Kindesmissbrauch - „Behörden versagen zu oft“

500 Terabyte kinderpornografisches Material wurden im Missbrauchskomplex in Münster sichergestellt, die Täter sind verurteilt. Die meisten Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs sind ihren Peinigern jahrelang ausgesetzt, ohne dass Jugendämter oder Justiz durchgreifen würden, sagt Sonja Howard vom Betroffenenrat.

Auf jede deutsche Schulklasse kommen laut WHO ein bis zwei Kinder, die sexuell missbraucht werden / dpa
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Autoreninfo

Uta Weisse war Online-Redakteurin bei Cicero. Von Schweden aus berichtete sie zuvor als freie Autorin über politische und gesellschaftliche Themen Skandinaviens.

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Sonja Howard ist seit 2015 Mitglied im Betroffenenrat, dessen Hauptaufgabe die Unterstützung des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) ist. Alle Mitglieder des Rates haben selbst sexualisierte Gewalt erlebt. Sie setzen sich unter anderem ein für Therapie, Entschädigung, kindgerechte Justiz und Prävention in Schulen und Kitas.
 
„Das übersteigt alles, was dieser Kammer bislang vorgelegt wurde“, sagte der Vorsitzende Richter bei der Urteilsverkündung im Missbrauchsprozess in Münster. Die vier Angeklagten erhielten Höchststrafen. Die Ermittlungen werden als Erfolg gefeiert, doch haben sie schon vor mehr als einem Jahr begonnen.
 
Wir haben es teilweise mit einer völlig überlasteten Justiz zu tun. Wenn überhaupt Anklage erhoben wird, müssen die Kinder teils drei bis vier Jahre warten, bis der Prozess losgeht. Es ist auch bekannt, dass Fälle, die auf hohes Medieninteresse stoßen, schon mal vorgezogen werden auf Kosten von nicht so bekannten oder „nicht so schlimmen“ Fällen. Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher Kriminalbeamter hat kürzlich gesagt: Die Kripo in NRW sei komplett überlastet. Die können nicht schneller arbeiten. Die meisten Kinderpornografie-Hinweise werden uns noch dazu aus den USA zugespielt.
 
NRW-Innenminister Herbert Reul hat anlässlich von Münster gesagt, man hätte das Personal im Vergleich zu 2018 vervierfacht, 33 Millionen Euro investiert. Die Aufklärungsquote bei Kinderpornografie läge bei knapp 90 Prozent. Normalerweise landen aber nur ein Prozent polizeilich erfasster Missbrauchsfälle vor Gericht.
 
In den Fällen, in denen kinderpornografisches Material vorliegt und es klar ist, dass definitiv sexualisierte Gewalt stattgefunden hat, muss man nicht mehr groß ermitteln. Die Beweise müssen quasi nur noch ausgewertet, die Kinder und Täter gefunden werden. Die 90 Prozent beziehen sich auf das gesichtete Material, aber die meisten Daten wurden eben noch nicht gesichtet. Da habe ich von Ermittlern schon anderes gehört. 
 
Was sagen die?
 
Der Leiter der Zentralen technischen Auswertungsstelle Kinder- und Jugendpornographie (ZASt) hat erst letztes Jahr gesagt: „Wir haben hier Kinder, die wir über Jahre in immer neuem Material sichten und wir sehen, wie diese Kinder größer werden, aber wir finden sie einfach nicht.“ Aber ich muss Herrn Reul lassen, dass NRW wirklich ein bisschen ein Vorreiter ist in Deutschland, weil er das Thema zur Chefsache gemacht hat. In NRW wurde auch eine Kinderschutz-Kommission eingerichtet.

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Wenn es kein Videomaterial gibt, wie bringt man Kinder zu einer Aussage? 
 
Es gibt die Möglichkeit, dass man zum Beispiel Childhood-Häuser hinzuzieht: Das sind Stellen, bei denen Psychologen arbeiten, die auf die Bedürfnisse traumatisierter Kinder geschult sind. Die schaffen ein kinderfreundliches Setting, wo man auf Augenhöhe mit dem betroffenen Kind sprechen kann. So kann das Kind erst mal Vertrauen schöpfen. Dann kann man Video-Vernehmungen machen, damit das Kind nicht zehnmal vernommen werden muss.
 
