Identitätspolitik - Das Elend der Gleichmacherei

Wenn das identitätspolitische Gift von den Universitäten in Medien und Schulen sickert, zerrinnt uns nicht nur die Bürgergesellschaft zwischen den Fingern. Sondern es steht die Demokratie selbst zur Disposition. Denn die identitätspolitischen Kämpfe zerstören einen Pfeiler unserer liberal-demokratischen Ordnung: die Meritokratie.

Büste des griechischen Philosophen Platon im bayerischen Landtag in München / picture alliance
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Autoreninfo

Michael Sommer lehrt an der Universität Oldenburg Alte Geschichte und moderiert gemeinsam mit Evolutionsbiologe Axel Meyer den Cicero-Wissenschafts-Podcast

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Drei Geschichten, ein Thema. Auf der Jahrestagung der American Society for Classical Studies in San Diego sprach im Januar 2019 der aus der Dominikanischen Republik stammende und in Princeton lehrende Althistoriker Dan-el Padilla Peralta über die Zukunft der klassischen Altertumswissenschaften. Padillas Vortrag war eine einzige Anklage gegen die Zunft: Die Classics seien nicht nur ein Rechtfertigungssystem für männlich-weißen Überlegenheitswahn, sie würden auch nichtweiße Akademiker systematisch diskriminieren, indem man sie nicht in den wenigen prestigereichen Fachzeitschriften publizieren lasse. Padilla forderte „heilende akademische Gerechtigkeit“.

In der Diskussion nach Padillas Referat kam es zum „Incident“, einem Eklat erster Güte. Eine Teilnehmerin der Veranstaltung versuchte sich an der Ehrenrettung der Classics: Cicero und Thukydides wohne doch ein Eigenwert inne. Zeitschriften sollten nur nach der Qualität der Beiträge fragen, nicht nach der Hautfarbe ihrer Verfasser. An Padilla gewandt, sagte sie, es könne sein, dass er seine Professur nur seinem Schwarzsein verdanke, sie hingegen glaube lieber, er habe seinen Job aufgrund akademischer Meriten bekommen. Padillas Antwort lautete, er hoffe, das Fach stürbe, und das möglichst bald.

Rassistische Musik

Am 16. Juli 2020 erschien in der New York Times ein Artikel des Musikkritikers Anthony Tommasini, in dem er die Abschaffung „blinder“ Spielproben forderte, um mehr Diversität in Amerikas Orchester zu tragen. Spielproben ohne Ansehen der Person hätten die Klangkörper bunter und weiblicher gemacht – aber längst noch nicht divers genug. Jetzt sei es an der Zeit, die blinden Proben wieder abzuschaffen, weil die Diskriminierung von „musicians of color“ schon in der Ausbildungsphase beginne.

Die Forderung nach einer Revolution im Konzertsaal trifft sich mit Bestrebungen, klassische Musik generell unter Rassismusverdacht zu stellen. Auf dem Instagram-Account @orchestraisracist heißt es, es gebe keinen objektiven Grund, warum etwa Beethoven besser sei als Samuel Coleridge-Taylor (1875–1912), ein britischer Komponist mit Wurzeln in Sierra Leone, der als Erster den Sound afroamerikanischer Spirituals in die klassische Musik einführte. Der Kanon sei rassistisch, behauptet die Gruppe und fordert seine „Dekolonialisierung“: In jedes klassische Konzert gehörten „compositions of color“, das Curriculum von Musikschulen müsse einen Pflichtanteil von Werken enthalten, die von farbigen Komponisten stammen.

Sklavengeschichte in Liverpool

Am 27. April 2021 gab mein früherer Arbeitgeber, die University of Liverpool, bekannt, dass ein bisher nach dem viermaligen Premierminister William Gladstone (1809–1898) benanntes Studentenwohnheim künftig Dorothy Kuya Hall of Residence heißen wird. Für die 2013 verstorbene Bürgerrechtsaktivistin hatten sich 4000 Teilnehmer einer Abstimmung unter den Studenten mehrheitlich ausgesprochen. Der in Liverpool geborene Liberale Gladstone war als Premierminister ein entschiedener Gegner der Sklaverei. Am 19. März 1850 erklärte er vor dem britischen Unterhaus, die Sklaverei sei „bei Weitem das schmutzigste Verbrechen“ der Menschheitsgeschichte gewesen. Freilich: Als junger Abgeordneter hatte er noch die Interessen der Sklavenhalter vertreten.

