Jugend und Politik - „Parteien sind für jüngere Leute riesige, fremdartige Apparate“

Die früheren Klagen über eine unpolitische Jugend haben sich erledigt. Besonders durch die Bewegung „Fridays for Future“ und die Proteste gegen die Upload-Filter wurde das politische Interesse junger Menschen offensichtlich. Für den Jugendforscher Klaus Hurrelmann kommt dies nicht plötzlich

Schüler pochen auf die Einhaltung der von erfahrenen Politikern gemachten internationalen Klimavereinbarung / picture alliance
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Christine Zinner studierte Sozialwissenschaften und Literaturwissenschaft und ist freie Journalistin.

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Klaus Hurrelmann widmet sich in seiner Forschung der Gesundheits- und Bildungspolitik. Er ist Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance.

Herr Hurrelmann, lange wurde geklagt, Jugendliche wären zu unpolitisch. Nun begeistern sich aber viele junge Menschen für Fridays for Future und den Protest gegen die Upload-Filter. Woher kommt die plötzliche Begeisterung für solche Bewegungen?
Es erscheint uns plötzlich, aber das war es nicht und wenn wir genauer hinsehen, dann kann man nicht von den Jugendlichen sprechen. Man kann fast sagen, wer vor 2000 geboren wurde, der hat seine Jugendzeit in einer Krisenkonstellation erlebt. Es war nicht sicher, ob man in Ausbildung und Beruf hineinkommt. Das scheint das politische Interesse stark gedämpft zu haben. Auch die Beteiligung an politischen Prozessen scheint zurückgegangen zu sein, weil die jungen Leute den Eindruck hatten, sie müssten zuerst in ihre eigene Ausbildung und Bildung investieren.

Wer nach 2000 geboren wurde, der hat diese Erfahrung nicht gemacht?
Nein, das sind junge Leute, die sind in eine konjunkturell bessere Phase und in eine demografisch günstigere Konstellation hineingekommen. Bei denen standen die Unternehmen zum Teil schon bei Schulabschluss vor der Tür und boten Unterstützung bei Ausbildung und Studium an. Dieses Wegfallen der existenziellen beruflichen Unsicherheit scheint zu politisieren und den Blick frei zu machen.

Dieser Umschwung wirkt sich aber auf die Parteien kaum aus. Jugendliche engagieren sich noch immer wenig in Parteien. Warum ist es der Politik nicht gelungen, die Begeisterung zu nutzen?
Da sind wir bei der Kernfrage. Wie halten es die jungen Leute mit den Parteien, die unsere Repräsentanten einer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie sind? Die Parteien sind für jüngere Leute riesige, fremdartige Apparate, die nach bürokratischen Prinzipien fungieren. Sie haben das Gefühl, auch wenn sie Mitglied werden, könnten sie dort nichts bewirken.

Woher kommt diese Entfremdung?
Das hängt ganz stark damit zusammen, dass diese Parteien in der Nachkriegszeit groß geworden sind. Der statistische Durchschnitt ihrer Mitglieder liegt bei 60 Jahren. Ein junger Mensch träte da im Grunde in einen alten Club ein und hat entsprechend natürlich das Gefühl: Die sprechen nicht meine Sprache, die kommen aus einer anderen Welt.

Sind Parteien also nicht mehr zeitgemäß?
So erscheint es den jungen Leuten. Sie sehen natürlich nicht, welche Verdienste die Parteien gerade in Deutschland haben, um ein demokratisch funktionierendes System aufzubauen. Dank Parteien haben wir ein stabiles politisches System mit repräsentativen Wahlen, die festen Regeln folgen. Aber die Dauer solcher Auswahlprozesse, die Formen der Entscheidungen über Personal- und Sachfragen, genau das ist etwas, das junge Leute zumindest irritiert, wenn nicht sogar verschreckt.

Der klassische Generationskonflikt?
Könnte man sagen. Die jungen Leute sehen nur das in ihren Augen Negative an den heutigen Parteien, ohne dass sie schon einen Gegenentwurf hätten.

