Die SPD-Pläne zur Abschaffung von Hartz IV - „Der Begriff Hartz IV verursacht Abstiegsängste“

Die SPD steht mit dem Rücken zur Wand. Um ihr sozialpolitisches Profil zu schärfen, will sie jetzt das von ihr eingeführte Hartz IV abschaffen. PR-Getöse oder Kampfansage? Der Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann über die Suche nach einem Hebel, um in den Vorwärtsgang zu schalten

Aus Hartz IV wird Nahles I: Bei ihrem Debattencamp in Berlin debattierte die SPD die Reform der Reform / Picture alliance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Ulrich von Alemann ist Politikberater und Publizist. Als Professor für Politikwissenschaft hat er das Institut für deutsches und europäisches Parteirecht und Parteiforschung an der Universität Düsseldorf geleitet. 

Herr von Alemann, „hartzen“ gilt als Synonym für „in der sozialen Hängematte“ liegen. Woran denken Sie, wenn Sie den Begriff Hartz IV hören?
Ich denke an Gerhard Schröder und an ein tiefes Trauma der SPD. Hartz VI hockt wie ein Nachtmahr auf den Schultern der Partei und bedroht sie weiterhin – jedenfalls subjektiv. 

Warum denn ein Nachtmahr, ein Geist aus einem Albtraum? Man könnte die Agenda 2010 doch auch als beispielloses Erfolgsprojekt der SPD betrachten. Deutschland ist heute eines der Länder mit der niedrigsten Arbeitslosenquote der Welt. 
Die Arbeitslosenquote wurde tatsächlich reduziert, von 11,7 Prozent auf 5,3 Prozent. Die Zahl der Erwerbstätigen stieg von 37 auf 44 Millionen. Es stehen aber auch Probleme gegenüber. 

Zum Beispiel? 
Die Zahl der Geringverdiener ist gestiegen, und die Leiharbeit hat drastisch zugenommen. Und dann hat sich etwas Subjektives gesteigert, nämlich die Abstiegsangst in der Bevölkerung. 

Aber die gehen doch nicht nur auf das Konto der Agenda 2010? 
Stimmt, dafür gibt es auch noch andere Gründe. Schuld daran sind zum Beispiel auch die Zunahme der Kurzarbeit 2008 oder die Lohnzurückhaltung. Das ist eine schwierige Gemengelage. Die Ökonomen streiten darüber: Was ist Folge von Hartz IV – und was nicht? Der große volkswirtschaftliche Erfolg der Reform ist natürlich nicht zu leugnen. 

Jetzt hat die SPD nach ihrem Debattencamp am Wochenende angekündigt, sie wolle „Hartz IV hinter sich lassen.“ Der Sozialstaat soll ein freundlicheres Gesicht bekommen. Was meint SPD-Chefin Andrea Nahles damit?
Das würde ich auch gern wissen. Die SPD war schon mal mutiger. Der fast schon vergessene SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hatte  im Wahlkampf 2017  angekündigt, große Teile der Agenda 2010 würden rückgängig gemacht. Das war aber eben im Wahlkampf ... 

... der mit einer beispiellosen Niederlage  für den Spitzenkandidaten endete. 
Genau. Und deshalb stellt sich die Frage, ob die Wählerschaft tatsächlich so sehr auf Hartz IV fixiert ist wie die Funktionärsschicht der SPD. Die, die sich auf Parteitagen treffen, sind ja kein Abbild der Wähler oder der Mitglieder. 

Warum verspricht Frau Nahles eine Reform des Sozialstaates, wenn das schon im vergangenen Wahlkampf nicht verfangen hat? 
Die Fixierung der Funktionäre auf Hartz IV halte ich für falsch. Hartz IV 2018 ist ja nicht mehr Hartz IV 2004. 

Was hat sich geändert?
Es gibt zum Beispiel Ausnahmen von der Regel, dass man nach einem Jahr Arbeitslosengeld I automatisch ins  Arbeitslosengeld II rutscht – also in Hartz IV. Das gilt nicht mehr so streng für Jugendliche, und bei über 55-jährigen Arbeitnehmern wird es auch schon mal 18 Monate lang gezahlt. Die ganz harte Kante, die man damals mit der Hartz IV-Reform eingeführt hat, wurde schon an einigen Stellen geschliffen. Auch das private Vermögen, das man als Hartz-IV-Empfänger behalten darf, wurde erhöht. 

Und diesen Weg wird die SPD jetzt verlassen? 
Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Diesen Weg wird die SPD weitergehen. Sie wird die Agenda 2010 immer wieder überprüfen und an manchen Stellen nachbessern. Hartz IV hinter sich zu lassen, heißt eben nicht, Hartz IV radikal abzuschaffen. 