Das war kein Wunder, denn sein Vater war als Besitzer von Zuckerplantagen durch den massenhaften Einsatz unfreier Arbeitskräfte reich geworden. Als 1834 im British Empire die Sklaverei abgeschafft wurde, machte sich Gladstone junior dafür stark, dass die Besitzer entschädigt wurden. Später änderte er seine Meinung so gründlich, dass er bekannte, die Abolition habe zu den zehn größten Leistungen seines Zeitalters gehört. Die einfachen Leute hätten in dieser Frage recht behalten, während die Oberschicht im Irrtum gewesen sei.

Angemessene Repräsentation oder Untergang des Abendlandes

Cicero, Beethoven, Gladstone: Sind sie wirklich alle Kronzeugen toxischer White Supremacy? Je nach Standpunkt wird man die Frage völlig unterschiedlich beantworten. Für die einen geht es um Gerechtigkeit für bislang marginalisierte Gruppen. Man schaut in die Runde von Orchestern, universitären Lehrkörpern, Museumssammlungen, Parlamenten – und sieht überall nichts als alte, weiße Männer. Gerechtigkeit heißt für die Anhänger des Diversitätsgedankens: angemessene Repräsentation, möglichst nach Quote.

Für andere droht hier bereits der Untergang des Abendlands. Wenn Säulenheilige wie Gladstone, Woodrow Wilson und selbst Churchill stürzen, dann sehen sie Bilderstürmer am Werk, denen nichts heilig ist. Sie wittern, durchaus nicht zu Unrecht, im zornigen Eifer der Aktivisten einen Frontalangriff auf die Fundamente des Westens. Steht Amerika, steht Europa vor einer Kulturrevolution?

217 Gender-Studies Professoren

Zyniker werden einwenden, es gehe bei den Kämpfen um Statuen, Straßennamen und Schulcurricula nicht so sehr um Symbole, sondern um Deutungshoheit – und damit um Macht. Wer bestimmen kann, welche Musik in den Konzertsälen gespielt, welche Kunst in den Museen aufgehängt wird und welche Inhalte an Universitäten als relevant gelten, lenkt damit beträchtliche Finanzmittel in eine bestimmte Richtung. Rund zehn Milliarden Euro fließen in Deutschland pro Jahr in die öffentliche Kulturförderung, ein Vielfaches in die Hochschulen. Die Verteilung der Gelder ist hochkompetitiv. Es geht also auch um ziemlich viel Kohle.

Dass man hier mit gezielter Lobbyarbeit weit kommen kann, hat in den vergangenen Jahrzehnten der Siegeszug der Gender Studies bewiesen. 217 Professuren mit einer Voll- oder Teildenomination für Gender Studies gab es 2019 laut Forschung & Lehre an deutschen Hochschulen, Tendenz weiter steigend. Das enorme Wachstum ging zulasten etablierter Disziplinen in den Geistes- und Kulturwissenschaften, etliche davon kleine Fächer, die mit nur wenigen Lehrstühlen in Deutschland vertreten sind. Sie haben im Ringen um die Gunst der Politik schlechte Karten.

Unempirische Vorwürfe

Die Gender Studies haben gleich ein doppeltes Ziel erreicht. Erstens haben sie erfolgreich die Fleischtöpfe der Wissenschaftsbudgets angezapft und sich damit an den Universitäten großzügig ausgestattet. Zweitens liefern sie die intellektuelle Blaupause für das Staatsziel Gleichstellung, das in Dienststellen und Unternehmen eine blühende Bürokratie hat wuchern lassen: ein erstklassiges Versorgungsbiotop für Absolventen der entsprechenden Studiengänge, die anderweitig auf dem Arbeitsmarkt nur schwer vermittelbar wären. Ein Kreis schließt sich, und eine künftige Bundesregierung mit Beteiligung der Grünen dürfte hier noch erhebliches Wachstumspotenzial sehen.

