Impfpflicht und Recht - „Grundprinzipien medizinischer Behandlungen unterlaufen“

Bis vor wenigen Tagen wurde sie von Politikern aller Parteien kategorisch ausgeschlossen, jetzt soll sie doch kommen: die gesetzliche Impfpflicht. Die Rechtsanwältin Jessica Hamed erklärt, was eine „allgemeine Impfpflicht“ eigentlich im juristischen Sinne bedeutet, wodurch sie sich von den bisherigen Einschränkungen für Ungeimpfte unterschiede, welche Sanktionen drohen und ob der Rechtsweg gegen eine Zwangsimpfung überhaupt noch offen steht.

Eine gesetzliche Pflicht soll die Impfquote erhöhen. Doch in Portugal droht trotz hoher Quote ein neuer Lockdown. / dpa
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Jessica Hamed ist Fachanwältin für Strafrecht und Dozentin an der Hochschule Mainz. Seit März 2020 vertritt sie bundesweit in verwaltungs- und strafrechtlichen „Coronaverfahren“ und veröffentlicht eine Vielzahl ihrer Schriftsätze.

Frau Hamed, nur einen Tag, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Bundesnotbremse rückwirkend für zulässig erklärt hat, kündigte der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz eine allgemeine Impfpflicht an, die zuvor von Politikern aller Parteien kategorisch ausgeschlossen wurde. War der Beschluss des Verfassungsgerichts ein Türöffner für weitere Maßnahmen?

Abgesehen davon, dass das Bundesverfassungsgericht in den letzten 20 Monaten trotz hunderter Verfassungsbeschwerden und Eilanträgen gegen Corona-Maßnahmen die Türe ohnehin die ganze Zeit weit geöffnet hielt, haben die Entscheidungen von Dienstag, die deutlich kritisiert wurden (z.B. hier, hier und hier), den politischen Verantwortlichen nunmehr abschließend das Signal gegeben, dass es für ihr Handeln in Sachen Corona letztlich keine ernstzunehmenden rechtlichen Grenzen gibt. Zugespitzt kann man sagen, die Grenze ist erst überschritten, wenn die Regierung vertritt, dass die Erde eine Scheibe ist. Sprich: Alles, was nicht offensichtlich unvertretbar ist, ist von der Einschätzungsprärogative gedeckt; darunter dürfte in einer Situation, die nach wie vor mit vielen – darunter auch vielen selbst verursachten – Unsicherheiten behaftet ist, kaum etwas fallen. Mit spürbarer Anspannung hat die designierte Regierung im Hinblick auf Schulschließungen, Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen gen Karlsruhe geblickt und die Entscheidungen abgewartet. Diese sind im Ergebnis ein Persilschein für eine hemmungs- und grenzenlose Corona-Politik.

Jessica Hamed

Wenig überraschend haben die Ministerpräsidenten und -präsidentinnen noch am selben Tag den Ball aufgenommen und strengere Maßnahmen vorbereitet. Am Donnerstag wurden sodann massive Grundrechtseingriffe gegenüber Ungeimpften beschlossen und eine allgemeine Impfpflicht in Aussicht gestellt. Ohne die Entscheidungen des Gerichts wäre eine solche rasante Wendung eher nicht zu erwarten gewesen. Die am Donnerstag beschlossenen restriktiven Maßnahmen werden im Ausland, etwa in Großbritannien, übrigens durchaus kritisch kommentiert.

Über eine allgemeine Impfpflicht soll ja der Bundestag abstimmen. Wird er die Impfpflicht voraussichtlich beschließen?

Eine sichere Prognose ist bei einem parlamentarischen Verfahren, bei dem ausnahmsweise auch keine Fraktionsdisziplin gelten soll, nicht möglich, indes spricht einiges dafür, dass der Bundestag bereits mit den Stimmen der Ampel-Koalition eine allgemeine Impfpflicht verabschieden könnte. Schließlich wirbt der designierte Bundeskanzler Scholz ebenso dafür wie die Grüne Fraktionsvorsitzende Göring-Eckhardt. Die FDP dürfte am ehesten bei der Frage gespalten sein, insbesondere weil sie noch vor wenigen Tagen eine allgemeine Impfpflicht ablehnte und im Wahlkampf für einen moderateren und freiheitsbewussteren Umgang mit der Pandemie warb. Dass ausgerechnet mit der FDP die massivsten Freiheitseinschränkungen beschlossen werden sollen, dürfte für einige Wähler – zurückhaltend formuliert – überraschend kommen. Da aber auch die CDU/CSU sowie die Linke (sogar als erste Partei) überwiegend für eine allgemeine Impfpflicht sind, kann eine Mehrheit – auch ohne die FDP, wobei sich inzwischen auch der angehende Bundesfinanzminister Christian Lindner dafür aussprach und viel Gegenwind erntete  – als gesichert gelten. Eine Impfpflicht für Beschäftigte in Einrichtungen der Pflege und des Gesundheitswesen wurde ferner am Donnerstag bereits zwischen Bund und Ländern vereinbart.

