Mutmaßlicher Tod von Jewgeni Prigoschin - Aufstieg und Fall der Wagner-Miliz

Wagner-Gründer Jewgeni Prigoschin kam offenbar bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Was war seine Mission und die seiner Truppe? Mark Galeotti, einer der besten Russland-Kenner, weiß die Antwort.

Nach dem „Putsch“: Russischen Streitkräften wird militärisches Material von Wagner überlassen / imago
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Mark Galeotti ist Historiker und einer der besten Kenner russischer Sicherheitspolitik. Der 55 Jahre alte Brite unterrichtet an der School of Slavonic and East European Studies am University College in London und ist Senior Research Fellow am Royal United Services Institute. Galeotti hat zahlreiche Bücher über Russland verfasst. / Foto: Signe

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Es ist wenig überraschend, dass kundige Beobachter hinter dem jüngsten Militärputsch im Niger den Einfluss Moskaus zu erkennen glaubten – genauer gesagt, die Söldnertruppe Wagner. Zwar existieren keine schlagenden Beweise für diese These, auch wenn während der Straßenproteste vor Ort einige russische Fahnen geschwenkt wurden; dies geschah vor allem deshalb, weil sie zu einem Symbol für antifranzösische und antiwestliche Stimmungen im Allgemeinen geworden sind.

Dennoch war der Gründer und Chef von Wagner, Jewgeni Prigoschin, durchaus bereit, diese Spekulationen zu befeuern. Immerhin ist Wagner auf perverse Weise zu einer mächtigen Marke in der modernen Geopolitik geworden – ein Zeichen dafür, wie sogar Gewalt und Unterdrückung in der heutigen kommerzialisierten Welt vermarktet werden können. Genau das war schon immer eine Stärke von Wagner und Prigoschin: die Fähigkeit, eine enorme Präsenz zu projizieren; ein Image, das ebenso auf Mythenbildung und geschickter Öffentlichkeitsarbeit beruht wie auf tatsächlichem Erfolg.

Was ist Wagner überhaupt?

Nach Prigoschins gescheiterter Meuterei im vergangenen Juni waren seine eigene Zukunft und die von Wagner unklar. Zuerst verurteilte Wladimir Putin sie als Verräter, dann ermutigte er sie, ins benachbarte Belarus zu ziehen. Dort hieß es, sie würden die Truppen des Diktators Alexander Lukaschenko ausbilden und bereitwillig in Polen einmarschieren wollen. Dann jedoch kam die Nachricht, sie seien aus Belarus ausgewiesen worden.

„Alle sind immer noch geschockt“, sagt Andrei, ein einstiger Wagner-Söldner, der weiterhin Kontakt zu seinen ehemaligen Kameraden hat. „Die Bosse geben sich alle Mühe, selbstbewusst zu klingen, aber es ist klar, dass sie keine Ahnung haben, was passieren wird, und das macht ihnen Angst.“ Tatsächlich wissen weder Prigoschin noch Lukaschenko oder Putin so recht, was sie mit Wagner anfangen sollen. Die Truppe ist gleichzeitig zu nützlich und zu gefährlich, und ihre Nützlichkeit und Gefahr resultieren nicht aus den individuellen Fähigkeiten der Söldner beziehungsweise aus Prigoschins offensichtlichem Geschick als Unternehmer oder Organisator. Sondern aus dem einzigartigen Status von Wagner.

 

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Aber was ist Wagner überhaupt? Handelt es sich um eine Söldnerorganisation, die vor allem dazu dient, Prigoschin zu bereichern? Oder ist es einfach nur ein Werkzeug der russischen Regierung? Die Antwort lautet, dass Wagner beides sein kann, und sein Status hat sich im Laufe der Zeit oft geändert. Bereits 2013 entschied der Kreml, dass es eine russische Söldnertruppe geben sollte (obwohl dies von der Verfassung her unzulässig war), um im Ausland über inoffizielle (und damit „abstreitbare“) Einsatzkräfte zu verfügen.