Die EU hat im Mai mit der Finnin Michaela Moua ihre erste Antirassismusbeauftragte ernannt. Dass die Diversitäts- es also der Gleichstellungslobby, dass die Critical Race Studies es den Gender Studies nachtun werden, steht außer Zweifel. Beide reklamieren für ihre Klientel einen systemisch bedingten Opferstatus: Auch bei völliger Gleichberechtigung seien Frauen in einer männerbeherrschten und BPoCs („Blacks and People of Color“) in einer von Weißen dominierten Gesellschaft diskriminiert. Der Vorwurf der systemischen Diskriminierung genießt den Vorzug, dass man sich nicht die Mühe machen muss, ihn empirisch nachzuweisen. Es genügt, ihn zu behaupten. Wenn nur 10 Prozent der Chefärzte, aber 33 Prozent der Oberärzte und sogar 65 Prozent der Medizinabsolventen weiblich sind, dann könnte das daran liegen, dass die Klinik ein frauenfeindlicher Kosmos ist. Es ist aber auch denkbar, dass sich in den Zahlen Disparitäten zwischen unterschiedlichen Alterskohorten äußern. Oder es könnte, horribile dictu, an unterschiedlichen Lebensentwürfen von Männern und Frauen liegen.

Nicht alle Nicht-Weißen sind unterrepräsentiert

Überhaupt lässt sich mit Statistiken trefflich Schindluder treiben. Die behauptete uniforme Weiß-heit der amerikanischen Orchester löst sich bei näherer Betrachtung in Wohlgefallen auf. Zwar machten Weiße 2014 immer noch rund 85 Prozent der amerikanischen Orchestermusiker aus. Bei einem Anteil von Weißen an der US-Bevölkerung von 72 Prozent (2010) ist diese Gruppe damit um rund 18 Prozent überrepräsentiert. Viel stärker überrepräsentiert, nämlich um fast 70 Prozent, ist aber eine andere Gruppe in den US-Orchestern: die Amerikaner asiatischer Herkunft, deren Anteil zwischen 2003 und 2014 von 5,3 auf 9,1 Prozent gestiegen ist.

Das Muster bestätigt Daten amerikanischer Ivy-League-Universitäten, an denen Asian Americans unter den frisch Immatrikulierten ebenfalls, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, sehr stark vertreten sind. Bei Licht besehen ist das Diversitätsdefizit also kein Problem der generellen Unterrepräsentanz von Nichtweißen, sondern lediglich bestimmter nichtweißer Gruppen, namentlich der Schwarzen und, weniger eklatant, der Hispanics. Hier von systemischem Rassismus zu sprechen, ist eine gewagte Hypothese, mehr nicht.

Dennoch basiert die Diversitätspolitik amerikanischer Universitäten just auf dieser Hypothese. Die Kritikerin Padilla Peraltas in San Diego hat mit ihrer verunglückten Bemerkung über die Hautfarbe des Wissenschaftlers insofern etwas Richtiges getroffen, als jeder Versuch, Repräsentanz über Quoten und positive Diskriminierung herzustellen, unweigerlich am Leistungsgedanken rüttelt. Die Meritokratie fragt nicht nach den Gründen, warum der eine mehr und der andere weniger leistet oder leisten kann, sie entscheidet allein auf Grundlage der Qualifikation.

Leistungsgerechtigkeit mit schwerem Stand

In der Frage, ob ein Orchester seine Musiker „blind“ oder etwa Schwarze und Latinos bevorzugt einstellen soll, konkurrieren zwei unterschiedliche Gerechtigkeitsgedanken miteinander. Wer für Leistungsgerechtigkeit ist, dem ist es egal, welche Hautfarbe die Musiker haben, Hauptsache, am Ende steht der perfekte Klang des Ensembles. Die Anhänger des Egalitarismus sehen Gerechtigkeit erst dann erreicht, wenn alles zu gleichen Teilen verteilt ist, selbst wenn der Preis dafür Misstöne sind, die sich in die Sinfonie einschleichen.