Aber der unsichtbare Verlierer-Stempel, den Hartz IV-Empfänger auf der Stirn tragen, bleibt?
Ja, und das verursacht eben Abstiegsängste in weiten Teilen der Unterschicht und der unteren Mittelschicht. Und diese Ängste sind eben auch für ein politisches Klima in Deutschland mitverantwortlich, in dem die SPD nicht reüssieren kann. 

Aber kann die Partei die betroffenen Bürger mit einer Reform der Reform zurückgewinnen?
Das ist offen. 

Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen hat sich die SPD praktisch halbiert. Bedient sie deshalb die Abstiegsängste in der Bevölkerung, weil sie selbst nackte Angst ums Überleben hat?  
Ich glaube, in der Partei gibt es eine Sehnsucht, endlich mal einen Schalthebel zu finden, mit dem man einen Vorwärtsgang einschalten kann. Gerade auf dem linken Flügel der Partei gibt es den Glauben, wenn es nur gelinge, das Stigma von Hartz IV loszuwerden, würde es  wieder aufwärts gehen. Aber so einfach ist das sicherlich nicht. 

Als Andrea Nahles noch Arbeitsministerin war, hat sie die Hartz IV-Reform als Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit gelobt. Wie glaubwürdig kann sie denn heute die Forderung vertreten, Hartz IV müsse weg? 
Als Arbeitsministerin hat sie die Agenda 2010 nicht grundlegend reformiert, sie hat aber an Schräubchen gedreht.  Das war durchaus sinnvoll. Jetzt will sie dem Sozialstaat ein freundliches Gesicht verpassen. Hoffentlich ist das nicht nur PR-Getöse und Kosmetik. Denn das wird vielen Leuten wahrscheinlich nicht reichen. 

Wo sehen Sie denn Reformbedarf? 
Die Partei muss Hartz IV überwinden, indem sie konkretere Reformen auf dem Arbeitsmarkt für ältere Arbeitnehmer und Menschen verwirklicht, denen es schlechter geht. Die SPD muss damit aufhören, sich an diesem Begriff abzuarbeiten. Dadurch bläst sie ihn nur noch unnötig auf. 

Aber mit der CDU sind diese konkreten Reformen nicht zu machen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn trat einen Shitstorm los, als er behauptete, Hartz IV-Empfänger seien gar nicht arm. 
Mit Jens Spahn und Friedrich Merz wird es diese Reform mit Sicherheit nicht geben. Annegret Kramp-Karrenbauer kommt aus der sozialen Ecke der CDU. Sie könnte an einer freundlicheren Sozialpolitik interessiert sein. Aber bei der CDU muss man erstmal gucken, wohin die Reise geht. In der Partei gibt es eine Sehnsucht, stärker nach rechts zu gehen. Bei der SPD ist es genau umgekehrt. 

Ulrich von Alemann / privat

Die SPD möchte den Hartz IV-Satz erhöhen. Müsste dann nicht auch der Mindestlohn steigen? Menschen mit geringem Einkommen hätten doch sonst gar keinen Anreiz mehr, zu malochen. 
Das ist ein wichtiges Thema. Aber der Vorwurf, dass sich Arbeitslose in der sozialen Hängematte ausruhten, ist ja damals von der Hartz-Reform aufgegriffen worden. Ihr Credo lautete: Fördern und fordern.  

Aber wo werden Hartz-IV-Empfänger denn gefordert? 
Die Empfänger werden  strikter kontrolliert als früher. Es gab auch einmalige Zuschüsse für besondere Anschaffungen wie einen Wintermantel, die es jetzt nicht mehr gibt. 

Jetzt dreht Frau Nahles dieses Rad wieder zurück. Sie will Sanktionen für Jugendliche entschärfen.
Ich kenne nur ihre Good-Will-Absichten. Ich hab noch nicht gelesen, dass sie so konkret geworden ist. 

Die SPD will die Reform von Hartz IV mit einer Sozialstaatsreform verbinden. Beamte und Selbständige sollen künftig auch Rentenbeiträge zahlen. Droht dann aus dieser Ecke nicht neuer Widerstand?
Das will die SPD schon lange. Doch die Reform zielt auf das Jahr 2025. Mit dieser Großen Koalition wird die Partei es nicht umsetzen. Sie stellt die Forderung jetzt schon, um ihr sozialpolitisches Profil im Wahlkampf 2021 zu schärfen. Es ist also reine Symbolpolitik. 

Gibt es die SPD dann überhaupt noch? 
Die SPD ist wie der Hundertjährige. Man weiß nie, ob er aus dem Fenster steigt und verschwindet, oder ob er zurückkommt und die Welt rettet.  

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