Kinder und Jugendliche in der Corona-Krise - Wir lassen kein Kind zurück

Auf Aktionspläne der Bundesregierung zur Behebung der Lernrückstände der Schüler können sich die Schulen nicht verlassen. Es geht darum, eigene Kompetenzen zu entwickeln und das beste Konzept für den Schulalltag zu übernehmen.

Ein seltenes Bild: Kinder nehmen am Präsenzunterricht teil / dpa
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Autoreninfo

Rainer Werner unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er verfasste das Buch „Fluch des Erfolgs. Wie das Gymnasium zur ,Gesamtschule light‘ mutiert“.

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Während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 schilderte eine Berliner Tageszeitung, wie die Schulen in ihrem Einzugsgebiet mit den Herausforderungen des Homeschoolings umgingen. Der Bericht offenbarte, dass die Kluft zwischen cleveren Lösungen und totalem Versagen groß war. An einer Berliner Sekundarschule riefen die Lehrer die Eltern an und baten sie, ein Familienmitglied in die Schule zu schicken. An den Garderobehaken in den Fluren hingen Plastiktüten, in denen sich das Unterrichtsmaterial für eine Woche befinde. Die Schüler sollten die Aufgaben bearbeiten und die ausgefüllten Bögen am Wochenende wieder an die Haken hängen. Sie bekämen dann zeitnah eine Rückmeldung.

„Nun lernt mal schön!“

Kleinlaut mussten die Lehrer eingestehen, dass nach einem Monat immer noch einige Plastiktüten in den Fluren hingen. Sie waren nie abgeholt worden. Einige Schüler waren der Schule offensichtlich abhandengekommen. Vorbildlich agierte ein Gymnasium in Hohen Neuendorf (Brandenburg). Die Schule hatte schon vor Jahren Gelder aus dem Digitalpakt abgerufen, was in Berlin viele Schulen bis heute nicht getan haben. Die funktionierende digitale Infrastruktur erlaubte es der Schule, während des Lockdowns den Unterricht nach Stundenplan durchzuführen. Die Schüler versammelten sich zur gegebenen Zeit vor ihren Bildschirmen zur Video-Konferenz und lösten die Aufgaben, die ihnen die Lehrkraft zu Beginn der Stunde stellte. Freiräume im Stundenplan gab es nur in Fächern, die sich nur in Präsenz unterrichten lassen, zum Beispiel in Sport und Musik.

Diese „Freistunden“ sollten die Schüler zum Selbststudium nutzen. Das Lernen nach Stundenplan half den Schülern, ihrem diffusen Alltag im Kinderzimmer eine Struktur zu verleihen. Auch von Erwachsenen ist bekannt, dass sie das Homeoffice besonders gut bewältigen, wenn sie dem Tagesablauf eine feste Struktur geben. Schülern mit der freundlichen Aufforderung „Nun lernt mal schön!“ lediglich Material zuzuschicken, ist ein Form von pädagogischer Vernachlässigung. 

Pädagogische Kompetenz beweisen

Jede Schule hat es in der Hand, ihren Schülern gute Lösungen anzubieten, die ihnen die schwere Zeit des schulfernen Lernens erleichtern. Ob einer Schule das gelingt, liegt an der Kreativität und Tatkraft der Lehrer, vor allem aber an ihrem pädagogischen Ethos. Wenn eine Schulleitung ihr höchstes Bestreben nur darin sieht, die Schule möglichst „fehlerfrei“ zu verwalten, hat sie gegenüber kreativen und einsatzfreudigen Schulen schon verloren.

Die Lehrerverbände waren bislang leider keine große Hilfe. Ihr größtes Bemühen galt der Verstärkung der Schutzmaßnahmen für ihre Klientel. Nach einfallsreichen Bildungskonzepten, wie die Schüler mit der erzwungenen Häuslichkeit am besten umgehen können, sucht man bei den Berufsverbänden der Lehrer vergebens. Dass die GEW jetzt auch noch fordert, die Abiturprüfungen ausfallen zu lassen und durch die Semesterzensuren zu ersetzen, passt ins Bild. Die Lehrergewerkschaft mutet den Abiturienten zu, sich mit einem zweitklassigen Corona-Notabitur an den Universitäten oder auf dem Arbeitsmarkt zu bewerben. 