Vor dem Hintergrund, dass seit Beginn der Pandemie versprochen wurde, dass es keine Impfpflicht geben werde und noch bis vor kurzem daran festgehalten wurde, wird erneut sichtbar, wie schnell, undurchdacht, hochemotional, hektisch und letztlich sachgrund- und evidenzfrei gravierende Grundrechtseingriffe beschlossen werden. Scholz fordert neben einer Impfpflicht, dass die Impfung nur noch sechs Monate anerkannt werden soll. Dass auch einiges dafür spricht, dass die Wirksamkeit der bisherigen Impfstoffe, die noch nicht einmal auf Delta umgestellt waren, bei der Omikron-Variante laut Moderna-Chef Bancel „beträchtlich sinkt“, steht einer Impfpflicht ebenfalls entgegen.

Ferner ist zu beachten, dass es erfreulicherweise so gut wie keine Kontraindikationen für die Impfung zum Selbstschutz gibt. Die Impfstoffe verhindern allerdings bedauerlicherweise weder die Infektion noch die Weitergabe des Virus, sodass eine Ausrottung des Erregers, was bislang das Ziel jeder deutschen Impfpflicht war, nicht erreicht werden kann. Außerdem lässt die Schutzwirkung der Impfung rasch nach, es kann zudem zu erheblichen Nebenwirkungen bis zum Tod kommen, vor denen sogar die Bundesbehörde Paul-Ehrlich-Institut warnt, und über mögliche Spätfolgen kann derzeit keine Aussage gemacht werden (man denke etwa an das Auftreten von Narkolepsie nach der Pandemrix-Impfung). Zu berücksichtigen ist zudem das Risikoprofil der Krankheit; insbesondere das Alter – dabei gelten mindestens 86 Prozent, eher 90 Prozent der Über-60-Jährigen als (noch) geimpft – und starkes Übergewicht sind erhebliche Risikofaktoren.  

Wirft man abschließend einen Blick auf die Entwicklung in anderen Ländern, so zeigt sich, dass die Impfung nicht der einzige Faktor zu sein scheint, der das Infektionsgeschehen beeinflusst. Das zeigt sich auch in Portugal, wo trotz des Umstands, dass 88 Prozent der Bevölkerung geimpft sind, diese Woche der Notstand ausgerufen wurde. Auch diese unklaren Datenlage spricht gegen die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht, die einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff darstellen würde. Trotz alledem wurde sogar die Frage nach einer EU-weiten Impfpflicht aufgeworfen.

Wie soll eine solche Impfpflicht überhaupt konkret ausgestaltet werden? Mit welchen Maßnahmen ließe sie sich umsetzen?

Es gibt nur wenige Beispiele einer Impfpflicht in der deutschen Rechtsgeschichte. Diese Beispiele können zudem kaum Orientierung geben, da sie völlig andere Zielsetzungen und völlig andere Impfstoffe betrafen: Erstens sollte ursprünglich Herdenimmunität bzw. die Ausrottung des Erregers erreicht werden. Das ist bei den Covid-Impfungen anerkanntermaßen nicht erreichbar. Zweitens ging es um eine sterile Immunität, die die Weitergabe des Erregers stoppen sollte. Auch das ist nicht erreichbar. Drittens handelte es sich um eine abschließend bekannte Anzahl an Impfungen, die höchstens nach einem längeren Zeitraum aufgefrischt werden mussten. Bei den jetzt auf den Markt befindlichen Covid-Impfstoffen ist in kurzem zeitlichen Abstand „Boostern“ notwendig; es zeichnet sich ab, dass das in absehbarer Zeit auch erst einmal so bleiben wird.

Es ist deshalb vollkommen unklar, wie eine Impfpflicht aussehen könnte. Sinnvoll wäre allenfalls ein Abstellen auf Risikofaktoren bzw. auf die gesundheitliche Vordisposition des zu Impfenden, auf saisonales Vorkommen des Virus (so dürfte eine Impfung in den Sommer hinein nutzlos sein), auf die Dauer der Wirksamkeit der Impfung usw. Höchst problematisch hingegen wäre die verpflichtende Durchimpfung der gesamten Bevölkerung in einem Vier- oder Sechsmonatsrhythmus, denn bei jeder Impfung akkumuliert sich auch das Nebenwirkungsrisiko. Letzteres wird häufig ausgeblendet, obwohl selbst die Bundesregierung darauf hinweist, dass statistisch bei einem von 5000 Geimpften eine „schwerwiegende Nebenwirkung“ auftritt. Damit handelt es sich zwar um eine „seltene“, aber dafür umso gravierendere Nebenwirkung.