Die perfekte Eingreiftruppe für Putin

Man wandte sich an Prigoschin, einen Mann, der seine weitläufige Concord Management Group auf Grundlage lukrativer Regierungsverträge aufgebaut hatte. Er war sozusagen einer der handzahmen Geschäftsleute im Dunstkreis des Kreml, abhängig von dessen Wohlwollen. Prigoschin soll angeblich gezögert haben, zum Söldnerführer zu werden, weil er genug damit beschäftigt war, Geld mit Immobiliengeschäften, Unternehmens-PR und insbesondere mit Regierungscatering zu verdienen. Jedoch konnte er dem Kreml kaum widersprechen, und so begann er mit dem Aufbau von Wagner.

Im darauffolgenden Jahr kam es zur Revolution in der Ukraine, die Krim wurde annektiert, und es begann ein unerklärter Krieg im Donbass. Dies war eine seltsame und blutige Mischung aus Bürgerkrieg und fremder Intervention, und obwohl von Zeit zu Zeit reguläre Truppen über die Grenze geschickt wurden, behauptete Putin, dass Russland nicht involviert wäre. Es wurden alle Arten von abstreitbaren „freiwilligen“ Einheiten aufgestellt, und Wagner entwickelte sich zu Moskaus Erfüllungsgehilfen im Donbass, der die Rebellen unterstützte, aber auch lokale Kommandanten eliminierte, die sich nicht unterordnen wollten.

Dann intervenierte Russland 2015 in Syrien zugunsten von Baschar al Assads brutalem Regime. Und bald stellte sich heraus, dass sich dort mit begrenzten Luftwaffeneinsätzen das Blatt nicht würde wenden lassen. Die syrische Armee befand sich in einem desaströsen Zustand und benötigte Bodentruppen, um ihre Kampfkraft zu stärken. Das russische Verteidigungsministerium wandte sich folglich an Wagner – offiziell keine russischen Soldaten, sondern bloße Söldner. Sie konnten den gefährlichen Kampf am Boden führen, und das russische Militär musste keine Verluste vermelden. In der Ukraine war Wagners inoffizieller Status für die Außenwirkung wichtig, in Syrien hingegen ging es darum, die russische Bevölkerung zu beschwichtigen.

Das Taschenmesser verselbstständigt sich

Bis zu diesem Punkt war Wagner tatsächlich nur eine Ergänzung zur regulären Armee, die Kosten wurden vom russischen Verteidigungsministerium getragen. Nach der Schlacht um Palmyra im Jahr 2016 bemerkte das Verteidigungsministerium jedoch, dass es Wagner nicht mehr brauchte. Die Syrer hatten wieder an Moral und Schlagkraft gewonnen, die Söldner waren teuer – und Prigoschin begann Verteidigungsminister Sergei Schoigu zu verärgern, indem er versuchte, sich jeden Sieg auf die eigenen Fahnen zu schreiben. So wurde in Moskau beschlossen, den Vertrag mit Wagner zu kündigen.

Paradoxerweise war Wagner jedoch zu erfolgreich gewesen. Dem Kreml kam eine inoffizielle Söldnerarmee letztlich gut zupass, und von Prigoschin wurde erwartet, dass er für deren Unterhalt künftig selbst aufkommt. So ging Wagner ins Geschäft, genauer gesagt die Firmengruppe Concord. Prigoschin handelte einen Deal mit Damaskus aus, wonach Evro Polis, ein weiteres seiner Unternehmen, ein Viertel der Gewinne aus allen zurückeroberten Öl- oder Gasfeldern erhalten würde. Was ein Werkzeug des Kreml gewesen war, wurde zu einer kommerziellen Organisation. In Syrien führte dies zu einer Katastrophe, als bei einem unüberlegten Angriff auf Ölfelder, die von US-unterstützten kurdischen Rebellen gehalten wurden, eine Wagner-­Einsatztruppe von den Amerikanern dezimiert wurde. Trotzdem lieferte das alles die Blaupause für künftige Operationen, hauptsächlich in Afrika.

