Internationale Presseschau - „Ein kollektiver Seufzer der Erleichterung“

Der SPD-Parteitag hat den Weg frei für Koalitionsverhandlungen mit der Union gemacht. Einfach werden die nicht. Und dennoch: Angela Merkel und Martin Schulz eint dasselbe Problem, schreibt die internationale Presse

In die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie wird der Sonntag in Bonn auf jeden Fall eingehen, schreibt die NZZ / picture alliance
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Der Standard (Österreich):

Jahre brauchte die SPD, um den Graben halbwegs zuzuschütten, den die Sozialreformen (Hartz IV) von Gerhard Schröder hinterlassen haben. Jetzt muss der angeschlagene Parteichef wieder zur Schaufel greifen. Nahezu unversöhnlich stehen einander Befürworter und Gegner einer „GroKo“ gegenüber, das Thema ist zur neuen Glaubensfrage geworden. Es wäre klug, wenn sich Schulz mit aller Kraft auf diese große Aufgabe konzentriert, „bloß“ Parteichef bleibt und nicht in der großen Koalition (so sie denn kommt) auch noch ein Ministeramt annimmt. Unter Merkel Minister zu werden, hat er ja im Wahlkampf ausgeschlossen. Ein neuer Meinungsumschwung würde zudem enormen Schaden in puncto Glaubwürdigkeit verursachen. Diesen zu verhindern, hat Schulz allein in der Hand.

Neue Zürcher Zeitung (Schweiz):

Martin Schulz und die anderen Mitglieder der Parteiführung taten in Bonn, was sie konnten, um zumindest den parteiinternen Konflikt zu entschärfen. Mehrmals lobten sie ihre Kritiker. Die offen ausgetragene Auseinandersetzung stelle einen stolzen Moment in der Geschichte der Partei dar, sagte Schulz. Ob er recht behält, werden künftige Wahlen zeigen. In die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie wird dieser Sonntag in Bonn auf jeden Fall eingehen.

Le Monde (Frankreich):

Die Wahl vom Sonntag hat die politischen Schicksale von Martin Schulz und Angela Merkel miteinander verbunden. Beide sehen sich demselben Problem gegenüber: Die großen Parteien, denen sie vorstehen, haben einen solchen Machtverlust erlitten, dass einer ohne den anderen keine Mehrheit mehr zustande bekommt. Nach zwei Großen Koalitionen sind ihre politischen Unterschiede zudem so unsichtbar geworden, dass ihre Jugendorganisationen mehr Radikalität fordern. (…) Aus gutem Grund: Die Definition der Sozialdemokratie in einer globalisierten, finanzdominierten und digitalen Wirtschaft ist niemals präzisiert worden. Genauso wie die Definition der Christdemokratie in Zeiten der Migration die Unions-Parteien tief spaltet. Die erneute Große Koalition, sollte sie denn kommen, wäre eine sehr viel schwächere Regierung, als die Befürworter bisher glauben machten.

Politico (Belgien):

Die Kritiker von Angela Merkel beschreiben sie oft als verkappte Sozialistin. Es passt also, dass ihre politische Zukunft als Kanzlerin nicht von ihren Christdemokraten, sondern von der SPD entschieden wurde. Die Entscheidung vom Sonntag war ebenso eine Abstimmung über Merkel wie über die Zukunft der SPD. Es scheint, dass sie ineinander verschlungen sind. Eigentlich fühlen sich viele Sozialdemokraten mit Merkel recht wohl, obwohl sie viele ihrer politischen Errungenschaften für sich einnehmen konnte. Merkel steht zwar weiterhin im politischen Zwielicht, aber ihre Zukunft sollte in Jahren gemessen werden, nicht in Tagen.

New York Times (USA):

Diese letzte Episode in Deutschlands quälender Saga von politischer Unsicherheit ließ vorsichtige Hoffnungen aufkeimen, dass eine neue Regierung bis Ostern vereidigt werden könnte. Aber ein wichtiges Hindernis bleibt bestehen: Die Basis der Sozialdemokraten (...) muss einer endgültigen Koalitionsvereinbarung zustimmen. Das Ergebnis vom Sonntag, das von 56 Prozent der Delegierten unterstützt wurde, war knapp. „Der Kampf ist noch nicht vorbei!“, warnte denn auch das knallrote Banner eines Aktivisten vor dem Parteitag in der Bonner City. Dennoch fand die Wahl am Sonntag auf den Korridoren der Macht in Berlin und den Nachbarländern, die dem einflussreichsten Land des Kontinents wieder ihre Aufmerksamkeit zugewandt hatten, einen kollektiven Seufzer der Erleichterung.

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