Wie geht man mit Impf-Vordränglern um? - „Das ist ein Abbild unserer Neidgesellschaft“

Der Kampf um den Impfstoff gewinnt an Fahrt. Noch sind nicht alle Personen für eine Impfung berechtigt, die Ausreden für einen vorgezogenen Termin werden immer skurriler. Der ehemalige Impfkoordinator des Landkreises Neuwied, Werner Böcking, berichtet im Interview über seine Erfahrungen mit Vordränglern.

In den Impfzentren wird die Anzahl an Impfvordränglern immer größer / dpa
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Autoreninfo

Sina Schiffer studiert an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Politik und Gesellschaft und English Studies. Derzeit hospitiert sie bei Cicero. 

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Werner Böcking war von 2001 bis 2019 Feuerwehrinspekteur für den Landkreis Neuwied und ab November 2020 Impfkoordinator für die Impfzentren im Landkreis Neuwied. Er hat in diesem Monat sein Amt als Impfkoordinator abgegeben.

Herr Böcking, Sie sind ehemaliger Impfkoordinator des Landkreises Neuwied. Welche „Ausreden“ für eine Impfung lassen sich die Impfwilligen einfallen?

Die Ausreden sind ganz unterschiedlich. Das fängt bei unrichtigen Altersangaben oder falschen Berufsgruppen an und geht weiter über die Anzahl der zu pflegenden Angehörigen. Ob die Anzahl immer eingehalten wird, wage ich dann aber zu bezweifeln. Man versucht unter anderem auch über Mehrfachregistrierung an eine Impfung heranzukommen – über die Hotline, über das Internet oder über den Hausarzt.

Was ist Ihre „Lieblingsstory“?

Als „Lieblingsstory“ würde ich sie nicht betiteln. Es ist aber eine Geschichte, die meine Kollegen und mich sehr strapaziert hat. Es handelte sich dabei um den Wunsch eines Tierarztes und seines gesamten Teams, geimpft zu werden. Wir hatten aber Anweisungen seitens des Landes, dass Tierärzte noch nicht zu der Prio-Gruppe gehören – der Tierarzt war aber natürlich einer anderen Meinung und wollte unbedingt geimpft werden. Wir haben uns an die Vorgaben des Landes gehalten und ihn und sein Team immer wieder abgewiesen. Mir wurde dann mit einer Anzeige gedroht. Letztlich kam dann ein Schreiben eines Rechtsanwaltes, in dem wir aufgefordert wurden, dass wir das gesamte Praxisteam sofort impfen sollen. Das haben wir erneut abgelehnt. Daraufhin hat der Tierarzt eine Klage eingereicht und wollte damit erreichen, dass er sofort geimpft wird. Auch diese Klage wurde erneut abgewiesen. Das war schon ziemlich nervenaufreibend. 

Später kam es dann aber zu der Impfung des Tierarztes und seines Teams? 

Ja, einige Wochen später. 

Wie viele Menschen haben Sie bis jetzt schon beim Schummeln beziehungsweise beim Vordrängeln für eine Corona-Impfung erwischt?

Das ist ganz schwer festzustellen. Die Dunkelziffer ist hier sehr hoch. Ich denke früher – zur Zeit der Prio-Gruppe 1 – waren es durchaus mehr Menschen, die versucht haben, über solche Wege einen Impftermin zu ergattern. Das wurde mit der Zeit – insbesondere bei der Öffnung der Prio-Gruppe 3 – weniger. Es gab Tage, an denen wir keinen nach Hause schicken mussten. An anderen Tagen haben wir etwa zehn Menschen nach Hause geschickt. An einem Tag mussten wir sogar 45 Impfwillige nach Hause schicken, da sie eine falsche Berufsgruppe angegeben haben beziehungsweise die erforderlichen Bescheinigungen nicht vorlegen konnten. Das war auch ein sehr nervenaufreibender Tag.

Wie kann man das Schummeln kontrollieren? Ob ich bei der nächsten Bundestagswahl wirklich Stimmen auszählen möchte, oder ob ich mir so meine Impfung erschleiche – nachweisen kann mir das doch keiner?

