Harald Jäger - „Leckt mich am Arsch!“

Vor 30 Jahren fiel die Mauer in Berlin. Oberstleutnant Harald Jäger war der Erste, der DDR-Bürger an der Grenze in den Westen ließ. Begegnung mit einem Helden, der keiner war

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Die DDR kriegt man aus dem ehemaligen Leutnanten Harald Jäger nicht heraus / Foto: Verena Brandt
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Der Tag, an dem die Mauer fällt, beginnt ohne besondere Vorkommnisse. Harald Jäger, 46 Jahre alt, ist stellvertretender Leiter der Passkontrolle am Grenzübergang Bornholmer Straße in Berlin. Es ist schon 19 Uhr, als er beim Abendessen in der Kantine hört, wie Günter Schabowski bei einer Pressekonferenz des Politbüros im Fernsehen jener Satz herausrutscht, der den Anfang vom Ende der DDR bedeutete. Jeder Bürger könne über Grenzübergangspunkte der DDR ausreisen. „Das tritt … nach meiner Kenntnis … ist das sofort.“

Ein Versprecher? Nur eine Stunde später stehen 150 DDR-Bürger vor der Schranke. Um 22 Uhr – das ZDF hat die Meldung verbreitet, das Regime habe die Mauer geöffnet – strömen die Menschen in Scharen vom Prenzlauer Berg zum Grenzübergang. Es ist so voll, dass sich der Zaun bedrohlich biegt. Die Menschen sind wütend. Sie brüllen: „Tooor auf!

„Hören Sie, was das Volk sagt“

Auf diesen Moment war niemand vorbereitet. Nicht das Politbüro. Nicht die Partei. Und schon gar nicht er. Harald Jäger sagt, er habe zum wer weiß wievielten Male zum Telefon gegriffen, um sich Anweisungen zu holen. Sein Vorgesetzter stellte ihn weiter zu den Stellvertretern von Erich Mielke, dem Chef der Staatssicherheit. Doch auch die hätten ihn abgewimmelt. Er solle die Menschen „beruhigen“ und sie „hinhalten“

Die ausreisen lassen, die am lautesten randalieren, so lautete die Anweisung. So sollte er den Druck aus dem Kessel nehmen. Doch dieses Kalkül ging nicht auf. Im Gegenteil: Schnell sprach sich herum, dass der Grenzübergang Bornholmer Straße zum durchlässigen Nadelöhr geworden war. Die Nachricht lockte immer mehr Menschen auf die Straße. Gegen 23.30 Uhr waren es Tausende. Sie standen jetzt nicht mehr hinter dem Grenzschild in 80 Metern Entfernung, sie standen direkt vor ihm.

Harald Jäger sagt, in seiner Not habe er den Hörer zum Fenster rausgehalten, damit sein Vorgesetzter hören konnte, was da gerade passierte. „Wenn Sie mir nicht glauben, dann hören Sie doch mal raus, was das Volk sagt.“ Sein Gegenüber legte wortlos auf. In dem Moment habe er beschlossen, den Schlagbaum zu öffnen. Er spielt die Szene jetzt mit verteilten Rollen vor, mit sich in der Rolle als Retter. Er ruft: „Leckt mich am Arsch. Kontrolle einstellen!“

Nur eine „Trotzreaktion“?

War dieser Mann ein Held? Oder kapitulierte er vor der Masse? Diese Frage taucht immer wieder auf, wenn sich der 9. November jährt. Jäger ist einer der wichtigsten Zeitzeugen. Er sagt, er habe sich damals wie im Film gefühlt. Er war kein Zuschauer. Er war der Hauptdarsteller. Damals 46 Jahre alt, heute 30 Jahre älter, Theo-Waigel-Augenbrauen in einem viereckigen Gesicht, das Haar seitengescheitelt. Wütend sei er gewesen, erinnert er sich. Angst, klar, die habe er auch gehabt: „Es war wie in einer überfüllten U-Bahn. Ich hatte Angst, dass Panik ausbricht.“

Fragt man Jäger, ob ihm bewusst gewesen sei, welche Folgen die Grenz­öffnung hatte, schüttelt er den Kopf. Er spricht von einer „Trotzreaktion“. Und so, wie er das Wort ausspricht, vergisst man für einen Moment, wer da vor einem sitzt. Man denkt an einen halbwüchsigen Jungen, der sich endlich getraut hat, dem autoritären Vater den Mittelfinger zu zeigen.

