, ist mehr als zweifelhaft.

Eine Landtagsauflösung wäre also rein rechnerisch möglich, wenn die Abstimmung am Montag stattfindet, sehr wahrscheinlich erscheint sie allerdings nicht mehr, weil Linke, SPD und Grüne auf keinen Fall in einer so wichtigen Entscheidung wie der Landtagsauflösung auf die Stimmen der AfD angewiesen sein möchten. Der Landtag ist momentan ein Hort der Gerüchte. Am Sonntagabend wollen die Fraktionen der Rot-Rot-Grünen noch einmal zusammenkommen, um alle möglichen Varianten durchzuspielen, vielleicht auch mit Probeabstimmungen.

R-R-G plant doppelten Boden bei Abstimmung

Es ist durchaus möglich, dass sie dann den Antrag auf die Abstimmung zurückziehen. Keine Abstimmung – keine Auflösung – keine Neuwahl also. Oder aber sie wagen den Schritt in die Abstimmung, um dann aber mit doppelter Sicherung zu arbeiten: Die Abstimmung könnte dann in zwei Schritten vor sich gehen: Zunächst durch Handzeichen, dann durch Aufstehen im Plenum. Dafür müsste die Geschäftsordnung des Landtages jedoch für diese eine Abstimmung einmalig angepasst werden. Das ist nicht unüblich. Und zwei Drittel der anwesenden Abgeordneten müssten zustimmen.

Sollte in der ersten Runde erkennbar sein, dass keine 60 Stimmen jenseits der AfD zusammenkommen, dann könnten Linke, SPD und Grüne in der zweiten sitzenbleiben, um einen Eklat, einen „Dammbruch 2.0“ oder was auch immer zu vermeiden.

Hier wiederum ergeben sich Kombinationsmöglichkeiten, die mit so einfachen Formeln wie oben nicht beschrieben werden können. Vielleicht auch eine La-Ola-Welle in den Reihen der Abgeordneten. Spätestens hier entgleitet die Thüringer Landespolitik in die Sphären der höheren Mathematik. Und Thüringen möglicherweise mal wieder in die Unregierbarkeit. Denn die CDU will den „Stabilitätsmechanismus“ auf jeden Fall beenden, der ja unter anderem sicherstellen soll, dass keine Mehrheiten mit der AfD im Landtag zustande kommen. Das wäre dann jederzeit möglich. Und Thüringen wieder nicht nur geographisch im Mittelpunkt Deutschlands.

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