Korruption in der Arbeiterwohlfahrt - Sozialmanager außer Kontrolle

Erst Mecklenburg-Vorpommern, dann Hessen und Thüringen, und jetzt auch noch Sachsen-Anhalt: Die Arbeiterwohlfahrt versinkt in Finanzskandalen. Ursache dafür sind selbstherrliche Sozialmanager, fehlende Transparenz und sozialdemokratischer Filz.

Jede Menge Korruption: Bei der Awo nehmen die Skandale überhand / picture alliance
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Jürgen und Hannelore Richter waren in Champagnerlaune. Im April 2016 saßen sie in einem italienischen Restaurant im Frankfurter Ostend mit Geschäftspartnern zusammen und stießen auf den Pachtvertrag über ein fünfgeschossiges Bürogebäude an. Das Ehepaar, beide langjährige Manager der Arbeiterwohlfahrt (Awo), wollte dort 380 Asylbewerber unterbringen. Die Stadt Frankfurt hatte zugesichert, alle Kosten zu übernehmen. Als der Kellner fragte, was er zu essen bringen solle, antwortete Awo-Chef Jürgen Richter: „Das Teuerste, was Sie auf der Karte haben.“ Es herrschte Goldgräberstimmung, nicht nur in Frankfurt. Die Flüchtlingskrise hatte der Wohlfahrtsbranche ein neues Geschäftsfeld beschert. 

Keine vier Jahre später war die Stimmung im Keller. Ausgerechnet zum 100. Jubiläum der Awo erreichte ein Skandal um Gier, Selbstbereicherung und mutmaßlichen Betrug einen Höhepunkt, der seinen Ausgang an jenem Abend im Frankfurter Ost­end hatte. Der Frankfurter Flüchtlingsheim-Deal und dessen Folgen beschäftigten nun sogar den Bundespräsidenten. Als Frank-Walter Steinmeier am 13. Dezember 2019 in der Kongresshalle am Alexanderplatz vor den Spitzenfunktionären der Awo und der SPD die Festrede hielt, kam er um kritisch-mahnende Worte nicht herum. „Im Wettbewerb bestehen, ohne die eigenen Werte über Bord zu werfen, das ist die große Herausforderung, vor der Sie heute stehen“, sagte er. „Und wenn diese Werte in eklatanter Weise verletzt werden, dann hat die Awo ein Eigeninteresse, sich selbst an diese Werte zu erinnern und dafür zu sorgen, dass sie im Verband von allen eingehalten werden.“ Alle im Saal wussten, wen Steinmeier damit meinte: das Ehepaar Richter.

Wiederkehrende Muster

Die Arbeiterwohlfahrt wurde 1919 als Hauptausschuss der SPD gegründet. Den Sozialdemokraten, und vor allem Sozialdemokratinnen, ging es damals um „Selbsthilfe der Arbeiterschaft“. Mit Nähstuben und Suppenküchen kämpften sie gegen Not und Armut. Heute beschäftigt die Awo bundesweit mehr als 230 000 Mitarbeiter und betreibt rund 18 000 Altenheime, Kindergärten, Beratungsstellen und Behindertenwerkstätten. Sie zählt neben den kirchlichen Sozialverbänden Diakonie und Caritas, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband und dem Deutschen Roten Kreuz zu den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege, einer Branche mit Milliardenumsätzen aus öffentlichen Kassen, deren wirtschaftliche Bedeutung oft unterschätzt wird und die beste Kontakte zur Politik pflegt. Formal ist sie inzwischen eigenständig. Doch die personellen Bande zur SPD sind nach wie vor eng. Teilweise zu eng. Das macht die Awo anfällig für Missmanagement, Filz und Korruption.

Auch bei anderen Wohlfahrtsverbänden kommt es in erstaunlicher Regelmäßigkeit zu Finanzskandalen. Ausmaß und kriminelle Energie unterscheiden sich von Fall zu Fall, grundlegende Muster und Ursachen ähneln sich. Machtbewusste Geschäftsführer vor Ort nutzen ein fein gesponnenes Netz aus persönlichen Abhängigkeiten und politischer Einflussnahme zur eigenen Bereicherung, meist über Jahre hinweg. Erst wenn die lokale Presse davon Wind bekommt, das Treiben öffentlich macht und die Staatsanwaltschaft auf den Plan ruft, reagieren die Verbände. Auch das meist nach dem gleichen Muster: Die handelnden Personen werden zu schwarzen Schafen in einer Herde der Selbstlosen und Guten erklärt. Sie werden ausgetauscht, aber das System läuft weiter.