Eine Mietskaserne in Werneuchen, eine Autostunde nördlich von Berlin. Hier ist er vor einigen Jahren hingezogen, raus aus der Vierzimmerwohnung in der Stasi-Platte in Berlin-Hohenschönhausen, die er sich nach der Wende nicht mehr leisten konnte, rein ins Grüne.

Auswendig gelernte Worte

Hier hat man ihn schon einmal besucht. Der damalige Innenminister Thomas de Maizière hatte zum 9. November eine Kontroverse entfacht. Es ging um die NVA und um die Frage, ob ihre Soldaten dazu beigetragen hatten, dass die Grenzöffnung ohne Blutvergießen verlief. Taugte einer wie Jäger als Vorbild? Ehemalige Bürgerrechtler verneinten diese Frage. Schließlich hatte Jäger bis dahin, getarnt als Passkontrolleur, systematisch arglose DDR-Bürger am Grenz­übergang für seinen Arbeitgeber, das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), bespitzelt. Er hatte sie ausgehorcht über ihre Reisepläne und Gastgeber und eine komplette Fahndungskartei aufgebaut. Kann man einen Moment der Courage aufwiegen gegen Jahre der Anpassung, Dienstausübung und Unterdrückung der Rechte der eigenen Staatsbürger?

Er habe ausreisewillige Bürger nicht bespitzelt, sondern „abgeschöpft“, stellte er damals klar. Er bezeichnete sie immer noch als „Fahndungsobjekte“ oder „Wildschweine“. Nein, man hatte sich nicht verhört. Die DDR-Diktatur war Geschichte. Aber er sprach noch immer mit leuchtenden Augen im Jargon des Geheimdienstagenten. Für spätere Interviews hatte er sich den Satz zurechtgelegt, es seien diese Menschen gewesen, denen eigentlich der Beifall gebühre. Schließlich hätten sie den Mut gehabt, gegen das Regime aufzustehen. Es klang wie auswendig gelernt.

Man kriegt die DDR nicht aus ihm heraus

Man hätte Harald Jäger zum 30. Jahrestag des Mauerfalls gerne gefragt, was er dazu sagt, dass sich im Osten 30 Jahre später noch immer viele wie Bürger zweiter Klasse fühlen. Doch ein Treffen ist diesmal nicht möglich.

Man hat ihn aus der DDR herausgekriegt. Aber man kriegt die DDR nicht aus ihm heraus. Sein Vorgesetzter im MfS, der ihn am 9. November am Telefon alleinließ, starb 1990 an einer Herzattacke. Der Leiter seiner MfS-Abteilung hat sich erhängt. Wegen der Maueröffnung hätten sie Harald Jäger als Oberstleutnant vor ein Militärgericht gestellt – wäre die DDR nicht von der Landkarte verschwunden. Für die Menschenrechtsverletzungen, die er als Stasi-Mitarbeiter begangen hatte, konnte er nicht belangt werden. Der Wiedervereinigungsvertrag sah vor, dass in der DDR begangene Delikte rückwirkend nur nach DDR-Strafrecht geahndet werden konnten.

Plagen ihn Gewissensbisse wegen seiner Tätigkeit? Zumindest lässt er es sich nicht anmerken. Jäger wirkt wie einer, der mit sich im Reinen ist. Es sei sein Verdienst gewesen, dass damals am Grenz­übergang Bornholmer Straße kein Blut geflossen sei, sagt er. Sie waren 60 Kollegen an diesem Tag. Viele trugen eine Dienstwaffe. Was wäre passiert, hätte einer von ihnen die Nerven verloren?

Das Aus seiner beruflichen Karriere

„Der Mann, der die Mauer öffnete“, so heißt seine Geschichte. Sein Biograf Gerhard Haase-Hindenberg hat ihm damit ein Denkmal gesetzt. Er gehöre nicht auf einen Sockel, beteuert Jäger. Wenn er eines Tages sterbe, werde man das Wort Maueröffner vergeblich auf seinem Grabstein suchen. „Ich verschwinde auf einer grünen Wiese – in einem anonymen Urnenfeld.“

Der Mann, der die Mauer öffnete, hat einen hohen Preis für die Wiedervereinigung gezahlt. Die Wende, sie bedeutete das Aus für seine berufliche Karriere. Zwei Jahre war er arbeitslos. Dann schlug er sich mit einem Zeitungskiosk und Jobs in der Justizvollzugsanstalt und als Wachmann durch. Heute lebt er von 845 Euro Rente im Monat.