Rein praktisch stellen sich zudem zahlreiche Fragen, etwa die, wie die Behörden ungeimpfte bzw. wieder als ungeimpft geltende Menschen identifizieren sollen. Zudem wird es schon aufgrund logistischer Probleme immer so sein, dass ein gewisser Anteil der Bevölkerung stets schon wieder ungeimpft sein wird. Das Logistik-Chaos zeigt sich ja aktuell bei den Booster-Impfungen. Das heißt, eine bestimmte Impfquote – die mangels Herdenimmunität auch wenig Sinn ergibt – wird aufgrund des Ablaufdatums der Impfung nie stabil sein. Festgelegt werden müsste zudem, welche Impfstoffe anerkannt werden und wie mit Genesenen, bei denen schließlich von einer besseren und langanhaltenderen Immunität auszugehen ist, umgegangen wird. Das betrifft insbesondere auch jene, die zwar faktisch genesen sind, aber keinen positiven PCR-Test vorweisen können.

Vor dem Hintergrund, dass an der Pfizer-Studie nur Menschen, die nicht bereits an Covid erkrankt gewesen waren, teilnehmen durften und das Impfschema der zugelassenen Impfung von BioNTech zwei Impfungen plus einen optionalen Booster vorsieht, bestehen auch spezifische rechtliche Bedenken, auch Genesene jenseits der expliziten Zulassung und der zugrundeliegenden Studie zu einer Impfung zu verpflichten. Einigkeit besteht aber offenbar darin, dass es keinen Impfzwang im Sinne eines unmittelbaren körperlichen Zwangs geben darf. Am ehesten wird ein etwaiger Verstoß gegen eine Impfpflicht als Ordnungswidrigkeit mittels der Verhängung eines Bußgeldes geahndet.

Worin würde die gesetzliche Impfpflicht sich eigentlich vom jetzigen Zustand unterscheiden, der ja schon eine faktische Impfpflicht darstellt?

Es gäbe dann eine gesetzliche Verpflichtung, sich impfen zu lassen. Das ist insofern ein Unterschied, als aktuell zumindest auf dem Papier die Entscheidung bei jedem Einzelnen liegt. Würde ein Gesetz die Impfung verpflichtend machen, würde damit eines der Grundprinzipien medizinischer Behandlungen unterlaufen: dass nämlich für jede medizinische Behandlung die freie Einwilligung des Patienten erforderlich ist. Ein Gesetz würde daher zwei sehr entscheidende Grundrechte direkt einschränken: das Recht auf Selbstbestimmung und das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Damit würden sich die Abgeordneten eine immense Rechtfertigungslast aufbürden. Insbesondere auch im Hinblick auf etwaige erhebliche Nebenwirkungen.
 
Könnte man sich, zum Beispiel durch die Zahlung von Bußgeldern, sozusagen „freikaufen“, oder würde dann regelmäßig erneut ein Bußgeld fähig?

Das kommt auf die konkrete Ausgestaltung an. Beides ist denkbar. Während in Österreich geplant ist, für jede vorgeschriebene Impfung ein Bußgeld zu verhängen, sieht Griechenland bei der jüngst seitens der Regierung beschlossenen Impfpflicht ab 60 Jahren eine monatliche Bußgeldzahlung vor. Die Gefahr einer sozialen Diskriminierung ist in beiden Fällen groß.

Können Zwangsmaßnahmen auch bis zu Haftstrafen reichen, wie von einigen Juristen ins Spiel gebracht?

Die bestehende Masernimpfpflicht wird mittels Bußgeldern und Zutrittsverboten durchgesetzt. Lediglich in dem Fall, in dem sich jemand hartnäckig weigert, das Bußgeld zu bezahlen, kommt eine Erzwingungshaft in Betracht. Eine strafrechtliche Sanktion (Geldstrafe, Freiheitsstrafe) halte ich für ausgeschlossen, da der Zustand, ungeimpft zu sein, kein tauglicher Anknüpfungspunkt für eine Straftat ist und ein abstraktes Gefährdungsdelikt auch weit hergeholt erscheint.

Wie stehen die Chancen, dass so eine Impfpflicht irgendwann auch wieder aufgehoben wird? Das heißt, was sind eigentlich die Ziele, die mit ihr erreicht werden sollen, und wie ist definiert, wann diese Ziele erreicht sind?