Das ist äußerst schwierig. Wir sind natürlich dazu angehalten, die Priorisierung im Rahmen unserer Möglichkeiten zu überprüfen. Kommen Sie aber zu uns ins Impfzentrum und können nachweisen, dass Sie bei der nächsten Bundestagswahl die Stimmen auszählen und Ihre Teilnahme als Wahlhelfer dann aber nach der Impfung zurückziehen, können wir Ihnen die Impfung auch nicht mehr wegnehmen. Eine absolute Kontrolle ist aus meiner Sicht also nicht möglich. Die Anzahl der Pflegepersonen können Sie ja auch nicht vollkommen kontrollieren. Man kann immer zwei Kontaktpersonen benennen – sollte die Person dann aber vier pflegende Angehörige angeben, können wir das im Impfzentrum nicht kontrollieren. 

Werner Böcking / Kreisverwaltung Neuwied 

Ist das Erschleichen einer Corona-Impfung eine Ordnungswidrigkeit? 

Meines Wissens ist es keine Ordnungswidrigkeit. 

Es wird vielerorts kritisiert, dass gegenüber den Schummlern die Sanktionen fehlen. Sehen Sie das auch so?

Sanktionen sind in diesem Fall sehr schwierig, da viele Menschen auch unwissentlich Fehler machen und nicht vorsätzlich schummeln.

Und wie wollen Sie da differenzieren?

Ich denke, das ist in dem Fall äußerst schwierig. 

Wie gehen Sie im Landkreis Neuwied mit Impf-Vordränglern um?

Wenn die Impf-Schummler erwischt werden, dann bekommen sie bei uns keine Impfung und werden nach Hause geschickt. 

Können Sie den Unmut der Menschen nicht auch verstehen?

Ich habe durchaus Verständnis für die Menschen. Jeder, der geimpft werden möchte, sieht in der Impfung einen Schutz für sich und die Familie. Die Impfung ist aus meiner Sicht der Weg aus der Pandemie heraus. Und ich kann es sehr gut verstehen, dass die Menschen nach einem Jahr in der Pandemie immer mehr Angst haben und gerne eine Impfung hätten. Natürlich versucht es jetzt jeder auf irgendeinen Weg, eine Impfung zu bekommen. Ich habe durchaus Verständnis dafür. 

Ist das, was man da jetzt in den Impfzentren erlebt, dieses Vordrängeln, das Abbild einer Neidgesellschaft? 

Ja, das würde ich so bestätigen. Es ist ein Abbild unserer Neidgesellschaft. Wir erleben immer mehr, dass in allen Bereichen unseres Lebens man sich selbst der Nächste ist und hat zunächst mal nur sich selbst im Fokus. 

Arztpraxen und Impfzentren berichten vielfach, dass der Impfstoff AstraZeneca liegen bleibt. Dann soll man sich aber auch nicht wundern, dass die Kombination aus jung und geimpft jetzt schon funktioniert. So würde man sogar auf legalem Wege an eine frühzeitige Impfung kommen. Machen Sie auch die Erfahrung?

Ja, die Erfahrung machen wir auch. Aus meiner Sicht sollte jeder Mensch, der sich eine Impfung mit AstraZeneca wünscht, auch eine solche Impfung erhalten – vorausgesetzt, aus medizinsicher Sicht spricht nichts dagegen. Gerade jetzt wird der Wunsch nach einer Impfung immer größer, und somit wird sehr wahrscheinlich auch die Zahl der Drängler zunehmen. Sobald die Geimpften und Genesenen mehr Freiheiten bekommen, wird das Problem nicht kleiner werden. 

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?  

Ich wünsche mir erstens, dass genügend Impfstoff zur Verfügung steht, um alle Impfwilligen zu impfen. Und zweitens, dass alle Menschen bereit sind, sich impfen zu lassen. Denn nur so finden wir als Gesellschaft aus der Pandemie heraus. 

Die Fragen stellte Sina Schiffer

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