Wissenslücken identifizieren

Wenn sich eines Tages alle Schüler wieder zum Präsenzunterricht einfinden, wäre es verfehlt, zum business as usual überzugehen. Die Lehrer müssen davon ausgehen, dass die Schüler unterschiedlich mit den erschwerten Bedingungen des häuslichen Lernens zurechtgekommen sind. Bildungsbeflissene Eltern werden ihre Kinder optimal unterstützt haben, während Kinder in sozial schwierigen Familien ihre liebe Not hatten, den Anschluss an ihre Mitschüler nicht zu verlieren. Es muss unbedingt vermieden werden, dass die Lehrer beim Neubeginn über die Köpfe der abgehängten Schüler hinweg unterrichten.

Um den Umfang der vorhandenen Wissenslücken zu ermitteln, können Tests durchgeführt werden, die die Bildungsstandards des letzten Schuljahres zum Gegenstand haben. Wenn die Tests die verbindlichen Mindest- und Regelstandards abfragen, bekommen die Lehrkräfte aussagekräftige Hinweise darauf, welche Stoffe vorrangig unterrichtet werden müssen. Wenn sich bei einigen Schülern die Defizite als zu groß herausstellen, kann die Wiederholung der Klasse eine sinnvolle Option sein. Die meisten Kultusminister haben eine Wiederholung zugelassen, die nicht als „Sitzenbleiben“ zählt. Von einem Stigma kann dann keine Rede mehr sein, eher von einem nützlichen Neustart. 

Wissensflut kreativ strukturieren

Die Methode des exemplarischen Lernens könnte dabei helfen, die überbordende Stofffülle der Fächer sinnvoll zu reduzieren. Beim exemplarischen Lernen erarbeiten sich die Schüler Lerngegenstände selbst, nachdem sie zuvor im Unterricht anhand typischer Beispiele Wesentliches und Gesetzmäßiges darüber erfahren haben. Wenn ein Deutschlehrer in der 8. Klasse die Analyse einer Kurzgeschichte   sorgfältig einführt, können die Schüler diese Fertigkeit auf andere Texte übertragen.

Für die Quellenanalyse im Geschichtsunterricht gilt dasselbe. Die Schulen sollten in einem internen Curriculum festlegen, welche Gegenstände „exemplarisch“ gelernt werden sollen. Dadurch wird ein einheitliches inhaltliches und methodisches Fundament gelegt, auf das im weiteren Unterricht sinnvoll aufgebaut werden kann. Dabei sollte Wert auf Orientierungswissen gelegt werden, das dabei hilft, die Wissensflut zu strukturieren.

„Steine im Fluss“

Die Didaktik kennt die Lerntheorie „Steine im Fluss“. Darunter versteht man die Vermittlung von Wissensbeständen, die unverzichtbar sind, um neues Wissen aufzunehmen und es an schon Gelerntes andocken zu können. Der Lernende schreitet quasi trockenen Fußes von Stein zu Stein, bis er das andere Ufer, den neuen Wissenshorizont, erreicht. In jedem Unterrichtsfach gibt es ein solches Basiswissen. Die Basics der Mittelstufenmathematik sind zum Beispiel Multiplikation, Division, Flächenberechnungen, Bruch- und Prozentrechnung, Dreisatz, Gleichungen und Potenzen.

In Geschichte sind bilden solche Orientierungspunkte die zentralen Epocheneinschnitte: Reformation, Renaissance, Aufklärung, Französische Revolution, die anderen bürgerlichen Revolutionen, Novemberrevolution, Weimar, „Drittes Reich“, BRD und DDR sowie die Wiedervereinigung. Wenn sich die Lehrkräfte in allen Fächern anfangs auf das elementare Wissen konzentrieren, können sie am ehesten die entstandenen Lücken schließen. Die Fachkonferenzen sind dazu berufen, die elementaren Gegenstände für ihr Fach festzulegen. 

Warum nicht Sommerschulen? 