Aber was müsste man denn verändern, damit sich die Jungen in den Parteien wiederfinden?
Es kommt darauf an, diese Kluft zwischen den Parteien und der jungen Generation zu überbrücken. Und das bedeutet, die Parteien müssen sich öffnen und neue Formen der Mitgliedschaft anbieten. Man ist also nicht Mitglied auf Lebenszeit, sondern für eine begrenzte Zeit. Man muss nicht Vollmitglied sein, sondern kann nur sympathisierendes Mitglied sein. Hier muss eine Flexibilisierung hinein, die bei einigen Parteien auch schon praktiziert wird.

Reicht das schon?
Nein, es wäre sehr klug, wenn Parteien sich eine selbstverbindliche Quote auferlegen. Wenn sie also zum Beispiel bei allen zukünftigen Wahlen beschließen, 30 Prozent Kandidaten und Kandidatinnen unter 35 Jahren aufzustellen.

Unter den bekannteren Politikern sieht man inzwischen immer mehr junge Gesichter. Zum Beispiel Luise Neubauer bei den Grünen oder Kevin Kühnert bei der SPD. Sind das schon die ersten Schritte der Parteien, um wieder mehr auf die jungen Leute zuzugehen?
Ja, das sind für junge Leute natürlich sehr wichtige symbolische Veränderungen, zu sehen, dass auch jüngere Personen wichtige politische Funktionen haben. Politik lebt sehr stark von Ikonen, an denen man sich orientieren kann.

Klaus Hurrelmann / Hertie School of Governance

Was halten Sie von der Bewegung Fridays for Future?
Ich finde das ganz bemerkenswert, dass wir bei dieser jungen Gruppe eine solche Fähigkeit und Bereitschaft haben, ein politisches Thema aufzuarbeiten. Es fällt auf, dass die Bewegung eine starke emotionale Strömung hat. Hier ist ein Thema gewählt worden, das bei jungen Leuten Existenzängste auslöst. Mädchen und die junge Frauen fühlen sich ganz offenbar von Umweltproblemen angesprochen. Da steckt eine unterschwellige Angst drin, und die wird sehr diszipliniert artikuliert. Die Demonstrationen folgen einer geschickten Dramaturgie. Da kann man nur sagen: Hut ab!

Sie erwähnten vorhin schon die Bedeutung von politischen Ikonen. Greta Thunberg als Gesicht von Fridays for Future wird von den einen als Marionette beschimpft, von den anderen geradezu vergöttert. Wie schätzen Sie ihre Bedeutung ein?
Sie ist wahrscheinlich ein Grund dafür, dass sich auch in Deutschland so viele junge Leute in dieser Weise engagieren, wie wir das im Augenblick erleben. Das wäre ohne ihr Vorbild nicht möglich. Was auffällt ist, dass sie das mit einer stoischen Sachlichkeit tut.

Ist das nicht eine Folge ihres Autismus?
Vermutlich. Sie sagt ja von sich, dass sie eine milde Form des Asperger-Syndroms hat. Das hat Nachteile, aber es hat den Vorteil, dass man sich als Mensch sehr stark auf bestimmte Themen konzentrieren kann. Das hat sie mit zur Ikone gemacht, dass sie sich unwahrscheinlich intensiv gebildet und informiert hat. Entgegen so manchem politischen Schnodderton, das sei ein Thema für Fachleute, macht sie deutlich, sie ist eine Fachfrau. Auch in ihren jungen Jahren. Sie streikte und das praktisch ganz alleine. Das beeindruckt Gleichaltrige.

Man braucht also gar nicht besonders viel Lebenserfahrung, um in der Politik eine Rolle zu spielen?
Das würde ich so sagen. Nur muss man unterscheiden zwischen einer Forderung und deren Umsetzung. Die Forderung, die Klimavereinbarung der internationalen Konferenzen nun auch tatsächlich umzusetzen, ist in diesem Falle sehr klug gemacht von der Bewegung. Das Umsetzen aber ist das Geschäft von Politik, und das muss man nun realistisch sehen. Es ist ein wahnsinniges Aushandeln von Interessen.