Zerstörte Gebäude in der ukrainischen Stadt Bachmut nach dem von Wagner geführten Einsatz / Imago

Von diesem Zeitpunkt an entwickelte sich Wagner zu „Putins Schweizer Taschenmesser“, wie ein US-Geheimdienstoffizier es nannte: eine Organisation, die auch unter widrigsten Umständen einsatzfähig ist. Es existiert keine umfassende russische Strategie zur Ausweitung des Einflusses in Afrika, sehr wohl aber eine Bereitschaft, die sich bietenden Möglichkeiten zu nutzen: Rebellen, die damit drohen, die Regierung der Zentralafrikanischen Republik zu stürzen? Wagner könnte tausend Soldaten stellen, um die Hauptstadt Bangui zu verteidigen. Der ehemalige sudanesische Präsident Omar al Baschir ist in Bedrängnis und muss seine Truppen ausbilden? Wagner könnte helfen. Französische Truppen ziehen sich aus Mali zurück? Wagner nahm gerne deren Platz ein, um gegen dschihadistische Rebellen vorzugehen. Vielleicht werden auch die Putschisten in Niger Hilfe brauchen. Auch dann steht Wagner mit Sicherheit bereit.

Der Sold fließt ruckelig weiter

Ein entscheidender Punkt ist, dass Wagner im Gegensatz zu den meisten konventionellen Söldnertruppen aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Concord-­Gruppe auf indirektere Weise bezahlt werden kann. In der Zentralafrikanischen Republik wurden beispielsweise die Kosten für Wagner-Einsätze durch die Gewährung uneingeschränkter Holzschlagrechte an ein anderes Unternehmen der Concord-Gruppe und durch die Hoheit über die lukrative Goldmine Ndassima gedeckt, genauso wie im Sudan Prigoschins M-Invest in den Goldabbau involviert wurde.

Jetzt, da Wagner unter amerikanischen und europäischen Sanktionen steht, sind die Überweisungen schwieriger geworden und fließen oft über den Nahen Osten. Aber Prigoschin bekommt immer noch seinen Sold, der allein für die Jahre 2017 bis 2021 auf rund 250 Millionen US-Dollar geschätzt wird.

Außerdem bedeutet die Zugehörigkeit zu Concord, dass Wagners Dienste oft Teil eines Paketdeals sind. Regime wie das von al Baschir engagierten auch Prigoschins „politische Technologen“ und Social-Media-­Spezialisten, um Wahlen zu manipulieren und die Regierungspolitik im Westen zu beeinflussen. So erinnert sich etwa ein EU-Diplomat daran, wie schwierig es war, Prigoschins Vereinigung für Freie Forschung und Internationale Zusammenarbeit, die nun unter US-Sanktionen steht, zu kontern, da sie vermeintliche „unabhängige Wahlbeobachter“ in Simbabwe stellte, um in Europa den Eindruck freier und fairer Wahlen zu vermitteln.

Der nächste Auftrag für Prigoschin

Mit anderen Worten: Concord bot eine umfassende Palette von „autoritären Regimestützungsdiensten“ an, von denen Wagner nur ein Element war, wenn auch das wichtigste. Diese wurden durch die Hoheit über nationale Vermögenswerte finanziert und durch Bestechungsgelder sowie Insider-Deals erleichtert. Wagner gedieh, Prigoschin hatte Erfolg – und Moskau erlangte einen größeren Einfluss in Afrika. All dies geschah, ohne dass der russische Staat Entwicklungshilfe oder Exportkredite bereitstellen, Dämme bauen oder Krankenhäuser errichten musste. Ein privates, gewinnbringendes Unternehmen, das gleichzeitig den Westen ärgert und Moskau in Afrika einen Status verleiht, den es seit sowjetischen Zeiten nicht mehr hatte. Kein Wunder, dass Putin die Arbeit Prigoschins zu schätzen lernte.

