Infektiologe zur aktuellen Corona-Situation - „Ein Shutdown bis April wäre eine Katastrophe“

Der FDP-Bundestagsabgeordnete und Infektionsmediziner Andrew Ullmann spricht im Interview über Markus Söders Irrwege, Chancen und Risiken von Corona-Impfstoffen – und seine Sorge wegen einer dritten Welle.

Wie lange wird der Lockdown dauern? / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Andrew Ullmann ist Professor für Infektiologie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie, internistische Onkologie und Infektiologie. Seit 2017 vertritt er die FDP im Bundestag.

Herr Ullmann, Sie sind nicht nur Bundestagsabgeordneter der FDP, sondern auch Medizinprofessor und Infektiologe. Wo steht Deutschland derzeit in der Corona-Pandemie?
Es steht im internationalen Vergleich nur im Mittelfeld, weil die Infektionszahlen bei uns leider sehr hoch sind und wir noch keine Tendenz nach unten erkennen können.

Seit einer Woche herrscht wieder strenger Lockdown. Ist es sinnvoll, nach der Gastronomie jetzt auch wieder die Geschäfte zu schließen?
Im Augenblick ist es auf jeden Fall sinnvoll, Kontaktbeschränkungen durchzuführen. Ansonsten laufen wir sehenden Auges in eine Katastrophe hinein.

Weihnachten steht vor der Tür, aber irgendwie scheint niemand genau zu wissen, wer dann wen und zu wievielt besuchen kann. Fehlt es der Bundesregierung und den Landesregierungen da an einer klaren Kommunikationsstrategie?
Das würde ich bejahen. Wir müssten klar erkennen, dass in der augenblicklichen Krise sich jeder als infektiös betrachten und sich im Alltag entsprechend verhalten sollte. Für mich persönlich heißt das, dass ich Weihnachten nicht mit meinen Eltern verbringen werde – was sehr schmerzhaft für uns alle ist. Wir beschränken uns dieses Jahr darauf, das Weihnachtsfest in der Kleinfamilie zuhause zu verbringen.

Fürchten Sie, dass die Weihnachtsfeierlichkeiten zum Superspreading-Ereignis werden?
Diese Befürchtung besteht schon vor Weihnachten, wenn man sich in den Innenstädten die Zahl der Menschen anschaut, die nur Lebensmittel einkaufen. Und wenn dann noch größere Privatfeierlichkeiten hinzukommen, gibt es wirklich genug Anlass zur Sorge. Deswegen appelliere ich ausdrücklich an die Menschen, Vernunft walten zu lassen.

Wo ist denn politisch die innere Logik, einen Lockdown zu verhängen und es dann an Weihnachten nicht so genau zu nehmen?
Die Kontaktbeschränkungen gelten ja auch über Weihnachten, auch Gottesdienste sollen gar nicht oder nur sehr beschränkt stattfinden. Aber es wäre durchaus sinnvoll, wenn auch über Weihnachten gelten würde, dass sich maximal zwei Hausstände mit fünf Personen treffen dürfen – und zwar die ganze Woche lang. Wenn an aufeinanderfolgenden Tagen unterschiedliche Hausstände zusammen treffen, ist der Effekt zunichte gemacht. Und dann fehlt tatsächlich die innere Logik.

Im November sind die Infektionszahlen wieder explodiert, und Deutschland schien relativ unvorbereitet in die zweite Corona-Welle zu geraten. Wäre diese Situation vermeidbar gewesen?
Meiner Meinung nach ja. Wir hätten Stresstests im Gesundheitswesen wie auch in der Wirtschaft durchführen müssen, um Schwächen zu erkennen. Diese Chance haben wir bereits im Oktober verpasst.

Im bisherigen Verlauf der Pandemie wurden immer wieder unterschiedliche Kennzahlen als ausschlaggebend herangezogen. Mal der Reproduktionswert, dann der Inzidenzwert oder die Intensivbettenbelegung. Woran sollte man sich denn orientieren?
An allen Parametern gleichzeitig. Wobei auch die Zahl der Infizierten im Alter von über 60 Jahren relevant ist. Oder die Frage, ob es Clusterbildung gibt. Das macht die Sache natürlich komplizierter. Aber aus der Zusammenschau aller wichtigen Parameter kann man regional viel spezifischer reagieren, als das derzeit der Fall ist. Leider haben wir in Deutschland auch diese Chance verpasst, um bei der Pandemiebekämpfung differenzierter vorzugehen.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat die Zahl der täglichen Corona-Toten unlängst mit Flugzeugabstürzen verglichen. Ist das statthaft oder dient es der Panikmache?
Ich halte diesen Vergleich für nicht sinnvoll. Denn der Absturz eines Passagierflugzeugs ist ein Unfall. In die Pandemie hingegen sind wir sehenden Auges reingerannt. Ich habe den Eindruck, Söder will mit solchen Vergleichen nur von seiner eigenen verfehlten Corona-Politik ablenken. Bayern hätte deutlich besser dastehen können, die Situation dort ist alles andere als schicksalhaft.

