Klimakrise - Wird die Freiheit auf dem Altar des Klimanotstands geopfert?

Die Niederlande haben es vorgemacht: Der Staat kann im Kampf gegen den Klimawandel zur Verantwortung gezogen werden. Ob das allerdings weniger die Abwendung der Klimakrise als viel mehr die Heraufbeschwörung einer Art Klimadiktatur zur Folge hat, bleibt offen.

Ein Fall für die Justiz? Gletscherschmelze in Chile als Folge des Klimawandels / picture alliance
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Autoreninfo

Otto Depenheuer ist Professor für Öffentliches Recht, Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosphie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Köln. 

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Der von immer mehr Städten, Gemeinden und Staaten sowie von 11.000 Wissenschaftlern ausgerufene „Klimanotstand“ macht seinem Namen alle Ehre: das Wort ist Tatbestand wie Programm gleichermaßen, verbindet Wahrheitsgewissheit mit Ausnahmedenken. Der Notstand erfordert sofortiges Handeln und die Wahrheit hat ihre eigene Logik: als (religiöse) Heilsgewissheit weist sie den Weg zum Himmel, als (wissenschaftliche) „Untergangsgewissheit“ den Weg zur Rettung der Menschheit.

Doch eine derartige Notstandsrhetorik ist ziemlich genau das Gegenteil eines Beitrags zur demokratischen Entscheidungsfindung: Demokratie und Wahrheit sind unüberbrückbare Gegensätze, nicht weil es keine Wahrheit geben könnte (jeder darf für sich Wahrheiten welcher Provenienz auch immer glauben und danach leben), sondern weil im Verfassungsstaat niemand das Recht hat, im Namen der Wahrheit über andere Menschen Herrschaft auszuüben. In einem auf Wahrheit gründenden Gemeinwesen sind alle Errungenschaften des modernen Staates obsolet: Menschenrechte, Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaat.

Dem moralischen Besserwisser hörig?

Stattdessen überführt die Demokratie subjektive Wahrheitsgewissheit in die ergebnisoffene Diskussion um die Wahrheit. Über den Tatbestand der Klimakrise, über die erforderliche Abwägung von Maßnahmen mit gegenläufigen Interessen entscheiden die Abgeordneten im Parlament als Vertreter des Volkes nach Mehrheit unter gleichzeitiger Übernahme politischer Verantwortung. Doch diese Errungenschaften des freiheitlichen Verfassungsstaates sind nicht in Stein gemeißelt: die „Trumpisierung“ der Politik gefährdet sie ebenso wie die penetrante Moralisierung von immer mehr politischen Diskussionen und Entscheidungen wie gegenwärtig in der Frage des Klimawandels.

Dies führt zu einem weithin gleichförmigen Meinungsklima, das die Andersdenkenden moralisch diskreditiert, während organisierte Klimaaktivisten die politische Tagesordnung bestimmen und der demokratisch legitimierten Politik nur mehr Vollstreckungsaufgaben zuweist. Selbst die Gewaltenteilung schlägt in dieser Notstandssituation Kapriolen: das Verfassungsgericht, eigentlich nur zum Schutz der Verfassung gegen deren Verletzung vorgesehen, soll richten, was der politische Prozess – nach Meinung der moralischen Besserwisser – nicht schafft.

Die Verantwortung beim Staat suchen

Tatsächlich hat der Oberste Gerichtshof (Hoge Raad) der Niederlande auf Antrag einer Umweltstiftung den Staat verurteilt, bis Ende 2020 die Emissionen von Treibhausgasen um exakt 25 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 zu senken. Wenn das tatsächlich in der niederländischen Verfassung stehen sollte, dann könnte man versucht sein, auch im Grundgesetz nämliches zu finden. Das haben sich auch etliche Aktivisten gedacht und eine Klimaklage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht.

Das ist natürlich ihr gutes Recht: jeder Bürger kann das Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel anrufen, den Staat zu Maßnahmen zu verpflichten, Grundrechtsverletzungen seiner Bürger vorzubeugen und sie vor absehbaren Schäden zu bewahren. Das gilt für den Schutz des Lebens, der Gesundheit oder des Eigentums durch Umweltverschmutzungen, Flug und Verkehrslärm, Atomanlagen, Ausstoß von Stickoxiden etc. Solche Gefährdungen können unter bestimmten Voraussetzungen auch zu Grundrechtsverletzungen führen.

Die Wirksamkeit einer Klimaklage bleibt umstritten

In diesem Fall hat der Gesetzgeber die Risiken gefahrenträchtiger Handlungsweisen mit gegenläufigen Rechtsgütern abzuwägen und die bestmögliche Entscheidung zwischen den widerstreitenden Interessen zu treffen. Da Zukunftsprognosen ebenso wie Lösungsoptionen in der Regel fachlich wie politisch umstritten sind, kann die Verfassungsbeschwerde nur erfolgreich sein, wenn der Gesetzgeber in Ansehung einer unstreitig festgestellten Gefährdung prinzipiell untätig bleibt oder offensichtlich ungeeignete Maßnahmen trifft.