Eine steile Wende

Viele an seiner Stelle sind über die Jahre verbittert. Harald Jäger ist das nicht passiert. Er hat seine Vergangenheit zum Beruf gemacht. Zeitzeuge. Über das Gestern zu sprechen, das ist seine Therapie. Wie gut ihm das tue, habe er gemerkt, als 2006 seine Biografie erschien, sagt er. Stundenlang ließ er sich interviewen. Er sagt: „Die Arbeit hat mich befreit.“

Vom Geheimdienstagenten zum guten Gewissen der DDR, das ist eine steile Wende. Jäger wuchs als Sohn eines Schmiedemeisters auf, der 1950 als glühender Kommunist aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war. Er redete Harald, dem Sohn, ein, dass der Sozialismus der wirksamste Schutz vor einem neuen Krieg sei.

Spätestens in den siebziger Jahren hätte Jäger dieses Weltbild revidieren müssen. Da begann die Partei, Menschen auszubürgern, die unbequeme Fragen stellten. Da lernte er als Student der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam, dass es in der DDR keine politischen Gefangenen gebe, nur Straftäter. Wenn ein kriminelles Delikt fehle, müsse man es eben konstruieren. Jäger lächelt verlegen, wenn man ihn auf diesen Widerspruch hinweist. Er sagt, er habe das in Kauf genommen, so wie das jahrelange Warten auf ein Auto. „Ich habe mir eingeredet: Das ist nur eine Phase. Das geht vorbei.“

Die Widersprüche des Systems

Eine Hoffnung, die sich spätestens 1983 zerschlug. Da erfuhr er, dass der damalige Regierungschef Erich Honecker einer österreichischen Nachrichtenagentur bestätigt hatte, was er bis dahin nur gerüchtehalber gehört haben wollte: dass nämlich die DDR an der Grenze Minen und Selbstschussanlagen gegen ihre eigenen Bürger installiert habe.

Jäger sagt: „Da habe ich mich zum ersten Mal geschämt.“ Klar habe er unter den Widersprüchen des Systems gelitten. Doch den Dienst zu quittieren und in seinen Job als Ofensetzer zurückzukehren, sei nicht infrage gekommen. Er hätte seine sichere Existenz verloren und den Kindern die Zukunft verbaut. Von seinen Privilegien wie der Vierraumwohnung oder dem Wartburg redet er nicht.

Es war sein Sohn, der ihn damals fragte, wie er den Job beim MfS noch mit seinem Gewissen vereinbaren könne. Jäger Junior studierte damals schon Informatik. Man erreicht ihn am Telefon. Er sagt, als Kind hätte er den Vater kaum zu Gesicht bekommen, und wenn doch, dann nur in seiner NVA-Uniform. Als „Parteisoldat“, so hat er ihn in Erinnerung. Als einen, der die Kinder herumkommandiert habe.

Sein eigentlicher Verdienst

Heute begegne er dem Vater mit Respekt. Und das liege keineswegs nur daran, dass der die Mauer geöffnet habe. Das, sagt der Sohn nüchtern, sei doch wohl eher im Affekt passiert. Mit Helden wie dem Hitler-Attentäter Stauffenberg sei sein Vater nicht zu vergleichen. Er habe weder aus einer inneren Überzeugung gehandelt noch sein Leben aufs Spiel gesetzt.

Aber dass sich der Vater seiner Vergangenheit gestellt habe, das rechne er ihm hoch an. Harald Jäger hat nicht nur die Mauer geöffnet, sondern auch sich selbst. Er, der hauptamtliche Mitarbeiter der bei den DDR-Bürgern so verhassten Stasi, ist über seinen Schatten gesprungen, um der Welt zu erklären, wie es dazu kommen konnte, dass das Schicksal der DDR für einen Moment in seinen Händen lag. In den Augen des Sohnes ist das sein eigentliches Verdienst.

Dieser Text ist in der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

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