Das wären in der Tat die Fragen, die am Beginn einer parlamentarischen Diskussion stehen sollten. Eine Herdenimmunität ist so wenig erreichbar wie eine sterile Immunität. Allenfalls der erhoffte Effekt, dass weniger Menschen schwer an Covid erkranken und deswegen die Krankenhauskapazitäten nicht so sehr belasten, bliebe damit übrig. Falls so argumentiert wird, dürfte die Impfpflicht aber nur die Gruppe betreffen, die statistisch ein erhöhtes Risiko hat, intensivpflichtig zu werden. Ferner müsste die Auslastung der Intensivstationen zunächst objektiv überprüft werden. Es müsste etwa geprüft werden, ob örtliche Überlastungen nicht besser und effektiver beispielsweise durch finanzielle Steuerungsinstrumente gelöst werden könnte.

Ich befürchte: Wenn es die Impfpflicht erstmal ins Gesetz geschafft hat, wird man sie nicht mehr so schnell aufheben, das heißt, es wäre mit regelmäßigen verpflichtenden Impfungen alle sechs Monate auf Jahre oder Jahrzehnte zu rechnen.

In der Sache wäre eine Impfpflicht aber natürlich spätestens dann nicht mehr zu rechtfertigen, wenn der Erreger harmloser wird, weniger Menschen schwer erkranken oder der Pflegenotstand, der seit Jahren scharf (und ungehört) angemahnt wird, endlich behoben ist – das ist im Übrigen die vordringliche Aufgabe der Politik, und dort hat sie in einer Weise versagt, die unentschuldbar ist.

Was bedeutet eigentlich der Begriff „allgemeine Impfpflicht“ im juristischen Sinne? Gälte eine solche für alle Erwachsenen, oder auch für Kinder? Gibt es Ausnahmen und, wenn ja, welche: medizinische, psychologische, soziale, oder solche aus Gewissensgründen?

Das alles müsste gesetzlich festgelegt werden. In Österreich soll es zum Beispiel nur wenige Ausnahmen, etwa für Kinder unter zwölf Jahren und Schwangere geben. Menschen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können, müssen natürlich auch ausgenommen werden. Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder hat sich übrigens bereits für eine Impfpflicht ab zwölf Jahren ausgesprochen.

Gibt es noch Möglichkeiten, sich rechtlich zu wehren, auf allgemeiner wie auf individueller Ebene? Also: Steht der Klageweg offen?

Es ist zu erwarten, dass eine etwaige Impfpflicht mittels eines Parlamentsgesetzes und nicht lediglich per Verordnung beschlossen würde. Hiergegen kann dann Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben werden, beziehungsweise auch eine Eilentscheidung und gegebenenfalls ein Hängebeschluss beantragt werden. Denkbar wäre auch eine Feststellungsklage auf Anerkennung eines Ausnahmegrundes, zum Beispiel religiöse Motive.

Abgesehen davon kann sich jeder gegen einen etwaigen Bußgeldbescheid wehren und diesen gerichtlich überprüfen lassen. Letztlich wird auch ein solches Verfahren auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinauslaufen, da nur dieses über die sogenannten „Normverwerfungskompetenz“ verfügt und feststellen kann, dass das dem Bußgeld zugrundeliegende Gesetz verfassungswidrig ist. Die endgültige Entscheidung zur Masernimpfpflicht steht im Übrigen noch aus und ist noch dieses Jahr zu erwarten.

Wie, glauben Sie, wird die Rechtswissenschaft die heutigen Vorgänge im historischen Rückblick beurteilen?

Es wird eine Aufarbeitung geben müssen, wie es bisher bei jeder zeitgeschichtlichen Krise notwendig war. Ich kann nur hoffen, dass man sich schon vorher wieder an den Prinzipien des Rechtsstaates orientiert und nicht erst im Nachhinein sagt: Was haben wir nur getan? Dass es eine absolute Grenze sein sollte, wenn Menschen als bloßes Objekt, als „Schädlinge“, behandelt und beschimpft werden, ist eigentlich common sense. Aber zur Zeit scheint der Blick auf sehr einfache Wahrheiten verstellt zu sein. Ich denke, diese Zeit wird rückblickend als panikgetrieben und irrational beurteilt werden. Vermutlich wird man auch die allmählichen Werteverschiebungen erkennen und sich fragen, wie es sein konnte, dass sich eine eher freiheitliche Gesellschaft so schnell an einen paternalistisch-autoritären Regierungsstil nicht nur gewöhnte, sondern diesen mehrheitlich auch goutierte.

Die Fragen stellte Ingo Way.

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