Dies dürfte auch erklären, was seit der Meuterei geschehen ist. Prigoschin ist kein Narr, aber auch kein raffinierter politischer Akteur. Er hatte seit den 1990er Jahren Putins Gunst gesucht, ist aber kein Mann, der Allianzen schließt. Wie es ein ehemaliger Mitarbeiter ausdrückte: „Er teilt die Welt in mächtigere Leute ein, vor denen er kriecht, und in schwächere, die er tyrannisiert. Es gibt niemanden dazwischen.“ Er hegt auch Groll, insbesondere gegen Verteidigungsminister Schoigu. Prigoschin ahnte, dass Schoigu ihn 2016 verraten hatte, und seither wartete er auf eine Chance zur Rache. Die katastrophalen Umstände der Ukraine­invasion im Februar 2022 schienen ihm diese Gelegenheit zu bieten.

Putin war davon überzeugt, dass der Einmarsch ins Nachbarland eine saubere, schnelle und einfache Operation sein würde, eine Art Maxiversion der Krim­annexion. Er schien wirklich zu glauben, dass die meisten Ukrainer keinen Widerstand leisten würden und dass der Kreml binnen weniger Wochen eine Marionettenregierung in Kiew installiert hätte. Deswegen hatte Putin weder genug militärische Kräfte für eine groß angelegte Invasion eines Staates mit mehr als 40 Millionen Einwohnern beisammen, noch begann er mit einer vollständigen Mobilisierung Russlands. Insofern verfügten die Invasoren zwar über starke Ausrüstung, aber zu wenig Personal. Sie benötigten dringend Truppen – und Prigoschin konnte sie stellen.

Schoigu plante seinen Gegenangriff

Noch einmal wurde Wagner also zu einem direkten Instrument des Kreml. Prigoschin rief Truppen aus Afrika zurück, bot großzügige Prämien, um ehemalige Soldaten anzuheuern, und begann sogar damit, in Russlands Gefangenenlagern zu rekrutieren. Wagner schwoll auf mehr als 50 000 Soldaten an – größer als die Armeen von Norwegen, Schweden und Dänemark zusammen –, und Prigoschin hielt sich für unverzichtbar und unaufhaltbar. Zunehmend begann er, Schoigu und seinen Generalstabschef Waleri Gerassimow öffentlich anzugreifen. Er nannte sie Verlierer und inkompetente Narren und Verräter. Zuerst hinter den Kulissen, dann offen, forderte er Putin auf, sie zu entlassen.

Doch Schoigu ist der erfahrenste und wohl auch fähigste Akteur in der Regierung. Seine politische Karriere dauert sogar schon länger als Putins, und er hat mit Sorgfalt eine starke persönliche Beziehung zum Präsidenten aufgebaut – inklusive gemeinsamer Wanderausflüge in seiner sibirischen Heimat. Wo Prigoschin mit unverstellter Direktheit agiert, ist Schoigu der Meister subtiler politischer Manöver. Hinter den Kulissen bereitete er seine Gegenattacke vor.

Zuerst unterband er Wagners Rekrutierung von weiterem „Kanonenfutter“ aus den Gefangenenlagern, und zwar genau in dem Moment, als Prigoschin dem Präsidenten versprach, die Stadt Bachmut einzunehmen. Während Wagner seine Kräfte aufrieb und mehr als 10 000 Soldaten verlor, um einen Ort ohne echten strategischen Wert einzunehmen, überzeugte Schoigu auch Putin davon, dass jeder Söldner einen Vertrag direkt mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnen sollte. Das hätte nicht das Ende von Wagner bedeutet, aber sicherlich das Ende der Autonomie, die Prigoschin genossen hatte.

