Islamismus und Lehrer - Klima der Angst

Frankreich im doppelten Ausnahmezustand: Der Anschlag in Nizza und der Mord an Samuel Paty reihen sich ein in eine lange Reihe islamistischer Anschläge. Es ist ein letzter Weckruf: Unser Modell einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft droht zu scheitern, wenn unsere Lehrkräfte verstummen.

Integrationsinstanz Schule: Lehrer kommt eine immer größer werdende Verantwortung zu, gleichzeitig steigt der Druck / dpa
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Autoreninfo

Benjamin Franz ist Autor („Islam und Schule“, 2019), Hauptschullehrer und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der TU Braunschweig. Dort plant er in Kürze die Eröffnung einer Fachstelle für weltanschaulich-interreligiöse Kompetenz. 
Bild: Michaela Krüger/TU Braunschweig

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Nun also „Je suis Prof“. Nach „Je suis Charlie“ und „Je suis Paris“ trauert Frankreich wieder einmal nach zwei islamistischen Anschlägen und drückt mit diesem Slogan das kollektive Entsetzen über die Ermordung des Geschichtslehrers Samuel Paty aus. In Anbetracht einer langen Liste von Terrorakten eine traurige Routine, könnte man meinen: 2012 erschoss Mohamed Merah in Toulouse und Montauban sieben Menschen, vier davon vor einer jüdischen Schule.

Anfang Januar 2015 dann der Anschlag auf Charlie Hebdo und kurz darauf auf der Anschlag auf einen koscheren Supermarkt mit insgesamt 16 Todesopfern. Im November 2015 gab es bei der Anschlagsserie von Paris die höchsten Opferzahlen zu beklagen: 130 Tote und 352 Verletzte. 2016 fuhr Mohamed Lahouaiej-Bouhlel in Nizza in eine Menschenmenge und tötete 85 Menschen. Im Dezember 2018 starben fünf Menschen, als ein Attentäter auf dem Weihnachtsmarkt in Straßburg auf sie schoss. Diesen Oktober nun der Fall Paty und ein weiterer Anschlag in Nizza. Zwischen den aufgezählten Ereignissen immer wieder Anschlagsversuche, Messer- und Machetenangriffe, Verwundete, Traumatisierte und Tote. 

Dieses Mal ist alles anders

Irgendwie ist alles schon dagewesen – und doch ist dieses Mal alles anders. Nicht allein, weil eine Enthauptung Patys im Herzen Europas wie ein Rückfall in finsterste Zeiten anmutet. Dieser Anschlag hat eine neue Qualität, denn er trifft den sensibelsten Bereich, den es in einer Gesellschaft gibt: Schulen. Hier sitzt die Gesellschaft von morgen. Hier begegnen sich täglich die verschiedenen religiösen, weltanschaulichen, kulturellen und ethnischen Hintergründe in einer unentrinnbaren Nähe. Nirgendwo anders kann ein gelungenes Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft, ganz gleich, ob nun Frankreich oder Deutschland, besser einübt werden.

Integrationsinstanz Schule

Es ist eine anspruchsvolle, herausfordernde Aufgabe, die den Lehrkräften zukommt. Ihnen obliegt es, jungen Menschen die Werte zu vermitteln, an die wir glauben, die ihren Ausgang in der Französischen Revolution genommen haben, die in unseren Verfassungen festgeschrieben sind, die uns Freiheit geben. Lehrerinnen und Lehrer müssen Schülern – hier geborenen sowie zugewanderten – Offenheit, Dialogfähigkeit, Ambiguitätstoleranz, demokratische Werte und kulturelle Standards vermitteln. Hierzu gehört die Meinungsfreiheit, die sich auch in Karikaturen ausdrücken kann, in besonderem Maße. 

Es geht um interreligiöse Kompetenz

Seit gut zehn Jahren arbeite ich als Dozent in der Lehrerausbildung und als Fortbildner zum Thema Islam und Schule. Im Fokus meiner Arbeit sind die Konflikte, die entstehen, wenn sich Schul- und Unterrichtsorganisation einerseits und Glaubensvorstellungen muslimischer Schüler und Eltern andererseits überschneiden. Hier gibt es eine Bandbreite von Fällen, die mal unproblematisch mit einem kleinen Kompromiss gelöst werden können oder die einen um das gelungene Zusammenleben in der Zukunft besorgt zurücklassen.