Andrew Ullmann / privat

Was ist falsch gelaufen in Bayern? Söder bringt immer die Begründung, in Bayern seien die Infektionszahlen so hoch wegen der Grenze zu Österreich und Tschechien.
Das ist zu einfach gedacht; die Grenzen sind nicht das Problem. Sondern vielmehr, dass die vulnerablen Gruppen nicht geschützt worden sind. Erst mit großer Verspätung hat auch die Bundesregierung den älteren Menschen FFP-2-Masken kostenlos zur Verfügung gestellt. Hinzu kommt: Teststrategien waren auf die große Masse hin ausgerichtet, anstatt gezielt zu sein. Wären solche Fehler vermieden worden, wäre auch in Bayern die pandemische Situation heute besser unter Kontrolle.

Immer wieder heißt es, man sei vielerorts mit der Zahl der belegten Intensivbetten „am Limit“. Wie bewerten Sie als Mediziner, der auch die Lage in Kliniken kennt, die aktuelle Situation realistisch?
Die Warnrufe vieler meiner Kollegen aus der Intensivmedizin halte ich für durchaus realistisch. Denn es gibt ja auch noch andere Krankheiten, die einer intensivmedizinischen Behandlung bedürfen. Da kommt Covid-19 eben noch „on top“ hinzu. Und wenn vor diesem Hintergrund nicht rechtzeitig Maßnahmen ergriffen werden, ist in der Tat eine Überlastung des Gesundheitssystems zu befürchten. Denn es geht ja nicht nur um die Zahl der Beatmungsgeräte, sondern auch um das entsprechende Personal.

Aber drohen denn tatsächlich Szenarien, wie man sie im Frühjahr in Bergamo erlebt hat?
Die würden drohen, wenn wir im Januar eine starke dritte Infektionswelle erleben sollten. Es muss wirklich mit allen politischen Mitteln verhindert werden, dass es wegen Überlastung der Krankenhäuser zu einer Triage kommt.

Sie sprechen von einer „starken dritten Welle“ im Januar. Heißt das, die aktuelle zweite Welle geht womöglich nahtlos in eine dritte über?
Genau so ist es. Die Zahlen steigen derzeit wieder linear an, und meine Sorge ist in der Tat, dass demnächst die dritte Welle losgeht.

Welche Rolle spielt dabei das das mutierte Corona-Virus, das derzeit angeblich in Südengland grassiert und auf den Kontinent überzuschwappen droht?
Da habe ich die Sorge, dass diese Mutante in Deutschland bereits existiert. Es gibt wenig Informationen über dieses mutierte Virus. Wir wissen, dass im Südosten Englands und auch in London die Mutante die prädominante Virus-Variante ist und dass sie möglicherweise auch ansteckender ist. Das könnte eventuell den Anstieg der Infektionen auch hierzulande erklären. Aber das wird leider nicht systematisch untersucht. Deswegen ist eine Ergänzung der Teststrategie bezüglich der Mutationen unbedingt erforderlich.

Haben Sie als Infektiologe eine Erklärung dafür, warum ausgerechnet dünnbesiedelte Gebiete wie etwa der Erzgebirgskreis in Sachsen sich zu Corona-Hotspots entwickeln konnten?
Ich denke, dass die dörfliche Struktur zu mehr Gemeinschaftsleben führt. Auch kommt es möglicherweise zu lokalen Fehleinschätzungen, weil man sich im ländlichen Raum vom Infektionsgeschehen in den großen Städten abgekoppelt wähnt. Und wenn in einem Dorf nur zwölf Leute infiziert sind, entsteht natürlich schnell eine dramatische und ernstzunehmende Infektionsdichte.

Noch in diesem Jahr soll es in Deutschland mit den Impfungen losgehen. Wie schnell wird das Entspannung an der Pandemie-Front bringen?
Da müssen wir uns leider noch eine Zeitlang gedulden. Die Impfungen, die in den nächsten Tagen starten, werden statistisch sowohl in der Krankheitslast wie auch in der Sterblichkeitslast kaum vor Februar einen Effekt zeigen.