Wer sitzt denn alles mit am Verhandlungstisch?
Es gibt in Deutschland riesige, wirtschaftliche Konzerne, die gegen diese Vereinbarungen sind, politische Kräfte, die dagegen sind. Wie handle ich das aus? Dafür sind bittere Entscheidungen notwendig, die tief einschneiden in alltägliche Verhaltensgewohnheiten. Dieses Geschäft verlangt viel Kenntnis und Fähigkeiten. Hier bräuchten wir Leute, die das politische Geschäft beherrschen und wissen, wie man schwierige Entscheidungen in unserer komplexen Gesellschaft hinbekommt.

Ist an der mangelnden Kenntnis der politischen Prozesse auch der Protest gegen die Upload-Filter gescheitert?
Ja, daran kann man illustrieren, welche Schwierigkeiten es gibt. Die Protestierenden haben im Grunde das Ideal verfolgt, freien Zugang zu Daten zu haben, ohne dass das in irgendeiner Weise reglementiert wird. Sie haben zum Teil dabei nicht nachvollziehen können, dass die Rechte an den Inhalten bei den Urhebern liegen. Ihr Protest hat nicht die Durchschlagskraft der „Fridays-for-Future“-Bewegung.

Hat die Politik junge Wähler endgültig vor den Kopf gestoßen, als sie Artikel 13 abgesegnet hat?
Ich glaube nicht. Es kommt jetzt sehr darauf an, wie sich die Umsetzung der Beschlüsse des Europäischen Parlamentes faktisch vollzieht. Dafür haben sich die nationalen Regierungen Spielräume erbeten. Es wird eine sehr große Rolle spielen, ob hierüber in Deutschland diskutiert wird und ob junge Leute daran beteiligt werden.

Gibt es eigentlich auch Parteien, die möglicherweise von der Proteststimmung unter jungen Leuten profitieren? Etwa die Grünen oder die AfD?
Die Grünen sind bei jungen Leuten schon seit 20 Jahren die am stärksten gewählte Partei. Da ist eine Partei, die die Interessen und Themen der jungen Leute schon seit längerer Zeit anspricht. Insofern ist es auch jetzt hier kein Wunder, dass einige der Aktivisten wie Luisa Neubauer Mitglieder der Grünen geworden sind. Am Ende muss sich die Bewegung auch mit Parteien verbinden, wenn sie ihre Ziele umsetzen will. Sie muss dabei dann über die Grünen hinausgehen.

Und was ist mit der AfD?
Bislang fällt auf, dass die jungen Leute nicht überdurchschnittlich stark nach rechts tendieren. Auch nicht zur AfD mit ihrem autoritären und nationalistischen Akzent. Aber das ist nicht in Stein gemeißelt. Junge Leute sind sehr emotional beim Herangehen an politische Themen, gehen unverhohlen von ihren persönlichen Bedürfnissen aus. Parteien, die in der Lage sind das aufzugreifen und in Sachpolitik zu überführen, haben eine echte Chance.

Also begeistern sich so wenig junge Leute für die AfD, weil es der Partei noch nicht gelungen ist, sie emotional mitzureißen?
Die AfD ist besonders für solche Menschen attraktiv, die sich sozial und wirtschaftlich benachteiligt fühlen und in der zunehmenden Globalisierung und Einwanderung die Ursachen hierfür sehen. Unter Jugendlichen trifft das vor allem auf junge Männer ohne Schulabschluss und Berufsausbildung zu. Ihre sozialen und beruflichen Beteiligungschancen sind zur Zeit ausreichend. Sollte es aber zu einer Arbeitsmarktkrise kommen, hätte die AfD ein leichtes Spiel, hier mit emotional aufgeladenen Angstparolen zu punkten.

Das politische Engagement junger Menschen wird oft verspottet. Die Mehrheit der jungen Leute bei Fridays for Future würde sich vor allem dafür begeistern freitags die Schule zu schwänzen. Stimmt das?
Die Initiatoren dieser Bewegung haben sich bewusst und aus Kalkül für das Format eines Streiks entschieden. Damit lösen sie genau den Protest aus, den sie nötig haben, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie nehmen in Kauf, dass es eine große Gruppe von Mitläufern gibt, die nur die Schule schwänzen wollen. Umso wichtiger ist, dass die Schulen sehr klar und deutlich reagieren und gegen Schulschwänzer Sanktionen verhängen. Dann muss jeder Schüler und jede Schülerin genau abwägen, ob er oder sie die Bewegung unterstützt oder nicht.

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