Gesundheitsminister Spahn - „Er ist dieser Aufgabe nicht gewachsen“

Mehr als die Hälfte der Bürger sieht die Schuld für die Betrugsfälle in Testzentren bei Jens Spahn. Doch was genau hat der Gesundheitsminister zu verantworten? Wo haben sich andere aus der Schusslinie gezogen? Fragen an Andrew Ullmann, FDP-Mitglied im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestags.

Weist Schuld gerne von sich: Gesundheitsminister Jens Spahn / dpa
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Dr. Andrew Ullmann ist Professor für Infektiologie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie, internistische Onkologie und Infektiologie. Seit 2017 vertritt er die FDP im Bundestag.

Herr Ullmann, Ihr Parteikollege Wolfgang Kubicki hat bereits vor zwei Monaten Angela Merkel zur Entlassung von Jens Spahn aufgefordert. Durch die Betrugsfälle in den Testzentren steht der Gesundheitsminister nun erneut in der Kritik. Teilen Sie die Forderung Ihres Kollegen?
Kurz vor den Wahlen Rücktrittsforderungen auszusprechen, halte ich für schwierig. Aber ich muss klar sagen: Die Verantwortung dafür, wie das ganze Pandemie-Management gelaufen ist, liegt bei Herrn Spahn. Und daraus müssen Konsequenzen gezogen werden.

Das heißt, Sie sind auch der Meinung, dass Spahn „seiner Aufgabe nicht gewachsen“ ist, wie Kubicki sagte?
Ja, ganz klar, er ist dieser Aufgabe nicht gewachsen.

Was sind denn die Konsequenzen, die daraus gezogen werden sollten, wenn nicht ein sofortiger Rücktritt?
Bei einem Rücktritt in den letzten Monaten dieser Wahlperiode stellt sich die Frage, wer das Amt dann weiter macht. Das ist eine schwierige Sache, wir haben ja gerade erst erlebt, dass eine Ministerin zurückgetreten ist. Tatsächlich traue ich dieser Bundesregierung zu, dass sie auch das Gesundheitsministerium in Teilzeit führen lässt. Anderseits bin ich eher pragmatisch veranlagt, als Konsequenz ziehe ich daraus, dass zukünftige ministeriale Aufgaben nicht an Herrn Spahn übertragen werden sollten. Wenn die Union nach den Bundestagswahlen in die Regierungsverantwortung treten sollte, sollte er also nicht mehr Minister sein.

Etwas mehr als die Hälfte der Bürger dürfte Ihrer Meinung sein, sie sehen laut einer Umfrage die Schuld bei Spahn. Warum bezieht sich die ganze Kritik so stark auf eine Person?
Weil Herr Spahn derjenige ist, der sich zu Beginn der Pandemie als Macher und Krisenmanager hervorgetan hat, dadurch ist eine gewisse Fallhöhe entstanden. Beim ersten Bevölkerungsschutzgesetz, dem wir noch zugestimmt haben, wurden weitreichende Ermächtigungen an das Bundesministerium für Gesundheit übertragen. Ob es um die Beschaffung von Masken geht, die Schutzanzüge, Impfstoffe – die Verantwortung lag plötzlich beim Bundesministerium für Gesundheit, dem BMG. Und dessen Chef ist eben Herr Spahn. Fehler fallen in seinen Verantwortungsbereich. Deswegen ist es für mich nicht überraschend, dass bei ihm alles abgeladen wird.

Aus Bürgerperspektive ist die Lage verwirrend. Spahn gibt den Ländern die Schuld, die Länder dem Bund. Was ist Spahns Verantwortung beim Testzentren-Skandal?
Das ist das grundsätzliche Dilemma in dieser politischen Situation: Immer, wenn es gut lief, war es der Bund, immer, wenn es schlecht lief, waren es die Länder. Der Bund hat dafür Sorge getragen, dass es möglich war, Testzentren aufzumachen, aber die Durchführung und die Kontrolle liegen natürlich auf Länderebene beziehungsweise vor Ort. Die mangelnde Kontrolle lag aber auch daran, dass die Abrechnungsmodalitäten vom BMG nicht klar geregelt worden sind. Und dadurch sind die Möglichkeiten für Betrügereien in der einfachsten Art und Weise Tür und Tor geöffnet.