Am Steuer eines Maserati geblitzt

Die katholische Caritas erlebte ihr größtes Debakel um die Jahrtausendwende in Trier. Ein Manager der dortigen Caritas-Trägergesellschaft landete wegen Untreue und Betrug in Millionenhöhe für fünf Jahre im Gefängnis. In den Skandal verwickelt war auch die CDU. 

In Berlin geriet 2010 der Obdachlosenverein Treberhilfe in die Schlagzeilen, der zum Dachverband der evangelischen Diakonie gehörte. Auslöser der Affäre war ein Verkehrsverstoß. Der Chef des gemeinnützigen Sozialunternehmens wurde am Steuer seines Maserati geblitzt. Dann stellte sich heraus, dass dies sein Dienstwagen war. 

Das Diakoniewerk Bethel wurde 2018 aus dem Verband ausgeschlossen. Sein Vorstand soll sich ein Jahresgehalt von rund 700 000 Euro gegönnt haben und zudem eine unternehmenseigene Villa viel zu günstig an sich selbst verkauft haben.

In Duisburg wurde 2018 die Chefin einer Behindertenwerkstätte entlassen, nachdem ihr üppiges Jahresgehalt von 376 000 Euro öffentlich in die Kritik geriet. Für das gemeinnützige Unternehmen, an dem die Stadt Duisburg beteiligt ist, sei maximal die Hälfte dieser Summe angemessen, hieß es aus dem Rathaus. Finanzprüfer bemängelten später, dass die Sozialmanagerin generell recht großzügig war. So tauchten etwa auf der Spesenrechnung einer internen Strategietagung acht Flaschen Champagner zu je 119,90 Euro auf.

Awo als kriminelles Selbstbedienungs-Netzwerk?

Besonders heftig ist es allerdings bei der Arbeiterwohlfahrt. Sie hat aktuell mit drei großen Skandalen zu kämpfen. In Mecklenburg-Vorpommern, Hessen und Thüringen haben sich Awo-Funktionäre über Jahre in einem Ausmaß bereichert, das die Legende vom schwarzen Schaf unglaubwürdig erscheinen lässt. Der Awo-Bundesverband erzählt sie weiterhin.

Wenige Tage nach der 100-Jahr-Feier in Berlin eilten Wilhelm Schmidt und Wolfgang Stadler nach Frankfurt. Im überfüllten Tagungsraum eines Businesshotels traten die Vorsitzenden des ehrenamtlichen Awo-Präsidiums und des hauptamtlichen Vorstands mit zerknirschter Miene vor die Kameras. Seit mindestens neun Monaten wussten sie, dass es in Frankfurt zu finanziellen Unregelmäßigkeiten bei der Flüchtlingsbetreuung gekommen war. 

Die Awo hatte deshalb den Millionenauftrag der Stadt verloren und ihre Asylbewerberheime an Caritas und Diakonie abgeben müssen. Öffentlich wurde das durch Presseberichte. Weitere Recherchen deckten ein umfangreiches und mutmaßlich kriminelles Selbstbedienungs-Netzwerk auf, an dessen Spitze das Ehepaar Jürgen und Hannelore Richter stand. Er war Geschäftsführer des Awo-Kreisverbands Frankfurt, sie in Wiesbaden. Auch SPD-Politiker wie der Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann profitierten davon. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft in einem umfangreichen Verfahren wegen des Verdachts der Untreue und des Betrugs. Es geht um überhöhte Gehälter, gefälschte Abrechnungen, Dienstwagen mit 450 PS und um merkwürdige Beraterverträge.

In Thüringen braut sich schon das nächste Gewitter zusammen

„Es ist eines der schlimmsten Ereignisse, die wir in dieser Form, in dieser Konzentration erleben müssen“, sagte Bundesvorstand Stadler bei der Krisen-Pressekonferenz in Frankfurt. „Ich bin schon lange dabei. Und es gibt sicher immer an der einen oder anderen Stelle irgendetwas. Bei einer Organisation, die über 200 000 Mitarbeitende hat und dezentral organisiert ist, da kommt das eine oder andere hoch. Aber in dieser Fülle und dieser Konzentration ist das einmalig.“ Er und Awo-Präsident Schmidt versprachen Aufklärung – und dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden würden. Sie strickten weiter an der Legende vom Einzelfall. Doch während die beiden zum hessischen Awo-Komplex Stellung beziehen mussten, braute sich in Thüringen bereits das nächste Gewitter zusammen. Schmidt und Stadler wussten schon längst davon, verloren jedoch kein Wort darüber. 