In der öffentlichen Debatte der meisten westlichen Länder haben es die Verfechter von Leistungsgerechtigkeit im Moment schwer. Zumal in Deutschland kann sich schnell auf einen gefühlten Konsens berufen, wer „soziale Gerechtigkeit“ einfordert. Ob es um „bezahlbaren Wohnraum“, die „Respektrente“ oder das „Bundesteilhabegesetz“ geht, stets wird der Eindruck vermittelt, als schaffe ein Mehr an Umverteilung automatisch auch ein Mehr an Gerechtigkeit. Dass dadurch den Steuer- und Beitragszahlern und vor allem immer weniger Jungen immer mehr Solidarität mit Transferleistungsempfängern abgefordert wird, geht in der hochmoralisierten und hochemotionalisierten Debatte unter.

Historisches Vorbild Athen

Dabei sollte eigentlich jeder Argwohn erwecken, der ganz genau zu wissen behauptet, was das ist: Gerechtigkeit. Denn darüber streiten die Philosophen schon seit über 2500 Jahren. Als um 600 vor Christus in Athen die soziale Schere auseinanderzuklaffen begann, weil die Stadt eine Art Globalisierungsschub durchlitt und Anschluss fand an den interkontinentalen Fernhandel, da gab es plötzlich Modernisierungsgewinner und -verlierer. Während viele Athener in Schuldsklaverei absanken und ihre Äcker verloren, konzentrierte sich großer Reichtum in wenigen Händen.

Die Situation war brandgefährlich, denn die junge Polisgemeinschaft drohte zu implodieren. Man berief den weltläufigen Aristokraten Solon zum Gesetzgeber, der die Stadt aus der Schieflage befreien sollte. Solon setzte gegen erheblichen Widerstand einen Schuldenschnitt durch und legte ein nach Einkommensklassen gestaffeltes Stimmrecht in der Volksversammlung fest. Alle Athener hatten einen feierlichen Eid auf seine Gesetze zu schwören, die schriftlich fixiert wurden.

Nach 2500 Jahren die gleiche Masche

Die solonische Gesetzgebung war eine Kompromissformel zwischen Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit. Der Partizipationsgrad hing davon ab, ob jemand es sich leisten konnte, als schwer bewaffneter Hoplit für seine Vaterstadt zu kämpfen oder nicht, aber jeder hatte Anteil an der Polis. Damit war zugleich der Gedanke des Bürgers geboren, die wohl bahnbrechendste politische Innovation der Antike. Der Bürger nahm das Schicksal der Polis in die eigenen Hände, er war kein Untertan und ließ sich auch nicht von göttlichen Mächten ins politische Handwerk pfuschen.

Solon glich modernen Politikern insofern, als er ein Meister des moralisch-emotionalen Framing war. Er verfasste Gedichte über seine Arbeit als Gesetzgeber, von denen Fragmente erhalten sind. Als „Wohlgesetzlichkeit“, Eunomie, verkaufte er den Lesern sein Maßnahmenpaket. Wer könnte etwas gegen „gute Gesetze“ oder „gute Kitas“ einzuwenden haben? Der autoritäre Sprachgestus hat sich in 2500 Jahren kaum gewandelt: Die behauptete „Alternativlosigkeit“ ist sein Markenzeichen.

Demokratie machte exklusiver

Kurzfristig scheiterte Solon: Athen geriet unter die Herrschaft eines Tyrannen. Dennoch war seine Reform insofern wegweisend, als sie eine Entwicklung einleitete, die der Althistoriker Christian Meier den „Trend zur Isonomie“ genannt hat. Isonomie heißt „Gleichgesetzlichkeit“. Sie geht einen Schritt über Solons Eunomie hinaus: Alle Bürger haben, egal ob arm oder reich, gleich großen Anteil an der Polis und damit dieselben politischen Rechte. Der nächste Schritt war die vollständige arithmetische Gleichstellung der Bürger: Der Schuster sollte die gleiche Chance haben, ein hohes Amt zu erringen, wie der adlige Großgrundbesitzer. Erreicht wurde das in Athen dadurch, dass die Ämter bezahlt und im Losverfahren besetzt wurden. Man nannte dieses System „Herrschaft des Volkes“: Demokratie.