Bei einem 2%-Anteil Deutschlands an der weltweiten CO2-Verschmutzung würde ein solches Urteil das Weltklima offensichtlich auch nicht wirklich retten. 1998 hatte das Verfassungsgericht eine entsprechende Klage im Kontext des „Waldsterbens“ zwar nicht zur Entscheidung angenommen, aber seine Ablehnung umso ausführlicher begründet. Heute dürfte das Verfassungsgericht – dem politischen wie dem meteorologischen Klima verpflichtet – die Klimaklage zwar annehmen, seine Grundsätze erneut bekräftigen, aber wiederum den Staat nur verpflichten, alles zu tun, um eine Klimakatastrophe abzuwenden.

„Notstands“-Logik

Doch die Klimaklage könnte das Verfassungsgericht auch veranlassen, über seine bisherige zurückhaltende Rechtsprechung hinauszugehen. Denn wir leben nicht in normalen Zeiten, sondern in Notstandszeiten, in dem es über das „Überleben für den ganzen Kontinent“ (Merkel) geht. Der Begriff des Notstands hat nämlich seine eigene Logik: das wussten die 68er noch, als sie seinerzeit gegen die Notstandsgesetzgebung der Großen Koalition auf die Straße gingen.

Tatsächlich können den Worten sehr schnell Taten folgen, worauf in anderen Kontexten hinzuweisen sich Politiker und Journalisten gerne überbieten. Recht haben sie. Das gilt aber auch für das Wort „Notstand“. Man kann nicht jeden Tag den Klimanotstand ausrufen, ohne dass etwas passiert. Ab einem bestimmten „Kipppunkt“ wird die Rede vom Klimanotstand Ergebnisse sehen wollen. Man darf gespannt darauf sein, wann die ersten Klimaaktivisten die Geduld verlieren, den Rechtsgehorsam unter Berufung auf den Notstand aufkündigen und zur rettenden Tat schreiten nach dem Motto: Not kennt kein Gebot.

Die Niederlande als Vorbild?

Damit würden sie sich freilich in eine fatale Nachbarschaft begeben. Der Begriff „Notstand“ ist in Deutschland bis heute diskreditiert: er steht für Carl Schmitt, Faschismus und damit für das Böse schlechthin. Auch die deutsche Staatsrechtslehre perhorresziert bis heute weithin das Denken von der Ausnahme her, sieht im Ernstfall den verfassungsrechtlichen Beelzebub, weil die Ausrufung des Notstandes Tür und Tor öffnete zur Aushebelung des geltenden Rechtsstaates und seiner Freiheitsgarantien.

In diesen Kontext wird sich das Bundesverfassungsgericht natürlich nicht stellen wollen. Gleichwohl könnte es versucht sein, seinem niederländischen Pendant nachzueifern und einer aktiven Klimarettung konkrete Vorgaben zu machen oder sie gleich selbst anzuordnen. Undenkbar ist es jedenfalls nicht, denn schon seit längerem sind substantielle Verschiebungen im System der grundgesetzlichen Gewaltenteilung zu beobachten.

Verschiebung in der Gewaltenteilung

Insbesondere das Parlament wird seiner Rolle, politische Leitentscheidungen zu treffen, immer weniger gerecht. Es wartet lieber auf verbindliche Vorgaben „aus Brüssel“ oder „aus Karlsruhe“. Und die lassen sich nicht zweimal bitten, im Weg der Ersatzvornahme in die Rolle des Ersatzgesetzgebers zu schlüpfen. Inzwischen wird eine eigenständige Regulierungskompetenz der Gerichte zunehmend offensiv vertreten: wenn die parlamentarische Demokratie an Funktionsgrenzen stoße, müssten notgedrungen die anderen Staatsgewalten, insbesondere das Bundesverfassungsgericht, korrigierend eingreifen.

Es steht nicht zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht dieser Versuchung, als Korrektiv oder gar als Ersatz des demokratischen Prozesses zu agieren, nachgeben wird. Andernfalls könnte am Ende der Entwicklung gar – horribile dictu – ein „Notverordnungsrecht des Bundesverfassungsgerichts“ stehen, gleichsam als letztes Mittel, um die Klimakatastrophe doch noch abzuwenden und das Überleben der Menschheit in letzter Sekunde zu sichern.

Doch mit einem derartigen verfassungsgerichtlichen Aktionismus riskierte das Gericht die Entlegitimierung des Systems selbst, könnte doch dem Klimanotstand schnell die Klimadiktatur folgen. Auf diesen Weg zu geraten, darin besteht die Gefahr der Ausrufung auch eines nur symbolisch gemeinten „Klimanotstands“ durch staatliche Gewalten: die freie, offene Diskussion um den Tatbestand und die Bewältigung der Herausforderung auszuschalten, auf das die meteorologische Wahrheit obsiege. Freiheit und Demokratie, Rechtsstaat und Gewaltenteilung würden auf dem Altar des Klimanotstands geopfert. Eine solche Abdankung westlicher Errungenschaften – das wäre wirklich eine politische Katastrophe.

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