Michael Hack ähnelt dem Frankfurter Awo-Chef Jürgen Richter nicht nur äußerlich. Bei beiden passt körperliche Fülle zum barocken Amtsverständnis. Hack kam nach der Wiedervereinigung aus Bayern nach Erfurt, um die Thüringer Awo neu aufzubauen. Er war erfolgreich. Selbst Kritiker bescheinigen ihm viel Engagement und zahlreiche Verdienste. Sie loben sein Talent, nützliche Kontakte zu knüpfen und die richtigen Strippen zu ziehen. Doch Hack hat dieses Talent nicht nur für die Awo genutzt, sondern auch zum eigenen Vorteil.

2005 wurde Hack wegen Bestechlichkeit verurteilt. Als Geschäftsführer der Awo Thüringen hatte er sich von einer Dienstleistungsfirma Provisionen für Reinigungsaufträge versprechen lassen. Im Vereinsvorstand gab es Einzelne, die ihn nun loswerden wollten. Dazu zählte die sozialdemokratische Landtagsabgeordnete Heike Taubert. Durchsetzen konnten sie sich nicht. Taubert trat aus dem Awo-Vorstand zurück. Das hinderte sie aber nicht daran, ab 2009 als Thüringer Sozialministerin großzügig Fördermittel an die Awo auszuschütten. Die Bande zwischen Awo und SPD blieben auch in Thüringen eng geknüpft.

Inzwischen ist Taubert Finanzministerin. Ihre Steuerfachleute müssen sich nun mit einer Frage auseinandersetzen, die den Thüringer Awo-Skandal ausgelöst hat: Was darf der Chef eines gemeinnützigen Sozialunternehmens verdienen? 

Die Kluft zwischen Basis und Manager wird immer tiefer

Michael Hack war bis zuletzt Geschäftsführer der AWO AJS gGmbH, nun hat er seinen Rückzug angekündigt. Die Tochtergesellschaft des Awo-Landesverbands ist in den letzten Jahren stark gewachsen, auch zulasten der Kreisverbände. Mit 5400 Angestellten ist sie heute größter Arbeitgeber Thüringens. 

Hacks Jahresgehalt von mindestens 310 000 Euro war lange selbst innerhalb der Awo ein gut gehütetes Geheimnis. Erst nach einer Welle kritischer Zeitungsberichte erhöhte der Bundesverband den Druck und prüfte die Verträge in Thüringen. Das Ergebnis wurde im Mai bekannt: Der AJS-Geschäftsführer verdiene mehr als das Doppelte dessen, was nach verbandsinternen Maßstäben angemessen sei. Für Hacks Position seien es laut Awo-Governance-Kodex maximal 140 000 Euro. Auch weitere Spitzengehälter von Awo-Managern in Thüringen kritisierte der Bundesverband.

An der sozialdemokratisch geprägten Basis der Awo stoßen solche Auswüchse auf Unverständnis. In den deutschlandweit 3435 Ortsvereinen sind nach wie vor Zehntausende Mitglieder ehrenamtlich aktiv. Sie organisieren Nachmittage für alte Menschen, engagieren sich gegen Armut und Ausgrenzung. Die Kluft zwischen ihnen und den hauptamtlichen Managern ist durch die rasante wirtschaftliche Expansion der Wohlfahrtsbranche ohnehin gewachsen. Skandale wie in Hessen und Thüringen stellen die Arbeiterwohlfahrt vor eine Zerreißprobe.

Aufruf zur Meuterei

Als der öffentliche Druck in Thüringen zu hoch wurde, ging der Awo-Bundesverband in die Offensive. „Wir haben Ende letzten Jahres in den Kreisverbänden in Frankfurt am Main und Wiesbaden beobachten können, wohin es führen kann, wenn einzelne Personen das Verständnis verlieren, was der Kern der Awo ist und wen sie repräsentiert. Dort standen bei führenden Personen Maßlosigkeit und Eigennutz im Vordergrund“, schrieben Schmidt und Stadler Ende Mai in einem offenen Brief. „Das Positive: Die Basis hat dort eindrücklich gezeigt, dass sie dies nicht akzeptiert, und mit viel Kraft, Energie und Willen einen erfolgreichen Neustart eingeleitet.