Nicht überraschend hatten egalitäre Phantastereien im demokratischen Athen Hochkonjunktur. In einer Stadt, in der alle gleich viel zu sagen hatten, sollten auch alle denselben Lebensstandard haben. Der Architekt Hippodamos von Milet überzeugte die Athener mit seinem Projekt einer rechtwinkligen Planstadt im Hafen Piräus, in der in Reih und Glied identische Musterhäuser für die Bewohner in die Höhe wuchsen.

Der moderne Gedanke, Gleichheit trotz Diversität herzustellen, wäre den Athenern nie gekommen. Der Bürgerverband der Polis war homogener, ja uniformer, als ein Nationalstaat es je sein kann. Frauen und Sklaven gehörten ebenso wenig dazu wie zugewanderte Fremde. Und dafür, dass die Fremden bitte schön draußen blieben, sorgten rigide Bürgergesetze. Je demokratischer die Polis Athen wurde, desto eifersüchtiger verteidigte sie die Exklusivität ihres Bürgerrechts.

Kritik der kompletten Demokratie

Die radikale Demokratie hatte im klassischen Athen sehr wohl ihre Kritiker. Einer davon war Platon. Er bemängelte die Außerkraftsetzung des Leistungsprinzips und ihre Anfälligkeit für Demagogen. Er kritisierte, die Demokratie sei im Grunde die Diktatur der vielen über die wenigen. Diese Demokratiekritik machten sich viel später die Gründerväter der Vereinigten Staaten zu eigen. James Madison, der spätere Präsident, schrieb 1787 in den Federalist Papers, durch Gewährung absoluter Rechtsgleichheit würde man doch keine Gleichheit des Besitzes, der Meinungen und der Temperamente herstellen. Deshalb solle man von der Volkssouveränität absehen und politische Entscheidungen an wenige delegieren. Eine parlamentarische Republik sei besser als die ungezügelte Demokratie Athener Prägung.

Weder Platon noch Madison wäre auf die Idee gekommen, den modernen Parlamentarismus als „Volksherrschaft“ zu bezeichnen. Dennoch wird er heute fast auf der ganzen Welt für die einzig praktikable Form der Demokratie gehalten, denn – auch da hatte Madison recht – große Gesellschaften sprengen den Rahmen direkter Teilhabe. Es führt also keine direkte Linie von der antiken Demokratie in die Moderne, wohl aber von der Isonomie und dem Gedanken der Bürger als prinzipiell Gleichen. Er hat im Grundgesetz, Artikel 3, Absatz 1 seinen Niederschlag gefunden: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“

Erfolgsmodell Demokratie

Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 hatte diesen grundsätzlichen Gleichheitsgedanken in einem einzigen Satz mit dem Leistungsprinzip verknüpft: Alle Menschen seien „gleich geschaffen“ und von ihrem Schöpfer mit unverlierbaren Rechten ausgestattet, darunter „Life, Liberty, and the Pursuit of Happiness“. Wobei „happiness“ vor allem bedeutet: wirtschaftlicher Erfolg.

Seither gilt die Demokratie – zu Recht – als die meritokratische Staatsform schlechthin. Auf dem Markt der politischen Konzepte setzt sich, so die Überzeugung, nur das durch, was zukunftsfähig ist. Und dem Individuum schaffen die in demokratischen Verfassungen verbrieften Freiheits- und nicht zuletzt Eigentumsrechte maximalen Entfaltungsraum. Es mag lange dauern und die Widerstände mögen groß sein: Die liberale Demokratie ist die sicherste Garantie dafür, dass sich Qualität am Ende durchsetzt. Im Prinzip ist das zum Wohl aller, denn effiziente Elitenauslese ist die Grundlage für gesellschaftlichen Wohlstand.

Doch das Verflixte an der Leistungsgesellschaft ist, dass sie auf der individuellen Ebene neben Gewinnern auch Verlierer produziert. Längst nicht jeder kann im Rennen um die besten Chancen mithalten.