Wie sind die Erfahrungen?
 
Das wird viel zu wenig genutzt. Und wenn ein Kind in irgendeinem Dorf erzählt, dass es missbraucht wurde, gerät es bei der Dorfpolizei an irgendeinen Ermittler, der zufällig da ist. Der stellt dem Kind Fragen und kommt allzu oft zum Schluss, das Kind würde gar nichts sagen. Thema erledigt. Ermittlungen werden nicht aufgenommen. Das passiert in sehr vielen Fällen. Nur würde sich das Kind sehr wahrscheinlich in einer geeigneten Umgebung öffnen, wenn ihm die richtigen Fragen gestellt würden.
 
2020 gab es in Deutschland knapp 17.000 polizeilich erfasste Kinder, die Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch wurden. Es wird von einer 15- bis 20-mal höheren Dunkelziffer ausgegangen.
 
Wenn man sich dem wirklich stellt, dann dreht es einem die Eingeweide um. Das wird auch für mich kein leichteres Thema, nur weil ich mich schon Jahre damit beschäftige. Aber die Menschen wollen sich nicht damit auseinandersetzen. Der Gedanke, dass wir alle mit großer Wahrscheinlichkeit Täter kennen, ist sehr unbequem. Psychologisch ist diese Verdrängung nachvollziehbar, aber sie ist inakzeptabel.

 

Sonja Howard / Christine Fenzl

 
Die Angeklagten in Münster sollen bei der Urteilsverkündung gegrinst und laut gelacht haben. Die Opfer mussten nicht anwesend sein. Eine Forderung Ihres Expertengremiums ist es, Gerichtsverfahren kindgerecht zu gestalten.
 
Kinder müssen nicht nur bei der Polizei ihre erste Aussage machen, sie werden häufig mehrmals vernommen. Dass sie im Gerichtssaal anwesend sind, aussagen müssen, zusätzlich auf Glaubwürdigkeit begutachtet werden, ist keine Seltenheit. Und die Prozesse ziehen sich teils über Jahre hin. Sehr viele Gerichte fordern zudem, obwohl es keine rechtliche Grundlage dafür gibt und die Forschung dieser These vollkommen widerspricht, dass das betroffene Kind in dieser Zeit keine Therapie bekommt, um die Aussage nicht zu verfälschen. Stellen Sie sich das vor, ein Kind wird aus einer Missbrauchssituation rausgeholt, ihm wird aber psychologische Hilfe verwehrt. Das ist doch menschenunwürdig.
 
Der Hauptangeklagte von Münster war wegen Besitzes von Kinderpornografie vorbestraft. Er hat auch seinen Ziehsohn missbraucht und missbrauchen lassen. Was muss passieren, damit Behörden früher eingreifen?

Da gibt es massive Versäumnisse. Ich habe erst letzte Woche über die Kinderschutz-Ambulanz in Remscheid von einem Kind erfahren, das sich immer wieder seiner Erzieherin anvertraut hatte, der Vater habe es missbraucht. Die Erzieherin hatte das aber monatelang nicht an die Kita-Leitung weitergegeben, weil sie sich das bei so einem freundlichen Mann nicht vorstellen konnte.
 
Was ist zu tun?
 
Es muss für alle, die beruflich mit Kindern zu tun haben, klar sein, wie in solchen Situationen zu handeln ist. Die Mitarbeiter müssen regelmäßig in Fortbildungen an Fallbeispielen durchgehen, was zu tun ist. Solange es Kita-Leitungen gibt, die behaupten, sie hätten seit 20 Jahren keinen Kinderschutzfall gehabt, ist noch viel zu tun. Denn statistisch ist das geradezu unmöglich.
 
Ein Punkt, der im Maßnahmenkatalog des Nationalen Rates gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen auftaucht, ist, die Forschung voranzutreiben. Worum geht es? 
 