Dasselbe brauchen wir auch in Thüringen, und wir glauben nicht nur – nein, wir wissen –, dass es diese Kraft auch dort gibt.“ Es ist ein Aufruf zur Meuterei gegen den Landesvorstand, ein Machtkampf zwischen Berlin und Erfurt. Wie er ausgeht, ist offen. Eine andere Gefahr droht von außen. Die einzelnen Awo-Vereine und deren Tochterunternehmen wie die AJS in Erfurt sind als „gemeinnützig“ anerkannt. So sparen sie Steuern und haben dadurch einen Vorteil gegenüber privater, nichtgemeinnütziger Konkurrenz. Doch die Abgabenordnung schreibt vor, dass gemeinnützige Körperschaften keine Personen „durch unverhältnismäßig hohe Vergütungen begünstigen“ dürfen. Stellen die Finanzbehörden Verstöße fest, drohen rückwirkende Steuerforderungen, die bis zur Insolvenz führen können.

In Mecklenburg-Vorpommern, dem dritten Schauplatz aktueller Awo-Skandale, hatten zu üppige Gehälter sogar strafrechtliche Konsequenzen. Die Staatsanwaltschaft Schwerin hat im Februar Anklage gegen den früheren Geschäftsführer des Awo-Kreisverbands Müritz erhoben. Ihm wird „Untreue in drei besonders schweren Fällen“ vorgeworfen. Er soll 1,2 Millionen Euro zu Unrecht kassiert haben. Mitangeklagt ist wegen Beihilfe auch der ehemalige Vorsitzende des Kreisverbands. Er saß bis 2005 für die SPD im Bundestag und hat ebenfalls vom Awo-System profitiert: Sein eigentlich ehrenamtliches Engagement ließ er sich durch einen Beratervertrag mit dem Kreisverband versüßen.

Kontrollgremien haben wenig zu melden

Aufgeflogen ist dieses System bereits 2016. Auch an der Müritz waren Recherchen einer Regionalzeitung der Auslöser. Inzwischen hat die Affäre Kreise gezogen. Weitere Kreisverbände aus Mecklenburg-Vorpommern gerieten in die Kritik, unter anderem wegen einer Awo-Kita auf Mallorca. Ein Untersuchungsausschuss im Landtag beschäftigt sich mit der staatlichen Finanzierung der Wohlfahrtsverbände. Am 10. August soll SPD-Chefin und Ministerpräsidentin Manuela Schwesig dort in den Zeugenstand treten. Der Termin wird mit Spannung erwartet. Denn Schwesig war von 2008 bis 2013 Sozialministerin. „Das war die Hochzeit, während der Millionen in die Kassen der Wohlfahrtsverbände geflossen sind“, sagt Andreas Becker vom Nordkurier, der den Awo-Skandal Mecklenburg-Vorpommern aufgedeckt hat und hartnäckig verfolgt. Sein Eindruck: „Nach jedem Skandal wird mehr Transparenz versprochen, aber es tut sich viel zu wenig. Denn Macht und Lobby dieser Wohlfahrtsverbände sind riesengroß.“

Im gesamten System der Freien Wohlfahrtspflege fehlt es an wirkungsvoller Kontrolle, zunächst einmal intern. Caritas, Diakonie, Awo und Co. machen zwar Milliardenumsätze und beschäftigen zusammengenommen mehr als eine Million hauptamtliche Mitarbeiter. Doch auch wenn sie nach außen hin einheitlich auftreten: Es sind keine straff geführten Konzerne, sondern kleinteilige Zusammenschlüsse relativ unabhängig agierender Vereine vor Ort. Wesentliche Teile ihres Geschäfts finden daher im Verborgenen statt. Denn ein Verein ist nur seinen Mitgliedern Rechenschaft schuldig, Bilanzen veröffentlichen muss er nicht.