Schattenseiten der Leistungsgesellschaft

Die Historikerin Anne Applebaum hat in ihrem Buch „Die Verlockung des Autoritären“ unlängst darauf aufmerksam gemacht, dass gerade im östlichen Europa viele Hoffnungen, die sich an die liberale Demokratie geknüpft hatten, enttäuscht worden sind und dass deshalb für viele der Enttäuschten autoritäre Politikentwürfe eine vielversprechende Alternative bieten. Wo nicht Leistung belohnt wird, sondern Konformität, da können auch die reüssieren, die es unter meritokratischen Bedingungen nicht weit bringen würden. Sich anzupassen, ist allemal leichter, als sich in unbarmherzigem Wettbewerb durchzusetzen. Der Konformismus ist das Lebenselixier der Neoautoritären, und wo er nicht genügt, da helfen Verschwörungstheorien nach.

Das Heer der Enttäuschten bläht außer den Segeln von PiS und Viktor Orbán auch die vieler Populisten im Westen, von Trump bis zur AfD. Auch hier nämlich säumen Leichen den Weg ins meritokratische Elysium. Geringqualifizierte werden in der Wissensgesellschaft schnell zu Abgehängten. Die Meritokratie-Falle schnappt zum Beispiel dort zu, wo Migranten bei einfachen Jobs die Löhne drücken oder Ausbildungsberufe verschwinden, weil sich ganze Berufsfelder akademisieren. Wer den Qualifizierungsmarathon nicht schafft, landet auf dem Abstellgleis. Und bei denen, die dort gelandet sind, verfängt das klassische Versprechen der Leistungsgesellschaft nicht mehr, dass sozialer Aufstieg über den Bildungsweg führt.

Keine klassischen Aufstiegsparteien mehr

In Deutschland war die Partei, die dieses Versprechen seit dem Kaiserreich stets glaubwürdig vertrat, die Sozialdemokratie. Vom Arbeiterbildungsverein bis zur Bildungsexpansion der sechziger und siebziger Jahre war die SPD die Kraft, die das Tor zur Mittelstandsgesellschaft für alle Leistungsbereiten weit aufstieß. Wenn die hart arbeitende Mittelschicht heute das Programm der SPD durchblättert, wird sie auf wenig Erquickliches stoßen. Die einstige Aufsteigerpartei ist in der Post-Schröder-Ära zur Transferleistungspartei geworden, die „soziale Gerechtigkeit“ sagt und Alimentierung meint. Dass sie damit diejenigen zurückholt, deren „Schmerzensschrei“ (der Politologe John P. McCormick) die Populisten auf den Plan gerufen hat, darf man bezweifeln.

Auf der anderen Seite stehen die Kinder derjenigen, die den Aufstieg durch Bildung geschafft haben oder ihre Schäfchen sowieso im Trockenen hatten. Auch sie erkennen eine Gerechtigkeitslücke, setzen die Prioritäten aber völlig anders. Ihr Mitleid mit den Abgehängten des eigenen Landes hält sich in Grenzen. Sie denken Gerechtigkeit in völlig anderen Kategorien: identitätspolitisch, als Gerechtigkeit mit real oder vermeintlich marginalisierten Gruppen wie BPoC, LGBT oder Behinderten; global, als Verteilungsgerechtigkeit zwischen Weltregionen oder als Klimagerechtigkeit; oder sogar speziesübergreifend, als Tiergerechtigkeit.

Nimmersatte Gerechtigkeitsvorstellungen

In diesem Gerechtigkeitskosmos gibt es nur noch Täter und Opfer. Täter par excellence ist der nichtbehinderte, alte, weiße Mann. Alle anderen können, in unterschiedlicher Intensität, Opferstatus für sich reklamieren. Die Opferlogik hebelt jeden leistungsbasierten Selektionsmechanismus aus. Wenn im Bewerberfeld um die Professur eine weibliche BPoC ist, muss sich die Kommission schon sehr gute Argumente einfallen lassen, wenn sie sich für Hans-Peter aus Bielefeld entscheiden möchte.

Auch die linken Identitätspolitiker erliegen der neoautoritären Verlockung. Wie ihre rechten Verwandten im Geiste schaffen sie Strukturen, die in erster Linie Konformismus belohnen. Sprachpolitische Gesslerhüte werden aufgehängt und sind zu grüßen. Wer das versäumt oder gar kritisiert, ist als Feind markiert, wie jüngst das SPD-Urgestein Wolfgang Thierse zu spüren bekam. Wer auf der richtigen Seite stehen will, muss sich ständig über neue Sprachregelungen auf dem Laufenden halten, weil das, was gestern noch politisch korrekt war, morgen schon beleidigend sein kann.