Der gescheiterte Putsch

Mit dem Stichtag vom 1. Juli erkannte Prigoschin, dass er wenig Zeit hatte, um Putin davon zu überzeugen, seine Meinung zu ändern und ihn selbst statt Schoigu zu unterstützen. Außerdem war er wütend, und der Mann, der als Restaurantbesitzer einst aufsässige Köche geschlagen hatte, ist kaum für seine Selbstkontrolle bekannt. Der von ihm am Freitag, dem 23. Juni, gestartete „Marsch für Gerechtigkeit“, bei dem Wagner die Städte Rostow am Don und Woronesch einnahm und eine Gruppe von 2000 Söldnern bis 200 Kilometer vor Moskau vorrückte, war kein Versuch, Putin zu stürzen oder die Macht zu ergreifen. Vielmehr handelte es sich um jene Art von Schachzug, der aus heutiger Sicht vielleicht außergewöhnlich wirkt, aber im Mittelalter oder in der Renaissance nichts Ungewöhnliches war: Ein Kriegsführer zeigt seine Muskeln und seine Durchsetzungskraft, um seinen Deal mit dem König neu auszuhandeln.

Es wurde schnell klar, dass Prigoschins Aktion gescheitert war. Obwohl Schoigu und Gerassimow in der Armee sehr unbeliebt sind, gab es keine Massenabwanderungen in Richtung Wagner. Noch wichtiger: Putin war nicht in der Stimmung für einen Deal. Am nächsten Morgen trat er im Fernsehen auf, um Prigoschin und Wagner als „Verräter“ und den Marsch als „Messerstich in den Rücken“ zu verurteilen.

Als sich Truppen entlang des Oka-Flusses südlich von Moskau sammelten, erkannte Prigoschin, dass er in einer Falle steckte, die er sich selbst gestellt hatte. Seine 2000 Männer konnten Moskau nicht einnehmen, aber das war sowieso nie das Ziel gewesen. Verzweifelt auf der Suche nach einem Ausweg, begann er Verhandlungen mit dem Kreml, obwohl Putin sich weigerte, mit ihm zu sprechen. Schließlich intervenierte der belarussische Diktator Lukaschenko, um eine vom russischen Sicherheitsratssekretär Nikolai Patruschew und Putins Präsidialamtsleiter Anton Waino ausgearbeitete Vereinbarung zu garantieren – und Wagner gab auf.

Prigoschins Rivalitäten

Zu aller Überraschung kam später heraus, dass Putin in der folgenden Woche Prigoschin und 35 seiner Feldkommandeure im Kreml getroffen hatte. Der Präsident hatte sogar die Idee aufgebracht, dass Wagner in der Ukraine weiterkämpfen könnte, allerdings unter russischer Hoheit von Andrei Troschew (bekannt unter dem Spitznamen „Grauhaar“), einem ehemaligen Oberst der russischen Armee. Putin zufolge konnten sich viele mit dieser Idee anfreunden, aber Prigoschin legte sein Veto ein. Was genau war geschehen? 

Darauf gibt es zwei Antworten. Erstens: Nachdem sein anfänglicher Ärger (wahrscheinlich noch durch Angst verstärkt) abgeklungen war, erkannte Putin, dass der „Marsch für Gerechtigkeit“ tatsächlich kein direkter Angriff, sondern eine Art demonstrative Bitte an ihn gewesen war. Dies ist weder ungewöhnlich noch in Putins Russland inakzeptabel, das durchaus als moderner, bürokratischer Staat betrachtet werden kann, der von einem neomittelalterlichen Hof regiert wird, in dem Fraktionen, Institutionen und Einzelpersonen ständig um die wichtigste Ressource von allen kämpfen: die Gunst des Zaren. So regiert Putin, durch Teilen und Herrschen, indem er die ständigen Auseinandersetzungen innerhalb der Elite zu seinen Gunsten nutzt und Bündnisse gegen ihn selbst verhindert.