Wie bei der Awo die interne Kontrolle auf mehreren Ebenen versagt hat, zeigt sich sowohl in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen als auch in Hessen. Das Grundproblem ist stets dasselbe: Den ehrenamtlichen Funktionären vor Ort fehlt es an Fachkenntnis, Durchsetzungsvermögen und Unabhängigkeit, um die hauptamtlichen Geschäftsführer enger an die Leine zu nehmen. Formal waren die mächtigen Awo-Manager wie Michael Hack in Erfurt oder die Richters in Frankfurt und Wiesbaden zwar einem Vereinsvorstand oder Präsidium unterstellt. Doch in Wirklichkeit hatten diese ehrenamtlichen Kontrollgremien nicht viel zu sagen. Zum Teil wurden deren Mitglieder sogar gezielt in das Bereicherungssystem eingebunden, um kritische Nachfragen zu unterbinden.

Obskure Beraterfirma und ahnungslose Finanzprüferin

An der Spitze des Kreisverbands Frankfurt stand bis Ende 2019 der Rechtsanwalt und SPD-Politiker Ansgar Dittmar. Parteikenner sagen, er habe das Ehrenamt als Vorstandsvorsitzender vor allem deshalb angetreten, weil er ein Bundestagsmandat anstrebte. Gleichzeitig ließ er sich jedoch Beraterhonorare über den eng mit Frankfurt verwobenen Kreisverband Wiesbaden auszahlen. Zudem gründete er zusammen mit dem Ehepaar Richter und weiteren Awo-Managern eine Beratungsfirma, von der unklar ist, welchen Zweck sie erfüllt hat. Im Juni 2019 wurde er Geschäftsführer des übergeordneten Awo-Bezirksverbands Hessen-Süd – also jener Awo-Gliederung, deren Aufgabe es ist, die Kreisverbände Frankfurt und Wiesbaden zu kontrollieren – ein Verband, der aktuell zudem selbst in zweifelhafte Geschäfte verwickelt ist. Dittmars Amtsvorgänger erwarb als Privatinvestor Anteile an zwei Altenhilfezentren des Bezirksverbands. Die Details dieses Immobiliendeals sind noch nicht aufgeklärt.

Im Kreisverband Frankfurt war die SPD-Bundestagsabgeordnete Ulli Nissen als ehrenamtliche Revisorin für die Finanzprüfung zuständig. Sie betonte stets, dass sie bei einem Unternehmen dieser Größe auf die Vorarbeiten professioneller Wirtschaftsprüfer angewiesen sei. Von den falschen Abrechnungen in der Flüchtlingshilfe habe sie nichts gewusst. Dabei haben Mitarbeiter, die sich später an die Presse wandten, es zunächst bei ihr versucht. In anonymen Schreiben machten sie Nissen auf Missstände und Ungereimtheiten aufmerksam – ohne Erfolg. Inzwischen ist Nissen von ihrem Awo-Amt zurückgetreten, ihr Bundestagsmandat hat sie behalten.

Wo sind die Thüringer Lottomillionen versickert?

Enge Bande zu Parteien gehören auch in Erfurt zum System. Dem Aufsichtsrat der Awo-Tochter AJS sitzt SPD-Stadtrat Wolfgang Metz vor. Die üppig dotierten Geschäftsführerverträge störten ihn offenbar nicht. Liegt es daran, dass Metz von Geschäften mit der Awo profitierte?

Seine Hausverwaltungsfirma bekam jahrelang Aufträge für Seniorenwohnungen der AJS. Auch die stellvertretende Landesvorsitzende der Thüringer Awo, Katrin Matzky, sitzt im AJS-Aufsichtsrat. Hauptberuflich arbeitet sie als stellvertretende Referatsleiterin im Erfurter Sozialministerium. Aus dessen Kassen sind in den letzten Jahren mehrere Millionen Euro an die Awo und deren Tochterfirma geflossen. Genau beziffern kann ein Ministeriumssprecher die Summe gegenüber Cicero nicht, zu unübersichtlich ist offenbar das Förderdickicht. Auf die Personalie Matzky angesprochen, betont er aber: „Es besteht keine Verbindung zwischen der Ausübung der beruflichen ministeriumsbezogenen und den ehrenamtlichen Tätigkeiten der Mitarbeiterin.“

