Journalismus und Demokratie - Die unverzichtbare Ordnung des Gesagten

Die Demokratie überholt, der Journalismus unnötig – unter Intellektuellen macht sich Fatalismus breit. Doch im Kampf gegen die virtuelle Entbürgerlichung und für die Demokratie ist klassischer Journalismus unverzichtbar.

Die Medien machen das Gesamtkunstwerk der offenen, der westlichen Gesellschaft greifbar / picture alliance
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Autoreninfo

Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Für den deutsch-amerikanischen Hochschullehrer und Publizisten Hans Ulrich Gumbrecht ist der Staat, wie wir ihn kennen, überholt. Er müsse sich „neu erfinden“, sonst habe er keine Zukunft mehr. Für den Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss ist die Demokratie, wie wir sie praktizieren, veraltet, gründet sie doch „auf Ideen aus dem 18. Jahrhundert“. Deshalb brauche „unser politisches System mehr als Gesetzesreformen“. Sonst habe es keine Zukunft mehr.

Für den Schweizer Journalisten Kurt W. Zimmermann braucht die Demokratie die Medien „nicht zwingend“, jedenfalls nicht so, wie wir sie gewohnt sind. Auch ohne sie „funktioniert die Demokratie prächtig“. Journalisten haben keine Zukunft mehr. Der globalisierte Digitalismus enthebt nicht nur die Nation ihrer Funktion, er unterläuft auch die Demokratie. Twitter, Instagram und Youtube usurpieren die Medien und das Metier des Journalismus. 

Die drei Untergangspropheten sind Koryphäen ihres Faches, insofern ernst zu nehmen. Droht also das Ende der politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Welt, wie wir sie alltäglich leben? 

Eine düstere Botschaft

Gumbrecht, Bärfuss und Zimmermann verkünden ihre fatalistischen Folgerungen auf dem intellektuellen Hochsitz, den ihnen eben jene Gesellschaft zur Verfügung stellt, der sie die Zukunftsfähigkeit absprechen. 

Man könnte auch sagen: Für die drei Apokalyptiker persönlich funktioniert noch, was sie bereits abgeschrieben haben: der Staat, die Demokratie, der Journalismus. Das immerhin ist ein Hoffnungsschimmer für den verdatterten Bürger, wenigstens ein Strohhalm. 

Könnte die düstere Botschaft eventuell falsch sein? Was wäre Demokratie ohne die Journalisten und ihre Medien? Ein Chaos aus Wortmeldungen: jeder sein eigener Journalist, jeder ein Influencer mitsamt Community – der neue Markt der Meinungsbildung. US-Präsident Donald Trump exerziert es vor. Seine Sinnsprüche, Polemiken, Invektiven, Verteufelungen – Wortbündel der Verdummung. 

Garantiert die Netzanarchie die Demokratie?

Auf Journalisten kann Trump verzichten. Der Weg in die Öffentlichkeit über private und direkte Kommunikationskanäle bietet sich Politikern ebenso an wie Managern und Mächtigen aller Art. Und auch ganz gewöhnliche Bürger üben sich als Kommunikatoren ihrer selbst – und fühlen sich plötzlich ein bisschen mächtig. 

Garantiert diese Netzanarchie die Demokratie? Ist dem Bürger mit dieser Alternative zum traditionellen journalistischen Handwerk bei seiner demokratischen Entscheidungsfindung geholfen? 

Journalisten backen die Ziegelsteine, mit denen der Bürger baut

Journalismus systematisiert, was die politisch, wirtschaftlich, kulturell und gesellschaftlich Verantwortlichen von sich geben. In den Medien entsteht die Ordnung des Gesagten. Es wird dreidimensional: in historische und interdisziplinäre Zusammenhänge gestellt, zudem mit Prioritäten versehen – als sehr wichtig, wichtig oder weniger wichtig eingestuft und entsprechend inszeniert. 

Dadurch entsteht Ordnung, und zwar nicht die eine einzige Ordnung, sondern unterschiedliche Ordnungen – entsprechend der Haltung der einzelnen Medien. Die Journalisten backen die Ziegelsteine, mit denen der Bürger baut – oder auch mal im Protest um sich wirft. Das setzt breites und tiefes Wissen der Denkhandwerker voraus: historisches, politisches, wirtschaftliches, kulturelles. Journalisten müssen gebildet sein, belesen und erfahren – Bürger im klassischen Sinn. 

Ein Ort der Entbürgerlichung

Das World Wide Web dagegen ist, jedenfalls bis auf Weiteres, ein Ort der Entbürgerlichung – und der Shitstorm ist augenfälligster Ausdruck von Dekadenz. Wer stellt sich dagegen? Die Journalisten, die Stilisten des Nachdenkens, Durchdenkens und Vordenkens. 

Ja, das klingt hoffnungsvoll. Aber es findet tatsächlich statt: in den traditionellen Kanälen der Zeitungen und Magazine, auch auf den digitalen Portalen verantwortungsbewusster Verlage. 

Ist Journalismus überflüssig? Noch nie mussten die Denkschreiber, Denkredner und Denkfilmer gebildeter sein. Ist Demokratie überholt? Noch nie wurde dieses mehr als zwei Jahrhunderte alte System so beflissen benutzt wie heute: von den Parteien natürlich, ganz besonders aber von den staatsfernen und staatskritischen NGOs, neuerdings jeden Freitag von der Greta-Jugend. 

Journalisten machen die Gesellschaft greifbar

Montesquieus Gewaltenteilung bewährt sich, indem sie sich der veränderten Verhältnisse annimmt: national, supranational in der EU oder im Weltmaßstab der OECD. Die Demokratie atmet, manchmal schnaubt sie, in jedem Fall lebt sie. 

Und die Nation, dieser urtümliche Rahmen der Demokratie? Sie bleibt unverzichtbar zur Gestaltung der gesellschaftlichen Sphäre, auch der supranationalen und globalen Räume, denn sie vermittelt dem Bürger den übersichtlichen Rahmen, in dem er seine Entscheidungen trifft. Der Bürger braucht Heimat, die Demokratie braucht Heimat – beide brauchen den Staat, die Nation. 

Die Journalisten, die Medien machen das weltgeschichtliche Gesamtkunstwerk der offenen, der westlichen Gesellschaft verständlich und begreifbar. Greifbar. 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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