Für wie sicher halten Sie einen Impfstoff, der so schnell entwickelt und zugelassen wurde? Da existieren ja kaum Erfahrungswerte.
Ich würde in Abrede stellen, dass keine Erfahrungswerte existieren. Das System dieses Impfstoffs gibt es bereits seit mehr als zehn Jahren. Es ist in der Krebstherapie studientechnisch auch schon angewendet worden. Und es haben sich bereits 70.000 Menschen an den Impfstoffstudien beteiligt. Wir haben also eine sehr gute Datenlage zu Sicherheit und Effektivität des Impfstoffs. Dennoch sind natürlich noch einige Fragen offen.

Welche?
Zum Beispiel, wie die Nebenwirkungsrate nach drei bis sechs Monaten aussieht. Deswegen haben die Impfstoffe bisher auch nur eine bedingte Zulassung bekommen, also nur für ein Jahr. Und wir müssen auch noch abwarten, wie die Immunantworten bei Kindern, Schwangeren und Immungeschwächten aussehen. Da sind die Impfstoffhersteller verpflichtet, dieser Frage nachzugehen.

Sie selbst würden sich impfen lassen?
Ich würde mich sofort impfen lassen, wenn genug Impfstoffe da wären. Jetzt sehe ich erst einmal zu, dass meine Eltern, die beide fast 90 Jahre alt sind, sich zuerst impfen lassen.

Derzeit schauen alle nur auf die Impfstoffe; Medikamente zur Behandlung der Covid-Erkrankung stehen hingegen kaum im Fokus. Herrscht da nicht eine Unausgewogenheit?
Nein. Denn es ist ungleich schwieriger, neue Medikamente zu entwickeln, die auch gegen dieses Virus aktiv sind. Ich erinnere nur daran, wie schwer es war und wie lange es gedauert hat, bis wir etwa in der HIV-Forschung entsprechende antivirale Substanzen hatten. Bei Covid hatten wir in Sachen Impfstoffe einfach das Glück, dass bereits Plattformen existierten, auf deren Basis sich die Forschung nur von Grippe- auf Coronaviren umzustellen brauchte.

Kann man eigentlich einem schweren Verlauf von Covid irgendwie vorbeugen, indem man sein eigenes Immunsystem stärkt?
Das Immunsystem ist leider kein Muskel, den man trainieren kann. Aber wir können dafür Sorge tragen, dass das Immunsystem nicht geschwächt ist. Das heißt, gesundes Essen und regelmäßiger Schlaf sind in jedem Fall hilfreich. Aber auch bei Medikamenten sollte man darauf achten, inwieweit sie immunschwächend sind – hier denke ich besonders an Cortison. Bei Cortison sollten die Haus- und Fachärzte deshalb darauf schauen, inwieweit es reduziert werden kann. Ansonsten wird derzeit untersucht, ob Vitamin D womöglich eine Rolle spielt. Es hat sich nämlich gezeigt, dass Patienten mit schwerem Covid-Verlauf einen Vitamin-D-Mangel hatten. Inwieweit hier ein Kausalzusammenhang besteht, weiß man aber noch nicht.

Mitunter ist jetzt die Rede davon, der Lockdown könne bis April anhalten. Ist das unter wirtschaftlichen und sozialen Aspekten ein plausibles Szenario?
Ein Shutdown bis April wäre eine Katastrophe. Das würden wir weder sozial, noch psychologisch oder ökonomisch durchhalten. Wir müssen jetzt vielmehr Wege aus dem Lockdown finden und uns gemeinsam mit der Wissenschaft überlegen, wie Arbeit und Ausbildung unter vernünftigen Umständen weitergehen können und Vereinsamung verhindert wird.

In Deutschland fließen 11,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ins Gesundheitssystem. Dennoch hat uns die Pandemie voll erwischt. Was muss sich ändern?
Man muss lernen, dass Pandemien wirklich passieren und dass es nicht nur eine weitere Grippewelle ist. Deswegen war auch das Interesse der Politik nicht sehr groß, sich auf pandemische Szenarien vorzubereiten. Dabei haben es Viren, Bakterien oder Parasiten wegen der Globalisierung heutzutage wesentlich leichter denn je, sich in Windeseile über den gesamten Globus auszubreiten. Unabhängig davon hat unser Gesundheitssystem während der Corona-Krise Stärken und Schwächen gezeigt.

Wo liegen die Stärken?
Zum Beispiel darin, dass die ambulante Versorgung sehr gut läuft; das hat insbesondere während der ersten Welle sehr geholfen.

Und die Schwächen?
Dass wir einen erheblichen Versorgungsunterschied haben zwischen Land und Stadt. Dem müssen wir begegnen. Genug Geld ist im System vorhanden, wir müssen es nur richtig einsetzen.

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