Schummel-Verdacht bei Intensivbetten - Der eigentliche Skandal

Kliniken sollen ihre Kapazitäten knapper dargestellt haben, um Freihalteprämien für Intensivbetten zu kassieren. Neben dem Schaden für den Steuerzahler steht eine noch gewichtigere Frage im Raum: Waren die an die Intensivkapazitäten gekoppelten Corona-Maßnahmen überhaupt gerechtfertigt?

Die Zahl der Betten sagt noch nichts über die Kapazitäten der Intensivmedizin aus / dpa
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Selten bekommen Berichte des Bundesrechnungshofs so viel Aufmerksamkeit wie jener vom vergangenen Mittwoch: Demnach hatten Krankenhäuser möglicherweise weniger freie Intensivbetten gemeldet als vorhanden waren, um sich Ausgleichszahlungen zu erschleichen. Im mit „Geldverschwendung im Bundesgesundheitsministerium“ überschriebenen Bericht heißt es, das Robert-Koch-Institut (RKI) habe bereits Anfang Januar einen Brief mit der Vermutung an das Gesundheitsministerium (BMG) geschickt, „dass Krankenhäuser zum Teil weniger intensivmedizinische Behandlungsplätze meldeten, als tatsächlich vorhanden waren.“ Die Kliniken könnten sich so Ausgleichszahlungen des Staats erschlichen haben, die seit dem 19. November galten. Das Prinzip: Fällt der Anteil der freien Intensivbetten im Landkreis unter 25 Prozent, bekommt die Klinik Zuschüsse.

„Massive Überkompensation aus Steuermitteln“

Der Bundesrechnungshof nennt das eine „massive Überkompensation aus Steuermitteln“. Kliniken hätten für verschobene oder ausgesetzte planbare Aufnahmen von Patienten vom Bund insgesamt 10,2 Milliarden Euro erhalten, um freien Platz für Covid-Patienten zu schaffen. Hinzu kommen die Zuschüsse für den Aufbau neuer Intensivbetten. 700 Millionen Euro wurden dafür vom Bund angewiesen, 13.700 zusätzliche Betten für intensivpflichtige Patienten sollten so eine Notfallreserve für die Corona-Wellen schaffen. Wie konnte es trotzdem dazu kommen, dass viele Kliniken im Winter an ihre Kapazitätsgrenze kamen? Oder war die Lage am Ende gar nicht so dramatisch?

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) weist den Betrugsvorwurf zurück. Zur Rheinischen Post sagte deren Vorstandsvorsitzender Gerald Gaß, Intensivbettenzahlen zu manipulieren sei gar nicht möglich, da die Ausgleichszahlungen an Bedingungen geknüpft seien, die die Krankenhäuser nicht beeinflussen könnten. Dazu gehöre „die regionale Inzidenz, die Zugehörigkeit zu einer Notfallversorgungs-Stufe und die Auslastungsquote der Intensivstationen aller Krankenhäuser im gesamten Landkreis“. Es hätte für einen Betrug also einer konzertierten Aktion bedurft. Den Vorwurf weist auch die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zurück, deren Register der Intensivbettenauslastung ein wichtiges Kriterium für Verschärfungen der Corona-Maßnahmen war und ist.

Betrug oder Anpassung an die Kriterien?

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach bekräftigte in dieser Woche den Betrugsverdacht, und auch Experten aus der Branche schließen Betrugsfälle von Klinikbetreibern nicht aus. Ob es schwarze Schafe gab und gibt, müssen nun aber die Behörden herausfinden: Die Regierung Nordrhein-Westfalens hat Ermittlungen eingeleitet, weil etwa im Kreis Höxter kurz nach Inkrafttreten des neuen Finanzierungsgesetzes aus dem November plötzlich auffällig weniger freie Intensivbetten gemeldet waren. Gleichzeitig stieg die Zahl belegter Intensivbetten nicht an. Wie passt das zusammen?

Es könnte tatsächlich ein Fall von Betrug sein. Andererseits könnte es sich auch um eine Anpassung an veränderte Kriterien der DIVI handeln. Hat die Klinik vielleicht in diesem Moment Kinderintensivbetten aus der Zählung genommen, weil die nicht für die Versorgung von schweren Corona-Fällen bei Erwachsenen ausgestattet sind? Die DIVI erklärt manche Einbrüche bei den Zahlen nämlich damit, neue Kriterien aufgestellt und etwa Kinderintensivbetten aus der Statistik genommen zu haben.

Die Intensivstationen waren am Limit

Dass viele Intensivstationen im Zuge der Corona-Wellen tatsächlich am Limit waren, steht außer Zweifel. Unabhängig davon, wie man die Lockdowns bewertet: Sie beruhen im Fall der Intensivbetten nicht auf falschen Angaben bezüglich der Auslastung. Ob Betten bei der Zählung für das DIVI-Register dazu- oder weggemogelt wurden oder nicht, ändert nichts daran, dass das Personal auf vielen Intensivstationen gut aus- beziehungsweise überlastet war. Ein Problem ist, dass es keine einheitliche Definition dessen gibt, was ein Intensivbett ist. Eine Intensivstation ist von Ort zu Ort unterschiedlich ausgestattet. Man kann auf der einen Station vielleicht künstlich beatmen, aber dafür kein Nierenersatzverfahren durchführen. Anderswo sind die Möglichkeiten schier grenzenlos. Die tatsächlich vorhandenen, für schwere Covid-Erkrankkungen bei Erwachsenen angemessen ausgerüsteten Intensivstationen wurden benötigt und waren ausgelastet.

Das ist die ausschlaggebende Größenordnung: Ein Intensivbett ist neben den technischen Voraussetzungen nur dann funktionsfähig, wenn es von ausreichendem, qualifizierten Personal betreut werden kann. Wie sehr Pfleger und Mediziner in der Hochphase der Pandemie an und über ihre Grenzen gegangen sind, lässt sich in einem Fachartikel über die aktuelle Situation der Intensivpflege nachlesen. Vielerorts sei das schnelle Aufstocken der Intensivbetten „zu Lasten der Pflegenden und Mediziner geschehen, die zum Teil ohne die notwendige Einarbeitung, mit mangelnder Schutzausrüstung und in fremden Bereichen arbeiten mussten“, schreiben dort die Autoren Carsten Hermes und Tobias Ochmann.

„It's the economy, stupid!“

Der Bundesrechnungshof hat mit seiner Kritik den Blick der Öffentlichkeit mitten in der Pandemie jedoch auf ein Grundproblem des Gesundheitssektors gelenkt. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens in Deutschland hat Grauzonen entstehen lassen, in denen die einen bestimmte Praktiken als Ausbeutung oder Betrug kritisieren, während Klinikbetreiber von betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten sprechen. In einer Online-Diskussion empfahl der Krankenhausmanager Manuel Berger Kliniken jüngst unverhohlen Ökonomisierungsstrategien zulasten medizinischer Sorgfalt.

„Wenn Sie Patienten schnell entlassen, dann machen Sie auf der einen Seite (...) Umsatz mit dem Patienten, können aber durch eine kürzere Verweildauer auch noch die Vorteile des Rettungsschirms nutzen und für das leerstehende Bett 560 Euro bekommen.“ Berger spielte damit auf den Corona-Rettungsschirm und die großzügigen Freihalte-Pauschalen an. Der eigentliche Skandal liegt also in den Ausmaßen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens, das in den vergangenen 30 Jahren eine fundamentale  Umwälzung im Bereich der stationären Versorgung erfahren hat. Viele Krankenhäuser sind so zu Durchlauferhitzern geworden.

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