Wir kennen zwar schon ungefähr den Unterschied zwischen der Hell- und der Dunkelziffer. Und es gibt ja auch die „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“, die Missbrauch in unterschiedlichen Strukturen der Gesellschaft untersucht, also in Familien, Schulen, Vereinen, religiösen Einrichtungen. Aber Erkenntnisse über Täterstrategien fehlen zum Beispiel noch in großem Maß.
 
Was sind Täterstrategien? 
 
Die Art, wie Täter ihre Übergriffe verschleiern. Ich spreche jetzt mal aus einer möglichen männlichen Täterperspektive – die meisten sind nämlich männlich: „Ich bin der joviale, gut aussehende Typ, der viel Geld verdient und supervernetzt ist, ich habe Freunde, die Anwälte und Ärzte sind, ich kann mich vor Gericht gut darstellen.“ Das ist alles Teil einer Täterstrategie. Und da fehlt es an Erkenntnissen, die wiederum Behörden, die mit Verdachtsfällen zu tun haben, helfen könnten, sich von ihren persönlichen Eindrücken freizumachen.

Ein Beispiel?

In der Missbrauchsserie in Bergisch Gladbach hat eine Jugendamtsmitarbeiterin drei Jahre lang die Verdachtsäußerungen der Mutter eines betroffenen Kindes ignoriert. Sie war kurz davor, das Sorgerecht zu verlieren, weil man ihr unterstellte, sie hätte den Missbrauch erfunden. Der Vater hatte, wie sich später herausstellte, das Kind missbraucht. Die Sozialarbeiterin war aber der Meinung gewesen, der Vater würde so etwas nie machen, er sei doch so freundlich. Das Denken, wir könnten es jemandem ansehen, ob er Täter ist oder nicht, gehört ausgeschaltet.
 
Sozialarbeiter werden aber doch entsprechend geschult.
 
Nein. Es reicht einfach nicht, wenn man im Studium mal ein Wahl-Modul „Kinderschutz“ belegt hat. Diese Mitarbeiter sind nicht geschult, wie sie die Glaubwürdigkeit der Aussagen bewerten sollen. Glaube ich der heulenden Mutter, die psychisch labil wirkt, und dem Vater Missbrauch am Kind vorwirft, oder dem superselbstsicher auftretenden Vater?
 
Lässt sich die hohe Dunkelziffer dadurch erklären, dass die Jugendämter es nicht einmal schaffen, in den offensichtlichen Fällen einzugreifen?
 
Ja, die Behörden versagen zu oft. Man muss es so sagen. Und das ist den Menschen, die in diesen Ämtern arbeiten, zumindest im Nachhinein auch bewusst. Da herrscht große Angst. Man will das nicht wahrhaben, dass man über Jahre so versagt hat. Eine Fehlerkultur, wie man in Zukunft bessere Arbeit machen kann, fehlt total.
 
Ein Gegensteuern käme einem Schuldeingeständnis gleich? 
 
Ja, genau, das nennt sich Confirmation Bias. Wissenschaftliche Studien belegen, dass das auch in Jugendämtern an der Tagesordnung ist: Der einmal eingeschlagene Weg wird auf Teufel komm raus beibehalten, auch wenn sich die Verdachtsmomente häufen. Deswegen wäre eine unabhängige Fachaufsicht, die von außen beobachtet, wie in den Jugendämtern gearbeitet wird, zwingend notwendig. Eine zentrale Anlaufstelle, wo sich Mitarbeiter hinwenden können, gibt es im Übrigen auch nicht. Jede Woche sterben in Deutschland zwei bis drei Kinder, viele davon mit Akten bei Jugendämtern. 
 
Die Berichterstattung liefert doch genügend Hinweise auf Jugendämtern, wo man mal genauer hinschauen könnte  Lügde, Bergisch Gladbach, Münster.
 