Man wollte es eben unbürokratisch und weniger schleppend gestalten, ist das nicht verständlich?
Ich habe nichts gegen unbürokratische Gestaltung, aber völlig fehlende unbürokratische Kontrollen und nur noch naiven Pragmatismus halte ich für problematisch. Eine Arztpraxis oder eine Apotheke müssen alles ganz genau abrechnen, aber ein Testzentrum, wo man gerade erst einen Stundenkurs absolviert hat, um Leiter eines Zentrums zu sein, können einfach unkontrolliert mehr abrechnen? Das geht natürlich gar nicht. Deswegen müssen neben den Stichproben auch die Anschaffungskosten von Testkits mit den durchgeführten Tests abgeglichen werden. Das ist schnell und einfach gemacht.

Jens Spahn hat die Schuld von sich gewiesen, da seien eben Betrüger am Werk gewesen, sagte er sinngemäß.
Vielleicht hat er keine rechtliche Schuld. Aber er hat eine politische Schuld daran: dass er die Verordnungen, die er auf den Weg gebracht hat, nicht wasserdicht genug gemacht hat, um diese Betrügereien zu unterbinden. Betrügereien wird es immer geben, leider. Das kann man nie zu 100 Prozent verhindern. Aber deswegen muss man versuchen, ein Gleichgewicht zu finden zwischen bürokratischem Aufwand und Pragmatismus. Da gibt es natürlich viele Schattierungen, aber Spahn ist immer von einem Extrem ins nächste gesprungen.

Andrew Ullmann / dpa

Neben dem aktuellen Schnelltest-Skandal gab es unter anderem noch das Maskendesaster. Wo konkret liegt da Spahns Schuld?
Am Anfang der Pandemie war es ja so, dass wir einen Mangel an Masken und persönlichen Schutzanzügen hatten und wenige Tage vor einer größeren Katastrophe standen. Damals hat das BMG ein Open-House-Verfahren eröffnet, ohne dies zu begrenzen. Das hat letztendlich zu einem Chaos geführt, das viel Zeit und viel Geld gekostet hat. Interessant finde ich, dass Jens Spahn im Spiegel gesagt hat, dass es besser funktioniert mit jemandem, den man kennt. Wenn man dieses Zitat erinnert und anschließend mitbekommt, dass einige Unions-Kollegen Provisionen erhalten haben für die Vermittlung von Schutzausrüstung, kann man ein gewisses Mindset nicht verleugnen.

Wurde Spahn auch mal zu Unrecht kritisiert?
Ja, wenn er von Wissenschaftlern ausgesprochene Empfehlungen wiederholt hat – er ist ja kein Fachmann in diesem Bereich. Am Anfang hieß es, Masken seien nicht notwendig, da würde ich Spahn keine Vorwürfe machen. Ich kann ihm auch nicht vorwerfen, dass Auskunftsbereitschaft vollkommen gefehlt hätte. Er hat sich im Ausschuss für Gesundheit regelmäßig unseren Fragen gestellt. Ob wir mit den Antworten zufrieden waren, ist eine andere Bewertung. Was ich ihm aber vor allem vorwerfe, ist, dass er keine Strategie in der Kommunikation hat. Das gilt nicht nur für Herrn Spahn, die ganze Bundesregierung hat eine Angstpolitik und eine Hinhaltetaktik betrieben. Es hieß immer, man müsse ein paar Wochen durchhalten, dann sei wieder alles gut. Daraus wurden dann mehrere Monate, und das führt zu Frust.