Die neue Erbsünde

Man zieht rote Linien des Sagbaren, verschiebt sie aber ganz nach Bedarf, denn Gradmesser für Diskriminierung ist allein ein gefühliges Meinen. Die Opfer in ihrem Schmerz sind ständigen „Mikroaggressionen“ der bösen Mitmenschen ausgesetzt. Schon harmlose Neugier kann so auf dem Index landen. Wer fragt: „Woher kommst du?“, der bedient sich des Fremd-im-eigenen-Land-Stereotyps und stürzt sein Opfer womöglich in die Identitätskrise. Gegen alle, die ihnen öffentlich widersprechen, setzen die Neoautoritären den Twittermob und die Bodentruppen sogenannter Aktivisten in Marsch.

Im Kern geht es um Macht. Die Minderheit der Links-Neoautoritären versucht der Mehrheitsgesellschaft ihren Willen aufzuzwingen, indem sie ihr einredet, für sämtliche Übel dieser Welt verantwortlich zu sein. Die Selbstdenunzia­tionen sind das Äquivalent zu den Verschwörungstheorien der Rechtspopulisten: Die Industrienationen sind für den Klimawandel verantwortlich, die Weißen für die durch Kolonialismus und Versklavung an Schwarzen begangenen Verbrechen, die Fleischesser für die Qualen der Nutztiere und die Wohlstandsgesellschaft für alles Elend in dieser Welt. Die neue „White Man’s Burden“ ist ein kolossaler Schuldkomplex, mit dessen Zentnergewicht allenfalls die Erbsünde konkurrieren kann.

Politik ist nicht Gut gegen Böse

Voraufklärerisch muten Gestik und Rhetorik der Neoautoritären an. Die Bilder von weißen Amerikanern, die nach dem Tod von George Floyd vor ihren schwarzen Landsleuten niederknieten, erinnern an das höfische Zeremoniell längst vergangener Epochen, das Gerede vom bevorstehenden Klimatod an die biblische Apokalypse, und die Maßregelung gestandener Politiker aus Kindermund („How dare you!“) an die Predigtprosa des Schweizer Pietisten Samuel Lutz („Was bildt er sich ein, daß er so redet?“). Bei den Grünen, die möglicherweise in Deutschland an der Schwelle zur Macht stehen, haben die Neoautoritären ein gewichtiges Wort mitzureden. Ihr Geschäftsmodell besteht darin, die Menschen von ihrer Sündhaftigkeit zu überzeugen und davon, dass das Kreuz an der richtigen Stelle Erlösung verspricht.

Denken wir lieber nach. Politik ist kein Kampf des Guten gegen das Böse, sondern ein Ringen um die besseren Rezepte auf dem politischen Marktplatz. Wir sind Bürger, keine Untertanen, aber das Modell der Bürgergesellschaft der Freien und Gleichen wird durch das Nullsummenspiel identitätspolitischer Grabenkämpfe unterhöhlt, wie Francis Fukuyama warnte. Das gleiche Recht für alle, aus gutem Grund nicht die Gleichstellung, hat bei uns Grundgesetzrang und ist in Artikel 3 festgeschrieben. 

Freiheit nicht den Neoautoritären überlassen

Darüber, was Gerechtigkeit ist und wie sie in Recht gegossen werden soll, müssen wir reden, in offener Debatte, ohne künstliche Empörung und neoautoritäre Machtworte. Wenn das identitätspolitische Gift von den Universitäten in Medien und Schulen und von dort in junge, ungefestigte Gehirne sickert, dann zerrinnt uns die Bürgergesellschaft zwischen den Fingern, ja dann steht die Demokratie selbst zur Disposition.

Das wäre dann tatsächlich ein Epochenwandel: aus der Moderne zurück in die finstere Voraufklärung. Ob das passiert, hängt von uns ab, denn wie sagte Gladstone: „Liberty is never safe.“

 

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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