Für hochbegabte Schüler gibt es in den meisten Bundesländern Einrichtungen, die es ihnen ermöglichen, sich außerhalb des Schulbetriebs zusammen mit gleichbegabten Jugendlichen an schwierigen Lerngegenständen zu erproben. Diese Sommerschulen und Junior-Akademien finden in den großen Ferien statt, häufig in reizvoller, naturnaher Umgebung, so dass auch für eine angenehme Freizeitbeschäftigung gesorgt ist. Was spricht dagegen, solche Einrichtungen auch für lernschwache und sozial benachteiligte Schüler zu schaffen?

Wenn die Förderkurse drei Wochen dauern, hätten die Schüler immer noch genügend Zeit, mit ihren Eltern zu verreisen oder ihren Hobbys nachzugehen. In Deutschland gibt es ein riesiges Reservoir an pensionierten Lehrkräften, die sich bester Gesundheit erfreuen. Warum ist noch kein Kultusminister auf die Idee gekommen, die motivierten unter ihnen für die Unterstützung der abgehängten Schüler zu gewinnen? Auch Lehramtsstudenten könnte man für diese Aufgabe motivieren. Wenn man ihren praktischen Einsatz an der Lernfront „vergütet“, indem man ihnen dafür die Belegung eines theoretischen Pädagogikseminars erlässt, gäbe es zwei Gewinner: Die Schüler fänden motivierte Unterstützer und die angehenden Lehrer lernten schon während ihres Studiums den pädagogischen „Ernstfall“ kennen. Was kann ihnen Besseres passieren?

Wir lassen kein Kind zurück

An einem Berliner Gymnasium habe ich einmal gemeinsam mit einer Kollegin beschlossen, eine uns anvertraute 7. Klasse (in Berlin ist dies die Eingangsklasse im Gymnasium) so zu unterstützen, dass die ganze Mittelstufe hindurch kein einziger Schüler sitzen bleibt. Unser Motto hieß: „Wir lassen keine(n) zurück! Jede(r) kann es schaffen!“ – Wir initiierten ein Patenschafts-Modell. Jedem Schüler wurde in seinem schlechten Fach ein guter Schüler aus der Klasse als Lernpate zur Seite gestellt. Er unterstützte ihn bei den Hausaufgaben, lernte mit ihm gemeinsam auf Tests und Klassenarbeiten. Reichte die Hilfe durch Mitschüler nicht aus, nahmen wir Kontakt zu den jeweiligen Fachlehrern auf, um sie für weitere Hilfsmaßnahmen zu gewinnen.

Der Erfolg blieb nicht aus: Vier Jahre lang blieb kein einziger Schüler der Klasse sitzen. Quantitativ bestraften wir uns selbst, weil am Ende jedes Schuljahres „von oben“ Sitzenbleiber in unsere Klasse kamen. Zum Schluss saßen 36 Schüler in der Klasse. Qualitativ hat dieses Modell jedoch die Klasse enorm gestärkt. Der Zusammenhalt und das Selbstbewusstsein waren nach vier Jahren ungleich stärker entwickelt als in den Parallelklassen. Aus einer Ansammlung von Einzelkämpfern war eine echte Klassengemeinschaft gewachsen. Damit haben wir – ohne es zu wissen – ein wichtiges Merkmal erfolgreichen Lernens erfüllt, das der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie als unverzichtbar einschätzt. Er hält den „Klassenzusammenhalt, das Gefühl, dass alle (Lehrperson und Lernende) gemeinsam für positive Lernerfolge arbeiten“, für eine der wirksamsten Lernmethoden.  

Keine bequemen Ausreden mehr 

In Deutschland haben die Schulen große Gestaltungsspielräume. Im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben und der Fachlehrpläne können sie nach Gutdünken pädagogische Lösungen entwickeln, die das Lernen der Schüler effektiver gestalten und den sozialen Zusammenhalt der Schüler fördern. Der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt.

Man muss nur die Internetauftritte der Schulen quer durch die Republik aufrufen, um zu sehen, wie kreativ und einfallsreich sich viele Schulen den Herausforderungen des Lernens unter Corona-Bedingungen stellen. Auf Hilfe „von oben“ zu warten, ist für Schulen oft nur eine bequeme Ausrede, wenn es ihnen an Einfallsreichtum und Wagemut mangelt. Lethargie und Selbstgenügsamkeit sollten angesichts der Herausforderungen, vor die uns die Corona-Krise stellt, ein Ende haben. Die Kinder dürfen nicht zu den Verlierern der Pandemie werden. 

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