Sollte sich generell mehr Kritik aus der Opposition an die Bundesregierung richten? Es heißt zum Beispiel, dass unter anderem die Grünen sich nicht an die Kanzlerin herantrauen und sich deswegen auf Spahn einschießen.
Was die Grünen sich trauen oder nicht trauen, kann ich nicht beurteilen. Ich habe in den letzten Wochen aber ein deutliches Verstummen der Kritik an der Bundesregierung von Seiten der Grünen wahrnehmen müssen. Denn zu den originären Aufgaben der Opposition gehört es, laut zu werden bei falscher Politik. Denn viele Gesetzesinitiativen, die stattgefunden haben, sind aus unserer Sicht nicht verfassungskonform oder verhältnismäßig. Deshalb haben wir als FDP-Bundestagsfraktion die dritte Gewalt im Staat angerufen, das Verfassungsgericht, um die Corona-Notbremse zu klären. Wenn Grundrechte eingeschränkt werden, muss der Staat das gut begründen, und das ist nicht passiert.

Ein anderer Parteikollege von Ihnen, Otto Fricke, sieht die Verantwortung für den Betrugsskandal auch bei Finanzminister Olaf Scholz (SPD). Bei hohen Beträgen wie den Kultur-Zusatzausgaben, den Kurzarbeits-Fragen und der Impfstoff-Beschaffung habe der Finanzminister „immer die Finger drauf gehabt“, jetzt aber nicht. Sehen Sie das auch so?
Otto Fricke hat absolut Recht. Auch wenn man sich die Auszahlung der versprochenen Novemberhilfen anschaut. Die bürokratischen Hürden waren sondergleichen und die Geschwindigkeit mau. Viele Hilfen kamen gar nicht beim Empfänger an. Dennoch ist klar, die Testverordnung ist nicht dazu da, die fehlenden Überbrückungshilfen auszugleichen. Daher sind Kontrollen notwendig, jedoch mit Maß und Mitte. Ich möchte kein weiteres Bürokratiemonster schaffen. Denn wir müssen mit Geld sehr verantwortungsvoll umgehen. Die Schulden von heute sind dann die Einsparungen im Gesundheitssystem von morgen. Deswegen muss man überlegen, ob man die umfangreichen Tests, die ich im Prinzip begrüße, abhängig von den Inzidenzwerten herunterfahren kann – Tests bei Besuchen in der Außengastronomie halte ich zum Beispiel für unnötig.

Kommen andere zu gut davon, weil sich die Kritik an Spahn entlädt?
Herr Spahn ist das Gesicht dieser Pandemie, das muss man in aller Klarheit zum Ausdruck bringen. Seine Kollegen haben es ganz geschickt geschafft, sich aus der Schusslinie herauszuziehen. Aber es haben sich einige nicht mit Ruhm bekleckert, nicht nur Herr Scholz, auch Herr Altmaier nicht, als es um die Corona-Soforthilfen ging, die einige Monate gebraucht haben, bis sie ausgezahlt werden konnten. Da sind einige Fehler passiert.

Welche Konsequenzen müssen daraus gezogen werden?
Die Konsequenzen werden sich bei den Wahlen zeigen. Außerdem müssen wir eine Kommission bilden, um die ganze Pandemie und all die Verordnungen und Kosten kritisch zu beleuchten. Da geht es vor allem darum, es zukünftig besser zu machen. Denn die Corona-Pandemie wird nicht die letzte Pandemie gewesen sein.

Vor einem Jahr sagte Jens Spahn, „wir werden einander verzeihen müssen“. Hat er sich seinen eigenen Ablassbrief geschrieben?
Ich glaube nicht, dass er das so meinte. Ich behaupte mal, er wollte sagen, dass er nicht ganz fehlerfrei ist.

Dafür hat er seitdem allerdings wenig Selbstkritik an den Tag gelegt. Die Schuld hat er bisher bei Ländern, Betrügern, der EU oder Familienbesuchen von Migranten in ihren Heimatländern gesehen.
Selbstkritik ist sowieso nicht seine Stärke. Als ein Politmensch, der seit 20 Jahren in diesem Betrieb ist, fällt es ihm schwer, Fehler zuzugeben. Ich glaube, es wäre ein besserer Stil, wenn er konstruktive Kritik entgegennehmen und Fehler einräumen würde. Das wäre eher ein Zeichen von Stärke, aber das kann ich bei ihm nicht erkennen.

Die Fragen stellte Ulrich Thiele.

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