Manchmal werden diese Rivalitäten aber tatsächlich gefährlich. Im Jahr 2016 etwa zeigte Igor Setschin, ein enger Vertrauter Putins und Chef des Ölkonzerns Rosneft, Wirtschaftsminister Alexei Uljukajew wegen Korruption an, der daraufhin zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Ein anderes Beispiel: Jedes Mal, wenn von einer Kürzung der föderalen Subventionen die Rede ist, die 90 Prozent des tschetschenischen Haushalts ausmachen, droht der tschetschenische Kriegsherr Ramsan Kadyrow mit Rücktritt oder unternimmt territoriale Vorstöße in benachbarte russische Regionen. Es ist grundsätzlich also nicht ungewöhnlich, dass horizontale Rivalitäten innerhalb des russischen Machtapparats kompliziert werden.

Prigoschin ist ersetzbar, Wagner nicht

Obwohl Putin nicht vergessen wird, wie Prigoschin ihn hat schwach aussehen lassen, scheint er die grundlegende Legitimität seiner Aktion akzeptiert zu haben: dass er darauf abzielte, ihn zu überzeugen und nicht zu stürzen. Noch wichtiger ist, dass der Kreml die Wagner-Truppen als Instrument in Afrika behalten will.

Dafür benötigt er Prigoschin. Wagner selbst ist ersetzbar, denn Russland verfügt über ausreichend Männer mit Waffen. Die afrikanischen Operationen von Wagner hängen jedoch nicht nur von den vielen anderen Dienstleistungen ab, die Concord anbietet, sondern auch von einem ganzen Netzwerk persönlicher Verbindungen, informeller Vereinbarungen, illegaler Finanzströme und Bestechungsgelder, die Prigoschin persönlich arrangiert hat und überwacht. Putin könnte ihn leicht festnehmen oder verschwinden lassen, aber ein Nachfolger hätte es schwer, Wagners Netzwerk in Afrika aufrechtzuerhalten.

Daher der Aufwand, eine alternative Vereinbarung zu finden, die es Wagner ermöglicht, weiterhin im Ausland zu operieren, ohne zu Hause eine Bedrohung darzustellen. Zunächst einmal bestand die Lösung darin, die Söldner zu ermutigen, sich anderen, kleineren und weniger gefährlichen Einheiten anzuschließen oder sich einfach bei der regulären Armee zu melden, während der Rest nach Belarus gehen würde. Prigoschin könnte seine Afrika-Operationen von Minsk aus leiten, während seine kampferfahrenen Soldaten die belarussischen Streitkräfte ausbilden.

Doch nicht so willkommen in Belarus

Zunächst schien Lukaschenko diese Idee zu gefallen. Mit einem Schlag verdiente sich der gewiefte Diktator Anerkennung in Moskau, gewann zusätzliche Macht zu Hause und bekam eine neue Gelegenheit, Polen zu piesacken. Lukaschenko verstieg sich gar zu der Behauptung, dass „die Wagner-Jungs“ eine „Reise nach Warschau und Rzeszów“ unternehmen wollten. 

Es stellte sich jedoch bald heraus, dass Wagner in Belarus doch nicht ganz so willkommen war. Bis Mitte August gab es Berichte, dass etliche der bereits dorthin gezogenen 2000 Söldner das Land verließen, einige gingen nach Afrika, andere zurück nach Russland. Offensichtlich war Geld das Problem: Nachdem Putin sich geweigert hatte, eine neue Wagner-Basis in Belarus zu finanzieren, schwand auch Lukaschenkos anfängliche Begeisterung rapide. Außerdem, so berichtet es der Ex-Söldner Andrei, missbilligten viele belarussische Soldaten die selbstsicheren und überbezahlten Wagner-Kämpfer und lehnten es ab, sich von ihnen herumkommandieren zu lassen.

Der Aufstieg (und wahrscheinliche Fall) von Wagner ist in vielerlei Hinsicht ein treffendes Beispiel dafür, wie der Putinismus funktioniert – und wann er versagt. Im Kern ist Putins Russland nämlich eine Adhokratie, eine informelle und flexible Art von Organisationskultur.