Sollte man meinen. Aber das passiert nicht. Wie auch? Es gibt keine Rechtsgrundlage dafür. Viele denken das, auch Politiker, mit denen ich im Kontakt bin. Doch das geht nicht, nur reinzumarschieren und zu sagen: „Gebt uns mal alle Akten eurer aktuellen Fälle, wir gucken uns die mal an.“ Aber wenn wir Kinderschutz wirklich ernst nähmen, dann müsste man das machen. 
 
Haben Sie Bedenken, dass die Umsetzung Ihres Maßnahmenkatalogs scheitern könnte? 
 
Meine große Sorge ist, dass es wieder viel zu lange dauert. Die neue Legislaturperiode beginnt bald und wir wissen nicht, ob die Partei, die dann an die Macht kommt, sich ernsthaft des Themas Kinderschutz annimmt. Wir diskutieren seit zehn Jahren über dieselben Dinge. Ich bin nicht ganz so optimistisch.
 
Sie wurden von den Medien zitiert, dass es nicht von Glück oder Zufall abhängen dürfe, ob einem Kind bei einem Missbrauchsfall geholfen werde. Was heißt das?

Jedes Jugendamt in Deutschland ist anders aufgestellt, manche haben Kooperationen mit der Polizei, machen regelmäßig Fortbildungen, andere nicht. Manche sind chronisch überlastet, finanziell schlecht ausgestattet. Der gleiche Fall würde je nach Kreis anders ausgehen, ist also tatsächlich vom Wohnort abhängig.


Sie haben auch gesagt, Tätern müsse „Angst und Bange“ davor werden, entdeckt zu werden.

Kindern wird nach wie vor viel zu selten geglaubt oder man hört ihnen gar nicht erst zu. Es ist ein Mythos, dass Kinder grundsätzlich nicht reden würden. Kinder reden sehr viel und oft über Jahre und vertrauen sich auch oft sehr, sehr vielen Menschen an, bis sie dann an jemanden geraten, der ihnen glaubt und Hilfe in die Wege leitet. Wir hatten jetzt eine Strafrechtsreform, wie in Münster fallen die Strafen auch tatsächlich mal härter aus. Zuvor wurde sexualisierter Kindesmissbrauch wie ein Bagatelldelikt behandelt.
 
Sie wünschen sich höhere Strafen?
 
Ich wünsche mir, dass unsere Strafmaße ausgeschöpft werden und Täter überhaupt verurteilt werden. Ich verstehe natürlich auch, dass das Urteil im Zweifel für den Angeklagten gefällt wird. Nur kann es doch nicht sein, dass ein Jugendamt aufgrund eines Freispruchs schlussfolgert, dass keine Kindeswohlgefährdung besteht, wenn ein mutmaßlicher Täter wegen Mangels an Beweisen freigesprochen wird. Da wünsche ich mir dann, dass die Jugendämter im Zweifel auf der Seite des Kindes sind.
 
In Schweden lässt sich problemlos herausfinden, ob und wofür der Nachbar, neue Partner oder Kollege  verurteilt wurde. Sollte das auch in Deutschland möglich sein? Mit Blick auf verurteilte Kinderschänder?
 
Ja. Zumindest sollte, wenn ein schon aktenkundig gewordener Täter mit Kindern in einem Haushalt gemeldet wird, automatisch das zuständige Jugendamt informiert und die Situation beobachtet werden. Denn nehmen Sie das Beispiel einer alleinerziehenden Mutter, die lernt einen Mann kennen. Sie kann nicht herausfinden, ob er etwa wegen des Besitzes von Kinderpornografie vorbestraft ist. Und wir wissen zudem, dass Täter hochmanipulativ sind. Ob jemand pädokriminell ist, können wir ihm nicht ansehen. Und Alleinerziehende sind sowieso häufig überlastet, wenn dann jemand ins Leben tritt, der sich liebevoll kümmert, ist doch nicht der erste Gedanke, dass er ein Sexualstraftäter sein könnte. Für mich geht Kinderschutz vor Datenschutz. Ich finde es absurd, dass wir das nicht längst schon praktizieren.
 

Die Fragen stellte Uta Weisse.

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