Historiker Rödder zur Neuaufstellung der Union - Ist das „C“ in CDU noch zeitgemäß? 

Der scheidende CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak hinterlässt seiner Partei auf 64 Seiten eine schonungslose Analyse des gescheiterten Wahlkampfs. Unter den Vorschlägen zur Erneuerung ragt der des Historikers Andreas Rödder heraus: eine Debatte über das „christliche Menschenbild“ der Union.

„Festes Identitätsmerkmal“ in einer „zunehmend entchristlichten Gesellschaft“: Historiker Andreas Rödder / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

So erreichen Sie Hugo Müller-Vogg:

Anzeige

Selbst im Konrad-Adenauer-Haus bestreitet niemand, dass die Kampagne zur Bundestagswahl missglückt ist. Der wohl schlechteste Wahlkampf in der Geschichte der Partei hat zum schlechtesten Wahlergebnis aller Zeiten geführt. 

Der am Samstag aus dem Amt geschiedene Generalsekretär Paul Ziemiak hat freilich als Abschiedsgeschenk an seinen Nachfolger Mario Czaja und den neuen Vorstand eine sehr detaillierte Analyse des Wahlkampfdesasters vorgelegt. Nach umfangreichen Gesprächen mit Kreisvorsitzenden, erfolgreichen wie gescheiterten Kandidaten, der Befragung von verschiedenen Zielgruppen und der Einschaltung externer Experten legte Ziemiak eine Analyse vor, die einerseits ein Schadensbericht ist, andererseits viele, zum Teil naheliegende Reformvorschläge enthält. 

„Programmatische Frische“ erforderlich 

In dem 64 Seiten starken Bericht werden die Mängel des Wahlkampfes schonungslos dargestellt: die zu späte Nominierung des Kanzlerkandidaten, das fehlende programmatische Profil, die miserable Kommunikationsstrategie. Aus diesem wenig erbaulichen Befund leitete die interne Kommission Empfehlungen ab und rät der Partei unter anderem zu „programmatischer Frische“. Dazu heißt es: „Die CDU muss eine Antwort auf die Frage geben, was das Anliegen christdemokratischer Politik im 21. Jahrhundert ist. Nötig ist eine verbindende, positive Erzählung für die Partei und eine Antwort auf die Frage, wie wir in Deutschland miteinander leben wollen.“  

Weiter heißt es: „Die CDU muss in der Lage sein zu erklären, auf welcher ideellen Basis sie ihre Entscheidungen trifft. Dafür ist es notwendig, einige Begriffe, die für die CDU traditionell wichtig sind, mit neuem Leben zu füllen. Dies betrifft vor allem das ,christliche Menschenbild‘ und was dieser Begriff für die CDU heute bedeutet. Weitere zentrale Begriffe sind das soziale Aufstiegsversprechen und die christdemokratische Idee von Gerechtigkeit, der Leistungsbegriff, der Begriff der sozialen Marktwirtschaft oder der Subsidiarität.“ 

Die Kommission macht keinen Hehl daraus, dass in der Partei viele Fragen ungeklärt sind. Unter dem Stichwort „Konflikte lösen“ fordert sie, innerparteilich umstrittene Fragen zu klären. Dazu zählt sie „die Frage der Versorgungssicherheit versus eine schnelle Energiewende, die Migrationsfrage, der Umgang mit Russland oder die Rolle der Familie als Kernbezugspunkt christdemokratischen Handelns in einer sich verändernden Gesellschaft“. 

Ein revolutionärer Vorschlag 

Den spannendsten Beitrag zu der Gesamtanalyse liefert ein Wissenschaftler ohne Parteiamt: Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte an der Universität Mainz. Rödder ist CDU-Mitglied und hat die Partei immer wieder ermahnt, das Konservative in ihrer Programmatik nicht zu vernachlässigen. Ausgerechnet dieser Konservative und Kritiker des profillosen Merkel-Kurses macht einen geradezu revolutionären Vorschlag. Er empfiehlt seiner Christlich-Demokratischen Union, über die Streichung des „C“ im Parteinamen nachzudenken.   

Rödder erinnert daran, dass der kirchlich engagierte frühere Bundestagspräsident Eugen Gerstenmeier schon in den 1980er-Jahren das „C“ skeptisch gesehen habe, da es die Frage aufwerfe, wie kirchlich oder religiös festgelegt die Union sei. Diese Frage hält Rödder heute für umso aktueller. Er schreibt: „2022 lässt sich zudem argumentieren, dass die Zeit der klassischen Christdemokratie in Europa vorüber ist – und wenn die CDU stets als ihr ,letzter Dinosaurier‘ bezeichnet wird, wird sie umgehend durch die sogleich provozierte Frage nach ihrem Überleben in die Defensive getrieben. Hinzu kommen die Frage, ob die Union mit ihrer Namensgebung nicht einem überlebten Verständnis der ,hinkenden Trennung‘ von Staat und Kirchen anhängt, und die Verlegenheiten in der Substanziierung des C, das inzwischen weithin zu einer Chiffre für eine allgemeine Humanität reduziert worden ist.“ 

Passt das „C“ noch in eine entchristlichte Gesellschaft? 

Rödder wirft zudem die Frage auf, ob das „C“ in einer „zunehmend entchristlichten Gesellschaft“ Nichtchristen nicht eher auf Distanz zur Union gehen lässt. Deshalb sieht er „gute Gründe für eine Flurbereinigung in der Namensfrage, mit der sich die CDU sichtbar und im Einklang mit center-right-Parteien in Europa in der Tradition der westlichen Werte und der Aufklärung verorten könnte“. Zugleich weist Rödder darauf hin, dass das „C“ ein eingeführter Markenname sei, „der für viele Parteimitglieder nach wie vor ein festes Identitätsmerkmal darstellt“.  

Vor allem aber stehe das „C“, so Rödder, „nach wie vor für eine inhaltliche Substanz, aus der sich ein unterscheidbares gesellschaftlich-politisches Konzept ergibt: die Orientierung an der Würde aller Menschen, nicht nur einer bestimmten Gruppe; die besondere Verantwortung des Menschen gegenüber Mitwelt und Natur und seine Gemeinwohlverpflichtung; die Vorordnung der Person vor dem Kollektiv; der Gedanke der Subsidiarität; die Gleichwertigkeit und Verschiedenartigkeit der Menschen als Schlüssel für den Umgang mit Ungleichheit; sowie die Fehlbarkeit des Menschen als Vorbeugung gegen Ideologien und einfache Gewissheiten“.  

Die Formulierung „Flurbereinigung in der Namensfrage“ klingt nach der Befürwortung einer rigorosen Streichung des „C“. Rödder erwägt jedoch auch die Möglichkeit eines Zusatzes im Parteinamen. Er legt sich in der Namensfrage also nicht fest, empfiehlt der Union aber, eine Debatte darüber nicht zu scheuen, „wenn sie sich ein Dreivierteljahrhundert nach ihrer Gründung neu orientieren muss“. Dass diese Neuorientierung unausweichlich ist, steht für den streitbaren Konservativen fest. Rödders nüchterner Befund: „Die CDU befindet sich als Volkspartei in Deutschland und als christdemokratische Partei in Europa in einer existenziellen Krise.“ Dieser Feststellung dürften weitaus mehr CDU-Mitgliedern zustimmen als einer Streichung des „C“.   

Anzeige