Wenn die Gunst am Hof schwindet

Wie an einem königlichen Hof sind rechtliche Beschränkungen, offizielle Titel und formale Verantwortlichkeiten viel weniger wichtig als die Frage, wie man dem Monarchen heute dienen kann und was morgen womöglich anders ist. Tatsächlich erkennt der Putinismus die Grenzen zwischen öffentlicher und privater Sphäre nicht wirklich an, sondern geht stattdessen davon aus, dass der Staat von jedem russischen Bürger und von jeder Organisation erwarten kann, bei Bedarf zu Diensten zu sein. In seiner enormen Fluidität war Wagner ein perfektes Beispiel dafür, wie eine Gruppierung nahtlos zwischen privatem Wirtschaftsunternehmen und informellem Instrument des Staates changiert: eine Armee, die manchmal eher wie eine organisierte Verbrecherbande arbeitet; Soldaten mit ihren eigenen Spindoktoren und Social-Media-Trollen; geheimnisvoll – aber auch eine berüchtigte globale Marke. 

Im Verlauf des Ukrainekriegs wurde Wagner jedoch in eine andere Besonderheit von Putins Adhokratie verwickelt: den erbitterten horizontalen Kampf um Ressourcen und um Putins Gunst. Die Wagner-Truppe spielte eine wichtige Rolle in der Ukraine, und wenn sie sich dazu bereit erklärt hätte, unter der Anleitung der regulären Streitkräfte zu arbeiten wie die anderen, weniger bekannten Söldnertruppen dort (etwa Patriot, Convoy oder Shchit), dann wäre sie vielleicht immer noch dort. Prigoschins Entschlossenheit, sich mit Schoigu zu bekriegen (was Putin monatelang zuließ), und sein Glaube, dass er letztendlich den Präsidenten dazu bringen würde, sich auf seine Seite zu schlagen, brachten die Angelegenheit zum Siedepunkt.

Eine dritte Eigenschaft des Putinismus besteht darin, dass diejenigen, die verwundbar werden, als leichte Beute gelten. Prigoschins Verlust der Gunst bei Hofe hat jetzt schon dazu geführt, dass Vermögenswerte von Concord geplündert werden; dass er seine Mediengruppe Patriot auflösen musste, und dass einige seiner Immobilienunternehmen vor Gericht gebracht wurden (offensichtlich, um sie in den Bankrott zu treiben).

Wo steuert Wagner hin?

Das lässt die langfristigen Aussichten von Wagner in Afrika wenig rosig erscheinen. Die Truppe wurde von den Vereinigten Staaten als terroristische Organisation eingestuft, was größere Probleme bei der Bezahlung und der Rückführung von Vermögenswerten nach Russland schafft. Es ist für Prigoschin jetzt schwieriger zu suggerieren, dass er mit Putins Stimme spricht. Noch wichtiger: Wagner wird ohne den Rest des Concord-­Imperiums ein viel weniger attraktiver Geschäftspartner sein. Putin wollte vielleicht, dass Wagner weiterhin ein Machtfaktor in Afrika ist, gewissermaßen eine moderne Variante der britischen East India Company oder der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft. Ironischerweise erwies er sich jedoch als ein Gefangener seines eigenen Systems: unfähig oder unwillig, das Plündern von Concord und damit die Schwächung von Wagner zu verhindern.

Wagners Zukunft? Eher trübe. Vielleicht werden die Söldner noch in Niger oder anderen Konfliktgebieten auftauchen, wo korrupte Regime zusätzliche Feuerkraft benötigen. Vielleicht wird es durch ein „Wagner 2.0“ ersetzt, wenn der Kreml einen vertrauenswürdigen Prigoschin-Nachfolger finden kann. Nichts davon sind gute Nachrichten für Prigoschin selbst. Putin ist niemand, der vergibt und vergisst, und er hat stets deutlich gemacht, dass Verräter beseitigt werden müssen, bevor sie einem in den Rücken fallen. Er war bereit, Prigoschin eine weitere Gelegenheit zu geben, nicht nur seine Loyalität, sondern auch seine Nützlichkeit unter Beweis zu stellen. Wenn er das nicht bieten kann, könnte ihn Putins Rache mit Verzögerung doch noch treffen. •

 

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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