In einer religiös-weltanschaulich heterogenen Gesellschaft, zu der sich Deutschland in den letzten Jahren und Jahrzehnten entwickelt hat, ist es ein Erfordernis, bei sich gegenüberstehen Ansprüchen nach einem Kompromiss zu suchen, der beide Seiten zufriedenstellt, sodass ein gutes Zusammenleben weiterhin möglich ist. Stichwort interreligiöse Kompetenz. Fälle der ersten Kategorie lassen sich auf Basis dieser Annahme weitgehend problemlos lösen.

Wichtige Signale

Wenn im Hauswirtschaftsunterricht reines Rinderhack statt Schweinefleisch in die Nudelsauce kommt; wenn an Geburtstagen neben Gummibärchen auch Halal-Süßigkeiten ausgeteilt werden; wenn Schüler im Schulalltag oder auf Klassenfahrten die Möglichkeit bekommen, kurz in Ruhe das Gebet zu verrichten oder wenn Lehrkräfte zum Ramadan- und Opferfest ihren muslimischen Schülern und Eltern einen Gruß aussprechen, ist das ein unproblematisch umsetzbares Zeichen von Anerkennung. Schule, stellvertretend für den Staat und die nicht-muslimische Mehrheitsgesellschaft signalisiert: „Wir sehen dich. Deine Anliegen berücksichtigen wir“. 

Guter Wille hat Grenzen 

Doch dieser gute Wille – den ich übrigens bei allen Lehrkräften beobachtet habe, mit denen ich zusammengearbeitet habe – erreicht seine Grenzen, wo Glaubensvorstellungen zur unverrückbaren Norm erklärt werden, ein Entgegenkommen seitens der Schüler und Eltern nicht in Betracht gezogen wird und wo Forderungen den Prinzipien von Gleichberechtigung und Freiheitsrechten klar entgegenstehen. War es früher die Nicht-Teilnahme an Klassenfahrten, meist von muslimischen Mädchen und die Verweigerung der Teilnahme am Sport- und Schwimmunterricht, ist mittlerweile der verweigerte Handschlag, meist von Schülern oder Vätern gegenüber Lehrerinnen zu einem modernen Klassiker geworden.

Selbst gestandene Schulleiterinnen berichteten mir von Hilflosigkeit in dieser Situation. Zudem sehr herausfordernd und schwer zu lösen: Schüler halten sich beim Thema Fortpflanzung von Fischen die Ohren zu; Schüler weigern sich im Mathematikunterricht das Pluszeichen zu schreiben, weil es dem christlichen Kreuz zu sehr ähnelt; Eltern lehnen die Lektüre Goethes Faust ab, da keine Auseinandersetzung mit dem Teufel gewünscht ist; Schülerinnen möchten vollverschleiert am Schulleben teilnehmen; Grundschüler drohen zu kollabieren, weil sie fasten. Alles komplexe Fälle, die für Lehrkräfte und letztlich auch den Schul- und Gesellschaftsfrieden, massive Herausforderungen bedeuten. 

Ein letzter Weckruf 

Doch Paris ist mehr. Der Fall eröffnet eine neue Dimension. Wie ein Gift, das man nicht riechen und schmecken kann, droht er zu bewirken, dass sich Lehrkräfte bei der Auseinandersetzung mit ihren Schülern zurücknehmen. Selbstzensur aus Angst vor möglichen Konsequenzen, die von Respektlosigkeit, über Beschimpfungen bis hin zu tätlichen Angriffen auf das Leben reichen können, wie Paris gezeigt hat. Das Modell einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft droht krachend und folgenreich zu scheitern, wenn unsere Lehrkräfte verstummen, aus Angst diffamiert oder attackiert zu werden; wenn sie Streit oder ein Unterrichtsthema meiden, weil nicht klar ist, welche Folgen eine kritische Positionierung haben kann.

Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, warnte in diesem Zusammenhang vor einem „Klima der Einschüchterung“ und einer „Schere im Kopf“ bei Lehrkräften. Dazu darf es auf keinen Fall kommen. Solch eine Entwicklung wäre ein Sieg des Islamismus. Ich bin sicher, dass sich der gesellschaftliche Frieden, hierzulande wie in Frankreich, nicht zuletzt an der Frage der Integration von und des Zusammenlebens mit Muslimen entscheiden wird. Wenn der grausame Tod Samuel Patys nicht gänzlich umsonst gewesen sein soll, muss er als Weckruf verstanden werden – ein letzter! 

An dieser Stelle wird morgen eine Lehrerin berichten, welche Konsequenzen es nach sich ziehen kann, wenn sich Lehrer nicht scheuen, mit ihren Schülern im Unterricht über religiös motivierte Terrorangriffe und andere Reizthemen für Muslime zu sprechen. 

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