Zusätzlich zu zweckgebundenen Fördermitteln erhalten die Wohlfahrtsverbände in Thüringen regelmäßig Finanzspritzen aus der staatlichen Lottokasse. Allein für die Awo sind das mehr als 900.000 Euro im Jahr. Was die Sozialträger mit diesem Geld machen, hat in der Landesregierung offenbar jahrelang niemanden interessiert. Das kritisiert der Landesrechnungshof in einem noch unveröffentlichten Prüfbericht, der Cicero vorliegt. Weder das Sozial- noch das von der ehemaligen Awo-Funktionärin Heike Taubert geführte Finanzministerium haben demnach aussagekräftige Verwendungsnachweise gefordert. Damit hätten sie „Haushaltsgrundsätze wie die Ordnungsmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Ausgaben des Landes außer Acht gelassen“, mahnt der Rechnungshof an. „In der Folge blieben Landesmittel von jährlich rund fünf Millionen Euro hinsichtlich deren Verwendung ungeprüft. Im Zeitraum von 2008 bis 2017 waren dies über 50 Millionen Euro.“

Der Landesrechnungshof versuchte im Nachhinein aufzuklären, wo die Thüringer Lottomillionen versickert sind. Doch das war wegen fehlender Unterlagen unmöglich. Zwei von vier Wohlfahrtsverbänden „konnten die konkrete Verwendung der Mittel nicht nachweisen“, steht im Bericht. Einer davon: die Arbeiterwohlfahrt.

Synergie aus Dienstleister und Lobbyisten

Das ist das zweite Kontrollproblem: Es mangelt an externer Aufsicht. Die Wohlfahrtsverbände sind Meister des Lobbyismus. Sie verstehen sich nicht nur als Dienstleister, sondern auch als politische Interessenvertreter, als Anwälte der Schwachen und Benachteiligten. So setzen sie sich mit Erfolg für die Ausdehnung des Sozialstaats ein, wovon sie selbst durch neue Geschäftsfelder profitieren. Genauso erfolgreich verteidigen sie ihre Unabhängigkeit.

Der Ökonom Dominik H. Enste vom Institut der deutschen Wirtschaft hat die Struktur der Wohlfahrtsbranche genauer untersucht. Er stellte fest, dass „rund 83 Prozent der Gesamteinnahmen der Freien Wohlfahrtspflege aus öffentlichen Haushalten“ stammen: Leistungsentgelte der Sozialhilfeträger, Kranken- und Pflegekassen sowie staatliche Zuwendungen in Form von Subventionen. Eigene Mittel wie Spenden und Mitgliedsbeiträge machen laut Enste nur einen geringen Teil der Einnahmen aus. Bei weltlichen Verbänden wie der Awo sei die Abhängigkeit vom Staat sogar noch größer als bei den kirchlichen.

Dennoch gelingt es den Wohlfahrtsverbänden, staatliche Finanzkontrolleure auf Abstand zu halten und auf Autonomie zu pochen. Im Zuge des Frankfurter Awo-Skandals forderte der Leiter des städtischen Revisionsamts, dass die Stadtverwaltung viel strenger kontrollieren müsse, wofür Zuwendungen letztendlich verwendet würden. Städtische Mittel seien bisher an mindestens 75 Organisationen, Vereine und Verbände geflossen, die mit der Awo verknüpft seien. Solche Strukturen machten eine effektive Kontrolle unter den bisherigen Regeln und Bedingungen extrem schwierig, monierte er in sehr deutlichen Worten. Doch geändert wurde an diesen Regeln bisher nichts.

In Sachsen-Anhalt beklagte der Landesrechnungshof jüngst, dass der „hoch subventionierte Sozialhilfebereich de facto prüfungsfrei“ sei. Zuvor waren Unregelmäßigkeiten bei der Lebenshilfe, einer Hilfsorganisation für geistig Behinderte, bekannt geworden. Auch der Kauf zweier Krankenhäuser in Niedersachsen alarmierte die Wirtschaftsprüfer. Die CDU forderte daraufhin, dass die Rechnungsprüfer künftig auch freien Sozialträgern in die Bücher schauen dürfen. Doch SPD-Sozialministerin Petra Grimm-Benne sträubt sich dagegen. Dafür gebe es „keine Regelungskompetenz des Landes“, wehrt sie erweiterte Prüfrechte des Rechnungshofs ab. Von 2006 bis 2016 war Grimm-Benne Vorstandsvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt Sachsen-Anhalt.
 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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